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Politik Wir sind Europa!

Politik: Wir sind Europa!
Schluss mit Finanzrassismus, Bürokratenbashing und Gurkenwitzen: fünfzehn Ideen für ein besseres Europa.

Der angekündigte Weltuntergang wird vermutlich auch im Jahr 2012 ausfallen. Aber zumindest einen Kontinent, denkt man sich dieser Tage bei der Zeitungslektüre, könnte es erwischen: »Die letzten Tage Europas«, liest man da, und sowieso: »Der Euro auf der Kippe «. Die aktuelle Schuldenkrise gebiert beinahe jeden Tag neue Katastrophenmeldungen, Gipfeltreffen, Rettungsschirme, Notfallpläne, Verschwörungstheorien und Wutreden. Kein Wunder, dass viele der 500 Millionen EU-Bürger abschalten – und sich in eine einfachere Zeit zurückwünschen, in der man sich nicht jeden Tag mit dem Haushaltsdefizit von Griechenland beschäftigen musste.

Laut einer Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung von 2011 fühlen sich zehn Prozent der Deutschen in erster Linie als Europäer, weitere siebzehn Prozent sowohl als Deutsche als auch als Europäer.Das sind niedrige Zahlen. Vielleicht hätte man andersherum fragen sollen: Wer von euch will kein Europäer mehr sein? Wer will wieder an der Grenze in der Warteschlange stehen? Wer verzichtet auf die Möglichkeit, in Paris oder Stockholm zu arbeiten? Wer vermisst Wechselkurse und Zollgebühren? Wer wünscht sich mehr Stacheldraht?

Die Europaskepsis, die in Zeitungskommentaren und in den Gemütern der Menschen grassiert, passt nicht zum Straßenbild auf dem Leidseplein, am Schlesischen Tor oder auf der Plaça de Catalunya, wo sich jeden Tag tausende junge Franzosen, Polen, Engländer, Holländer, Skandinavier und Deutsche treffen, planen, trinken, rauchen und arbeiten – an Romanzen, Start-ups, Karrieren, friedlich, ganz entspannt, als wäre es nie anders gewesen. Der französische Soziologe Vincenzo Cicchelli sagt: »Überall in Europa wird der Jugend bewusst, dass die Kultur ihres Heimatlandes (…) nicht ausreicht, um die Welt zu begreifen.« Für Menschen, die mit Euro, Binnenmarkt und Reisefreiheit aufgewachsen sind, scheint die politische, wirtschaftliche und kulturelle Grenzenlosigkeit so selbstverständlich, dass sie gar nicht verteidigt werden muss. Aber das ist falsch. Wir leben in dramatischen Zeiten. In Brüssel planen Politiker und Bürokraten gerade neue Strukturen und Regeln für Europa. Vielleicht wird es bald einen neuen Rettungsschirm geben oder eine Haftungsunion. Vielleicht fliegt Griechenland wirklich aus der gemeinsamen Währung. Vielleicht scheitert die Europäische Union.

Sicher ist: Europa ist viel mehr als Finanzmathematik. Europa ist eine Idee. Um aber die wirtschaftlichen und politischen Probleme zu überwinden, müssen wir uns wieder für Europa begeistern. Der Friedensnobelpreis für die EU ist ein erster Schritt. Fünfzehn weitere schlägt NEON vor. Nicht jede Forderung würde ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts oder eine Volksabstimmung überstehen. Aber das ist in Ordnung: Europa war ja schon immer ein wilder Traum.

1. Lasst uns Feiern!
Das einzige Land, in dem Europa geliebt wird, ist offenbar der Kosovo: Dort ist der 9. Mai ein gesetzlicher Feiertag. In den Mitgliedsstaaten der EU herrscht am sogenannten Europatag bloß Alltag. Aber bei all den unterschiedlichen Sprachen, Rezepten und Straßenverkehrsordnungen wäre es schön, etwas gemeinsam zu haben – erst recht einen zusätzlichen freien Tag. Das Europäische Parlament sieht in einem gemeinsamen europäischen Gedenktag eine Möglichkeit, die Aussöhnung zu vertiefen. Schon 2009 schlugen die Abgeordneten dafür den 23. August vor, den Jahrestag des Hitler- Stalin-Pakts 1939, durch den Nazideutschland und die Sowjetunion ganz Mitteleuropa aufteilten. Die düstere Vergangenheit des Kontinents ist natürlich der beste Grund für die europäische Einigung. Aber wäre es nicht trotzdem stimmiger, wenn unser neuer Feiertag nicht die Vergangenheit oder unsere Kriegsgeschichte repräsentiert, sondern das, was die Europäer gemeinsam noch vorhaben? Unser Vorschlag: der 1. Juli. Der Sommer war immer die Zeit, in der die Europäer einander besuchten. Die Engländer reisten in die Alpen, die Deutschen nach Italien und die Mittelmeerbewohner in kühlere Regionen. An diesem 1. Juli wären internationale Bahntickets vergünstigt, und im Berliner Club Berghain, dem Siedepunkt des europäischen Zusammenkommens, wäre der Eintritt frei. Einfach so. Weil wir es sind.

2. Wagt mehr Demokratie?
Die deprimierendste Website der Welt? http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/index_ de.htm. Dort werden die europäischen Kommissare vorgestellt, die auf den Fotos aussehen wie ihre eigenen Wachsfiguren. So langweilig, wie die 27 Kommissare wirken, so trocken und sperrig ist auch die Politik, die sie machen. Das hat damit zu tun, dass einige der Politiker nur in Brüssel arbeiten, weil sie in ihrem Heimatland niemand mehr haben wollte – so war das zum Beispiel bei Günther Oettinger, dem deutschen Energiekommissar. Und die EU-Politiker, die dann doch als Experten in ihren jeweiligen Fachgebieten gelten, sind leider sehr schlechte Verkäufer und wecken keine Begeisterung für ihre Pläne und Ideen. Wir brauchen andere Europapolitiker und andere Europawahlkämpfe. Warum, fragt selbst der hochseriöse Finanzminister Wolfgang Schäuble, wählen die EU-Bürger nicht per Direktwahl den EU-Kommissionspräsidenten? Die Kandidaten müssten wirklich die bekanntesten, populistischsten Politiker Europas sein. Silvio Berlusconi träte für die Rechten an, Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit für die Grünen und Julian Assange für die Piratenpartei (falls er es mal aus der ecuadorianischen Botschaft herausschafft und sich in der EU einbürgern lässt). Die Kandidaten sollen sich einen knallharten Wahlkampf um das beste Konzept liefern. Und anders als bei der Wahl zum macht- und sinnlosen EU-Parlament wäre eine hohe Wahlbeteiligung garantiert.

3. Macht Gegenpropaganda!
Alle CSU-Mitglieder, alle Kabarettisten und sonstigen Eudioten sollen wissen: Die EU-Verordnung 1677, welche eine maximale Gurkenkrümmung von einem Zentimeter pro zehn Zentimeter Länge voschrieb, ist längst außer Kraft gesetzt. Auch andere Klischees stimmen nicht.

4. Blättert in Geschichtsbüchern
Früher war nichts besser! Helmut Kohl am Wolfgangsee, Cappuccino mit Schlagsahne, Heino und Hannelore in Endlosschleife: Man muss sich nicht unbedingt bis zu den Jahren 1933, 1914 oder 1871 zurückdenken, um froh zu sein, dass man im Deutschland und Europa des 21. Jahrhunderts lebt. In den Achtzigerjahren war die BRD ein müdes, staubiges, mutloses Land – mit steigender Arbeitslosigkeit, Wirtschaftsdellen und Renten, die schon damals nicht so richtig sicher waren. Kein Wunder, dass die Menschen die Lieder der Punkband Slime hörten: »Deutschland muss sterben, damit wir leben können.« Wenn Währungsnostalgiker und andere Retrobürger suggerieren, dass Deutschland ohne die Europartner besser dran wäre, und auf die Rückkehr der D-Mark warten, dann sehnen sie sich nach einer Vergangenheit zurück, die so nie existiert hat.

5 . Schaut, wie schön!
Die meisten Gebäude der Europäischen Union sind Glaskästen und Aluminiumtürme, die so eckig, sperrig und kühl wirken wie die zahllosen Rettungsschirmkürzel (EFSF, ESM …). Deshalb: Europäische Stararchitekten wie Zaha Hadid oder Rem Koolhaas sollen endlich aufhören, riesenhafte Statussymbole für den Emir von Katar oder das Hauptquartier des chinesischen Staatsfernsehens zu bauen. Stattdessen sollen sie eine Europakonstruktion planen, die so spektakulär, anregend und vielfältig ist wie unser Kontinent. Egal, ob das ein Wolkenkratzer in der Hauptstadt Brüssel wäre oder eine verschwurbelte Wanderinstallation, die durch Europa zieht – das Monument müsste in jedem Fall Touristenmassen aus ganz Europa anziehen, die staunend davorstehen und ausrufen: »Und das haben wir selbst aufgebaut!«