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Politik Auf ein Glas mit… Carsten Schneider (SPD)

Politik: Auf ein Glas mit… Carsten Schneider (SPD)
Im Wahlkampf 2013 trifft NEON junge Politiker dort, wo sie – hoffentlich – offen reden: In der Kneipe. Sozialdemokraten galten ja schon immer als trinkfest.

Ich hatte mir fest vorgenommen, Carsten Schneider nicht zu ­mögen. Ich hatte, wie ich fand, auch gute Gründe dafür:

  • Carsten Schneider kam 1998 in den Bundestag, damals war er 22 Jahre alt und jüngster Bundestagsabgeordneter der Geschichte. Er hat also ­genau die Karriere gemacht, von der ich früher geträumt hatte. In den Neunzigerjahren, in meiner Schulzeit in Ulm, war ich Salonsozialist und SPD-Mitglied (trat dann allerdings aus, weil mir Gerhard Schröder zu rechts war).
  • Carsten Schneider ist heute haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher des Seeheimer Kreises, in dem sich die Parteirechte organisiert. Er redet die ganze Zeit vom Sparen – er ist wohl das Ideal­exemplar eines pragmatischen Sozialdemokraten, der alle ­linken Werte der Partei verraten hat.
  • Carsten Schneider will sich schon um fünf Uhr am Nachmittag mit mir treffen. Wahrscheinlich will er zeitig nach Hause und wird bis ­dahin nur Apfelschorle trinken, damit er mir im Alkoholrausch nicht aus Versehen erzählt, dass ihm Politik egal ist und es ihm nur um das Geld oder die Karriere oder so geht.

Dass mein Bild von Carsten Schneider nicht ganz stimmen kann, merke ich zunächst daran, dass ich ihn nicht erkenne. Noch nicht einmal, als er direkt vor mir steht, in der Kneipe Double B in Erfurt, seinem Stammlokal. Erfurt bildet mit Weimar Schneiders Wahlkreis. Er trägt einen verwaschenen Kapuzenpullover und verhält sich nicht, wie ich es von jedem Politiker erwarte: Er klopft mir nicht jovial auf die ­Schulter, schielt nicht nach den Fotografen, stellt sich nicht in den Mittelpunkt, sondern ist immer darauf bedacht, niemandem im Weg zu stehen. Schneider bietet mir mit leiser Stimme das Du an und sagt, dass ­zufällig Freunde von der SPD da seien, ob wir uns dazusetzen wollen?

Machen wir natürlich. Am Tisch schimpft irgendwer über die Besserverdiener bei den Grünen und schlägt ein Bier um, dass mir und Wolfgang in den Schoß läuft. Wolfgang ist für die SPD im Stadtrat. Er wischt sich nachlässig die Siffe vom Oberschenkel und schwärmt weiter von seiner Kreuzfahrt, bei der alle alkoholischen Getränke außer sehr teure Rotweine gratis waren. Ihm gegenüber sitzt Harald, Vorsitzender des Parteirats, der bei einer Wahlkampfveranstaltung einmal tausend Würstchen gegrillt hat. Abends zog sich Harald das T-Shirt aus und sah eine Brandblase, die über seinen ganzen Bauch verlief, die Hitze sei ihm gar nicht aufgefallen: »Wenn ich über Politik rede, vergesse ich alles ­andere.« Dann überredet mich die Elite der Erfurter SPD, ein »Steak Würzfleisch« zu bestellen, ein Stück Fleisch, das mit Fleisch belegt ist. Es wird kurz still, als mir die Kellnerin das Essen bringt, alle starren mich erwartungsvoll an. Als ich sage, dass es gut schmeckt, strahlen sie. Ich kenne diese kleinbürgerliche Herzlichkeit noch von früher, aus Ulm, es gibt sie nirgends sonst auf der Welt, nur unter Sozialdemokraten.

Drei Bier in kurzer Zeit

Schneider stößt mit mir an, wir haben in kurzer Zeit jeder drei Bier ­getrunken, aber kurz bevor ich mich zu sehr am Alkohol und der Sen­timentalität berausche, beschließe ich, Carsten Schneider wehzutun: »Wie erklärst du eigentlich Hartz IV einem Langzeitarbeitslosen?«, frage ich ziemlich zusammenhanglos. Ich weiß, dass so gut wie jedem Sozialdemokraten Hartz IV peinlich ist und man zum Thema normalerweise jede Menge Ausreden, Einschränkungen und Entschuldigungen zu ­hören bekommt.

Schneider verzieht keine Miene (er scheint mit seinen Gefühls­regungen ohnehin sehr haushälterisch zu sein): »Ich rede oft mit Langzeitarbeitslosen und weiß, dass es für sie keine einfache Situa­tion ist. Ich sage aber auch, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und die gesamte Agenda 2010 richtig waren, damit Arbeitsplätze entstehen. Und das ist ja wiederum gut für jeden Arbeitslosen. Die SPD sollte stolz auf die Agenda sein.« Ich hake nach: »Aber war es nicht ungerecht, dass die SPD bei den Armen gespart hat?« Schneider erklärt, dass man mit Hartz IV die Leute dazu bringen wollte, aktiv nach einer Arbeit zu suchen. Er lehnt sich beim Sprechen weit in seinen Stuhl zurück, er hält gern Abstand. Ohne die Stimme zu ­erheben, sagt er: »Ich hasse Ungerechtigkeit. Wenn wir die Bundestagswahl gewinnen, werden wir die Steuern für die Gutverdienenden erhöhen. Ich finde, dass auch die Erbschaftsteuer weiter ordentlich Einnahmen bringen muss. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das Kinder von reichen Eltern, die sich nur auf ihrem Erbe ausruhen. Alle sollen sich anstrengen, die Arbeitslosen und die Reichen.«

Bin ich betrunken? Bin ich noch links?

Mir fällt nichts mehr ein, was ich erwidern könnte. Sind meine linken Überzeugungen auch nicht mehr so fest wie früher? Bin ich schon ­betrunken? Um von meiner Ratlosigkeit abzulenken, frage ich Schneider, wie er zur Politik kam. Er erzählt mir von der Wende. 1990 zog seine Mutter mit ihrem neuen Freund in den Westen. Schneiders leiblicher Vater hatte die Familie schon viel früher verlassen. Schneider, damals vierzehn Jahre alt, blieb allein in der Erfurter Wohnung und ging abends zum Schlafen zu den Großeltern. Eine schlimme Zeit? »Quatsch, das war großartig. Meine Eltern waren nicht da. Die alten DDR-Lehrer hat niemand mehr ernst genommen, es gab keine Autoritäten. Das war die totale Freiheit.« Schneider spielt nächtelang am C 64, dann brennt in Rostock-Lichtenhagen ein Ausländerwohnheim: »Da habe ich mich plötzlich für meine stumpfe Konsumhaltung geschämt.«

Schneider geht zu Antifa-Demos, ein Freund nimmt ihn mit zu den ­Jusos. Die schlagen ihn vor, als die SPD vor der Bundestagswahl 1998 einen Wahlkreiskandidaten sucht. Er gewinnt erst das Kandidaten­rennen – und dann im Herbst den ganzen Wahlkreis, damals ist er ­gerade 22. Ich erinnere mich an meine Zeit bei der Ulmer SPD, wo ich zwar Che-Guevara-T-Shirts trug, aber immer Angst vor den Alten hatte. Ich frage Schneider, wie um alles in der Welt er sich den Job zugetraut hat. Schneider sieht mich erstaunt an und sagt: »Ich schätze, im Osten ist man damals ein bisschen schneller erwachsen geworden.«

Die nächste Bar

Wir gehen in eine andere Bar, das Daheym, eine Kölschbar, ebenfalls irgendwo in der Erfurter Altstadt. Nach jedem Kölsch trinken wir ein »Small Bier«, einen gelben Likör, auf den ein anderer Likör gegossen wird, der aussieht wie Schaum. Schmeckt großartig. Schneider kippt seine »Small Biere« konzentriert und rhythmisch. Er fragt einen fass­artigen Mann von Verdi über die Antinazidemo aus, für die Schneider heute keine Zeit hatte. Am Ende fragt er: »Wann kommst du endlich zur ­Familie?« Mit Familie meint Schneider die SPD, er will, dass der ­Verdi-Mann Mitglied wird. Mir fällt auf, dass Schneider mit zunehmendem Alkoholpegel immer mehr über Politik redet. Meine Absicht, den wahren Carsten Schneider zu enttarnen, scheitert gerade vollständig: Der wahre (alkoholisierte) Carsten Schneider ist ein Carsten Schneider, der sich noch ein bisschen leidenschaftlicher für Haushaltsdisziplin und Budgetierungspläne begeistert. Siebzig, achtzig Stunden arbeitet er pro Woche, im Bürgerbüro, im Parlament, in der Fraktion oder als Vor­sitzender des »Gremiums nach § 3 Bundesschuldenwesenmodernisierungsgesetz zur Kontrolle der Bundesregierung bei der Schuldenaufnahme und den Beteiligungen des Bundes«.

Antifa und Finanzausschuss

Ich frage ihn, ob er seine irgendwie merkwürdige Vorliebe für die Finanzpolitik noch mit seinem Antifa-Engagement zusammenbringt. Schneider antwortet: »Die Rechten damals, das waren doch Verlierer. Damit es keine Verlierer in unserer Gesellschaft gibt, brauchen wir einen ­starken Staat. Damit der Staat aber stark sein kann und sich nicht übernimmt, müssen wir vernünftig haushalten.« Das klingt mir jetzt doch zu vernünftig. Könnte man von einem nach wie vor jungen Politiker nicht etwas mehr Verrücktheit erwarten, Rebellion, Idealismus, eine irre Utopie? Schneider lächelt nachsichtig: »Unsere Lehrer im Osten haben uns 1989 erzählt, dass die DDR-Flüchtlinge in Ungarn eigentlich vom westdeutschen Geheimdienst gekidnappt worden waren. Wenn du miterlebst, wie ein ganzes System zusammenbricht, dann hast du keine Lust mehr auf Ideologien. Mir ging es immer um einfache Sachen.«

Wahrscheinlich spürt er, dass das ein gutes Schlusswort ist. Um elf Uhr gibt mir Schneider die Hand und geht beeindruckend gefasst und gerade durch die Tür. Ich trinke noch das letzte »Small Bier«, das Schneider an der Bar stehen gelassen hat, und kann mich kaum mehr auf den Beinen halten, aber ich hätte gerne noch weitergeredet. Ich weiß, es ist irgendwie merkwürdig, einen Politiker ganz einfach gut zu finden, und meine einzige Entschuldigung ist, dass ich das alles ja auch ganz anders ­geplant hatte.

Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom August 2013 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.