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Freizeit Das Herz ist ein offener Browser

Auch der Mensch im digitalen Zeitalter hat natürlich echte Beziehungen und wahre Gefühle – egal wie viel er auf Bildschirme starrt. Und doch verändert sich in diesen verkabelten Zeiten etwas mit unserem Umgang miteinander: Sind andere Menschen für uns noch warme Körper mit lebendigen Seelen, oder nicht auch einfach Datensätze in sozialen Netzwerken? Wollen wir wissen, wie es dem anderen geht – oder nur was er gestern wieder gepostet hat? Wie sieht der Mensch aus, der sich nicht mehr nur durch Straßen und über Felder bewegt, sondern in einer Landschaft, die Apple, Google, Skype und Facebook für ihn entworfen haben?

Die beiden Filmstudenten Patrick Cederberg, 23 und Walter Woodman, 22 haben alles über Gefühle in Zeiten des Tab-Browsings in einen knapp 20-minütigen Film gepackt, der das Internet gerade begeistert wie schon lange nichts mehr (wobei, was ist schon lange im Internet?). Hier könnt ihr euch das Video in voller Länge ansehen.

Sie sagen: »All diese Technologien bringen uns dazu, online andere zu belauern und zu verfolgen.«Ihr Kurzfilm »Noah« wurde gerade auf dem Filmfestival in Toronto gezeigt und spielt sich komplett auf dem Computerbildschirm eines Teenagers ab. Wir sehen nie Hauptfigur Noah, sondern immer nur die Oberfläche seines Bildschirms. Seine Gedanken drücken sich in der Bewegung seines Cursors aus, seine Gefühlslage in den Tabs, die er öffnet. Noah gibt sein Passwort ein und macht das Wichtigste zuerst: Browser auf, Youporn und Facebook an. Seine Freundin chattet ihn an, die beiden skypen und weil Noah so abgelenkt ist, von dem Porno im Hintergrund und dem Facebookchat mit seinem besten Freund und der Musik die er über iTunes abspielt, ist er sich nicht ganz sicher ob das, was seine Freundin zu ihm sagt bedeuten soll, dass sie Schluss machen will – und dann geht sie auch noch offline. Erst da kann er sich voll konzentrieren – und zwar darauf, den Facebook-Account seiner Freundin zu knacken.

Cederberg sagt: »Für meine Generation gilt es als selbstverständlich, online auf jeden Menschen zugreifen zu können.« Weil er nicht weiß, wie er sie sonst fragen soll, was seine Freundin denkt, weil es übertrieben wäre, zum Beispiel zu ihrem Haus zu fahren, untersucht Noah also ihre Chatprotokolle, und manipuliert ihre Daten. Ein ganz normaler Mensch im digitalen Kontrollwahnsinn, ein kleiner Geheimdienstmitarbeiter der Liebe.

Doch Noah ist nicht nur eine Geschichte, sondern auch eine Betrachter-Erfahrung, die grandios funktioniert: Man muss sich diesen Film im Internet ansehen, ganz normal, wie man sich eben Videos in einem von fünf geöffneten Tabs anguckt – erst dann funktioniert er so richtig: Es ist die ultimative Erfahrung gemeinsamer Online-Fahrigkeit, wenn nicht nur Noahs Blick auf dem Bildschirm ständig irgendwo anders hinspringt, sondern auch die eigene Aufmerksamkeit ständig versucht ist, in einen anderen Kanal zur Welt auszubrechen.