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Politik Der Nichtbürger-Krieg

Politik: Der Nichtbürger-Krieg
Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom November 2013 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Seit September 2013 gibt es alle Ausgaben auch digital in der NEON-App.

NEON über die FlüchtlingskriseIm aktuellen Heft potraitieren wir Omid Moradian, einen iranischen Flüchtling, der als eine Art Vollzeitaktivist Proteste von Asylsuchenden organisiert.

Im Streit zwischen Omid Moradian und Deutsch­land wird es handgreiflich. Die Polizisten lösen seine Finger, biegen sie auf, sie schnappen nach seinen Armen, zerren am T-Shirt, greifen sich seine Füße und ziehen an ihm. Seine Mitstreiter neben ihm auf dem ­Boden brüllen und ziehen in die andere Richtung. Als Moradian schließlich schnaufend auf dem Boden liegt, Gesicht im Gras, Polizistenknie im Rücken, hat Deutschland gewonnen. Mal wieder. Und Moradian hat seine Bilder für die Presse. Auch mal wieder.
Seit anderthalb Jahren kämpft der Iraner Omid Moradian, 29, eher klein, eher kräftig, als eine Art Vollzeitaktivist dafür, dass es solche Bilder nicht mehr gibt. Dass er sich nicht, wie jetzt im fränkischen Rottendorf, von Polizisten an den gefesselten Armen hochziehen lassen, mit Körper und Gesicht an den Polizeibus pressen, durchsuchen und wegfahren lassen muss – weil er sich weigert, eine Erlaubnis für etwas vorzuzeigen, das für jeden deutschen Bürger selbstverständlich ist: sich frei zu bewegen. Dass Moradian mittlerweile eine Aufenthaltserlaubnis hat, die er zücken könnte, ist ihm egal. Er sieht es nicht ein. Aus Wut auf Deutschlands Gesetze. Aus Solidarität mit den anderen. Aus Prinzip.
Das merkt man schnell, wenn man Omid Moradian über einige Monate hinweg begleitet: Wenn es ihm ums Grundsätzliche geht, und darum geht es ihm, dann macht er es anderen nicht leicht. Polizisten nicht, manchmal nicht mal Unterstützern. Und sich selbst am wenigsten. »Im Kampf um die Freiheit gibt es keine Kompromisse«: Das ist so ein Satz von ihm.
Einige Stunden zuvor. Moradian steht vor dem Würzburger Rathaus und schwitzt. In seinen Händen klingeln zwei Handys. »Was? Wie viele Schlafsäcke?«, ruft er in das eine. Das an­dere klingelt weiter, während er schon wieder losläuft, das Megafon holen. Es ist der Start des Protestmarsches durch Bayern, den er mit vorbereitet hat. Ein paar Dutzend Asylsuchende sind gekommen. Iraner, Kongolesen, Pakistaner, eine Frau aus Äthiopien und noch einmal so viele Unterstützer: Barfußhippies, Dread­locksmädchen, ein paar wirklich junge Jungs von der Antifa. Sie tragen Transparente, auf denen Sätze stehen wie »Wir bleiben alle!«, und rufen Antiabschiebehits wie »Solidarität muss praktisch werden! Feuer und Flamme den Abschiebebehörden!«. Auf zwei Routen – eine von Würzburg, eine von Bayreuth – soll es bis nach München gehen, zwei Wochen lang. Aus den Unterkünften entlang der Routen sollen immer mehr Flüchtlinge dazuzustoßen. Die Leute aufrütteln, die Politik zu Änderungen zwingen, die Asylgesetze wegmarschieren. Das ist ihr Plan.
Jahrzehntelang war Flüchtlingsarbeit etwas, das eher von Deutschen für Flüchtlinge gemacht wurde, von Flüchtlingsräten, Vereinen oder kirchlichen Initiativen, die sich als Anwälte der Migranten verstanden. Doch in den vergangenen Monaten ist eine neue Protestbewegung entstanden, von Flüchtlingen wie Omid Moradian selbst organisiert, die manchmal ziemlich radikal auftreten. Sie verteilen Flyer, um für ihre Positionen zu werben, errichten inmitten deutscher Städte Protestzelte, sie treten in Hungerstreiks und nähen sich die Münder zu, um klarzumachen, dass es ihnen ernst ist.
Der Protestzug zieht durch ein Gewerbe­gebiet aus der Stadt heraus, an einem Bordell vorbei, einer Kampfsportschule, dann an bayerischen Feldern. »Mal sehen, wie weit wir kommen«, sagt Moradian, als zum siebten Mal ein Polizeiauto vorbeifährt.
Für den Protestmarsch ist Omid Moradian wochenlang mit dem Zug von Stadt zu Stadt gefahren, von Spenden bezahlt. Er hat versucht, Leute zu mobilisieren, er hat sich mit Unterstützern getroffen und immer wieder stundenlang in Flüchtlingsplenen gesessen, in denen jeder Satz in vier verschiedene Sprachen übersetzt und jedes Detail per Handzeichen abgestimmt werden muss: Wie soll die Route verlaufen? Was steht auf der Internetseite? Wer organisiert die Logistikgruppe, die sich um ­Essen und Schlafplätze kümmert, die Finanzgruppe, die Pressegruppe oder die Mobilisierungsgruppe, die alle Sammelunterkünfte Bayerns besuchen soll, um möglichst viele Flüchtlinge zum Mitmarschieren zu bewegen?
Mit solchen Fragen befasst sich Omid ­Moradian seit sechzehn Monaten. Seit er im Sommer 2012 beschlossen hat, sich diesen Leuten anzuschließen, Asylsuchenden wie ihm, die zu der Zeit mitten in Regensburg in einem Protestzelt lebten. Gemeinsam mit ­ihnen trat Moradian kurze Zeit später in seinen ersten Hungerstreik. Im September organisierte er gemeinsam mit anderen einen Protestmarsch von Würzburg nach Berlin, wo er wieder hunger­­streikte, neun Tage lang, und in der Kälte vor dem Brandenburger Tor campierte, obwohl ihnen die Polizei Zelte, Schlafsäcke und Isomatten wegnahm. Dann organisierte Moradian in München einen Flüchtlingskongress. Und im Sommer 2013 trat er am Münchner Rindermarkt mit einer Gruppe von Flüchtlingen wieder in einen Hunger- und Durststreik, bis die Polizei das Lager zwangsräumte, weil die Flüchtlinge angeblich in unmittelbarer ­Lebensgefahr schwebten – was bis heute umstritten ist. Wo auch immer Flüchtlinge in den vergangenen Monaten Aufsehen erregten, war Omid Moradian nicht weit. Er hat sich mit all den Hungerstreiks den Magen ruiniert. Er hat immer wieder dieselben Forderungen gestellt, mit Politikern gestritten und mit Polizisten gerungen. Er ist in dieser Zeit ein Protestprofi geworden. »Das ist mein Leben«, sagt er. Sein Problem ist: Das kann es nicht bleiben.
In einem Essay, den Moradian und andere Flüchtlinge gemeinsam geschrieben ­haben, argumentieren sie, dass sich die Situation der Asylsuchenden nicht, wie oft versucht, mit Rassis­mus erklären lasse, sondern – frei nach Marx – mit ihrer Position innerhalb des kapitalistischen Systems. Diese hänge nicht so sehr von der Frage ab, wo man herkomme, sondern von der Frage, ob man einen Pass habe oder einen anderen sicheren Status – und damit Rechte und Möglichkeiten innerhalb dieses Systems. Oder eben nicht. Die Konflikt­linie verlaufe also zwischen »Citizens« und »Non-Citizens«, nicht so sehr zwischen Kul­tu­ren oder Ethnien. Und diesen Antagonismus können die Non-Citizens nur auflösen, wenn sie immer für sich selbst sprechen, für sich selbst handeln und entscheiden, sagt Moradian.
Das verbietet nicht nur deutschen Ver­tretern von Flüchtlingsinitiativen, bei den Aktionen der Non-Citizens mitzuentscheiden, was diese zum Teil ziemlich irritiert – sondern, seit Omid Moradian eine Aufenthaltserlaubnis hat: paradoxerweise auch ihm selbst. »Das ist schwierig für mich, weil ich eigentlich weiterkämpfen will«, sagt er, aber er dürfe jetzt arbeiten, er dürfe selbst entscheiden, wo er lebt, und sei damit nun eben kein echter Non-Citizen mehr. Prinzip ist Prinzip.
Er hat sich deshalb schon ein paarmal vorgenommen, einfach die anderen machen zu ­lassen (um dann ein paar Tage später wieder aufzutauchen), deshalb hebt er in den Plenen nicht mehr die Hand, wenn eine Entscheidung ansteht. Und deshalb ist dieser Protestmarsch so wichtig für ihn: Es ist seine letzte Aktion. Er will noch einmal mithelfen, einen Erfolg zu erreichen. Er will das Know-how, das Netzwerk, seine Kontakte weitergeben. »Der Protest muss weitergehen«, sagt er. »Es ist ja noch nicht viel erreicht.«
Als die Flüchtlinge Rottendorf erreichen, versperren ihnen plötzlich Polizeiautos den Weg. Hinter ein paar Büschen steht ein Spalier aus gut trainierten Beamten, die sich schon mal die Handschuhe anziehen. Es bestehe der Verdacht auf Verletzungen der Residenzpflicht, sagt der Einsatzleiter. Ausweisen, bitte. Die Flüchtlinge weigern sich, setzen sich auf den Boden, sie umklammern einander wie bei einer Sitzblockade, weil sie schon wissen, was mit denen passiert, die keine Erlaubnis haben, hier zu sein (siehe Kasten): Sie werden durchsucht, verhaftet und in ihre Lager zurückgebracht. »Rassistische Polizeikontrolle«, ruft Omid Moradian. »Scheiße!«, antworten die anderen im Chor.
Es sind Regeln wie die Residenzpflicht, weshalb sie auf die Straße gehen. Die Residenzpflicht verbietet Asylsuchenden, während ihres Verfahrens ohne schriftliche Ge­neh­mi­gung ihren »Gestattungsbereich« zu ver­lassen. In Bayern heißt das: den Regierungs­­be­zirk. Es gibt noch mehr Regeln, zum Beispiel wird den Flüchtlingen auch vorgeschrieben, was sie ­essen sollen: das, was in den immer gleichen Essenspaketen steckt. Und es gibt Regeln, die ihnen verbieten, zu ar­beiten oder zur Uni zu gehen. Viele Flücht­linge werden dadurch krank: weil sie auf unbestimmte Zeit zum Nichtstun verurteilt sind, nicht wissen, ob sie vielleicht am nächsten Tag ab­geschoben werden. Am übernächsten. Oder erst in fünf Jahren, weil das Verfahren oft sehr lange dauert. »Das ist ein Leben wie im Gefängnis«, sagt Omid Moradian. »Kriminelle wissen wenigstens, weshalb sie eingesperrt sind. Aber wa­rum sperrt man Flüchtlinge ein?«
Um dem Gefängnis zu entgehen, hat ­Moradian vor vier Jahren seine Heimatstadt Kermanschah verlassen, wo er einen Handy­laden betrieb. Er wusste, dass er ein Problem hat, als die Polizei das Haus seiner Familie besuchte und fragte, wo er zu finden sei. Er war ein aktives Mitglied der im Untergrund agierenden Demokratischen Partei Kurdistans. »Keiner weiß, was mit mir passiert wäre, wenn sie mich erwischt hätten.« Ein Freund brachte ihn nach Teheran, dort nahm er einen Bus nach Istanbul. Sein Bruder zahlte die Schleuser, die ihn per Schiff nach Italien brachten und dann per Bus quer durch Europa. Als der Bus an einer bayerischen Raststätte von der Polizei gestoppt wurde, wusste Omid Moradian nicht einmal, in welchem Land er sich befand. »Ich war unter Schock«, sagt er. »Man verliert alles, wofür man gekämpft hat, alles, was man liebt. Ich wollte ja nicht weg.« Seitdem ist sein Vater gestorben, seine Mutter ist schwer krank. Ob er sie noch einmal sehen wird? Er weiß es nicht.
In Rottendorf ist Moradian der Erste, der rausgegriffen wird. Doch am Abend ist er wieder da. Wie alle anderen, die von der Polizei in einen Zug gesetzt oder in ihre Unterkunft zurückgefahren wurden. Es wird für die Flüchtlinge zu einer Routine über die nächsten zwei Wochen: wandern, essen, im Zelt oder einem Gemeindesaal schlafen. Weiterwandern. Und immer wieder: Polizeikontrolle. Mal auf einer Wiese, mal auf einer Autobahnbrücke. Sie lassen sich abtransportieren, kommen wieder, wandern weiter. Trotz der Strafen, die ihnen drohen.
In der letzten Nacht bevor die Flüchtlinge in München einmarschieren wollen, halten sie in dem Gemeindesaal, in dem sie schlafen dürfen, ein Plenum ab. Rund dreißig Menschen sitzen im Kreis. Die Marschierenden beider Routen erstmals vereinigt. Diskussionspunkt eins: wie sie die Polizei überlisten können, damit alle die Demo in München erreichen und niemand wieder abtransportiert wird. »Wir sollten uns alle aneinanderketten«, sagt einer. »Wir müssen uns in viele kleine Gruppen aufteilen«, sagt ein anderer. Omid Moradian liegt etwas abseits auf seiner Isomatte und hört zu. Er sieht zufrieden aus, obwohl seine Rippen schmerzen von all dem Gezerre und Geziehe der letzten Tage. Der Marsch ist fast am Ziel.
Am frühen Abend des nächsten Tages ­marschiert Moradian mit den anderen Protestierenden und einigen Unterstützern quer durch die Stadt. Die letzten Meter, nachdem sie 250 Kilometer marschiert sind. »Bin gespannt, ob jemand da sein wird«, sagt Moradian. Sie ­rufen ihre Sprüche und tragen die Transparente an Menschen vorbei, die applaudieren, den Kopf schütteln oder eben das machen, was Menschen heute ja eigentlich immer machen: erst mal ein Handyfoto. Als sie ins Ziel einbiegen, einen kleinen Platz, stehen dort mehrere ­hundert Menschen, jubeln und feiern den Protest­zug. »Say it loud, say it clear, Refugees are welcome here!«, rufen sie. Irgendwoher kommt Musik. Omid Moradian sitzt etwas abseits auf einer Bank. »Gut«, sagt er.
Die Tage nach der Demo verlaufen dramatisch. Aus Angst vor der Polizei weigern sich die Flüchtlinge, das Gewerkschaftshaus zu verlassen, in dem sie zunächst übernachten durften. Dann treffen sie Vertreter der bayerischen Parteien und stellen ihre Forderungen: Abschaffung der Residenzpflicht, der Essenspakete und des Arbeitsverbots, Anerkennung ihrer Asylanträge. Der CSU-Mann will in seiner Partei für eine Lockerung der Residenzpflicht werben. Die Grünen-Frau verspricht eine Anhörung im Landtag. Die SPD-Frau vermittelt ein Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesamts für Migration. Der Protest geht weiter.
Omid Moradian ist bei all dem nicht dabei. Er will jetzt erst mal nur schlafen, sich vielleicht um eine Wohnung kümmern und sich in neue Themen einlesen, für die er sich zukünftig politisch engagieren könnte. »Sexismus, Homophobie, Rassismus, Faschismus – es gibt in dieser Gesellschaft immer jemanden, der aus irgendeinem Grund versucht, jemand anderen zu unterdrücken.« Und so lange das so sei, werde er sich dagegen engagieren. Wie genau, weiß er noch nicht. Aber das Wichtigste sei ja, dass man überhaupt kämpft. »Man darf als Mensch nie damit aufhören.« •