In Hamburg sitzt Victoria S. an ihrem Schreibtisch und blickt auf den dicken Stapel von Liebesbriefen, die Kai ihr geschickt hat, bunte Umschläge, Postkarten aus USA, Tunesien und China, offizielle Zollpapiere, die er für die vielen Geschenkpakete aus den USA ausgefüllt hat, mit einer Handschrift, die immer ein wenig ungelenk erschien für diesen Mann. Victorias Computerbildschirm zeigt das Facebook-Profil von Kai Cruz, dem dunklen, schönen Surfer, die Urlaubsfotos von Stränden und Sonnentagen am anderen Ende der Welt, aber auch wenn sie noch so genau hinschaut, jedes einzelne Pixel fokussiert, findet sie doch keine Antwort auf die Frage: Wer war dieser Mann, den sie liebte?
8000 Kilometer entfernt betritt die Frau, die mehr als ein Jahr lang Kai Cruz war, ein kleines Bistro in Springfield im US-Bundesstaat Arkansas und bestellt einen Salat. Sie hat Victoria all die Liebesbriefe geschickt, die bunten Umschläge, Postkarten, Pakete, Fotos und Mails. Sie spricht darüber, wer sie ist und warum sie zu Kai Cruz wurde, sie erklärt technische und psychologische Tricks, mit denen man im Netz eine andere Identität annehmen kann, und ihre Geschichte ist eine andere als die von Victoria. Ihre Geschichte ist die eines Spiels. Victorias Geschichte ist die eines Schocks.
Victoria und »Kai« haben eine Beziehung geführt, die uns noch vor wenigen Jahren schon in ihren Anfängen irreal erschienen wäre. Sie sind sich im Netz begegnet, kamen sich näher, sie waren, obwohl sie sich nie getroffen hatten, wie ein Paar – bis Victoria herausfand, dass Kai Cruz nicht existiert, dass sie sich in eine Fantasie verliebt hatte, einem Hochstapler aufgesessen war, einem digitalen Don Juan. Die unglückliche Liebesgeschichte ist kein Einzelfall im Internetzeitalter. Im Englischen gibt es für die Hightech-Herzensbrecher bereits einen Begriff: »Catfishes« – benannt nach dem gleichnamigen Film über einen New Yorker Fotografen, der sich online in eine junge, schöne Frau verliebt, welche sich später als Mutter Mitte vierzig aus Michigan entpuppt. In den USA läuft eine Fernsehserie zum Thema, »Catfish«, auf MTV. Wie viele Catfishes es gibt, weiß niemand. Victorias Geschichte berührt, weil sie uns alle betrifft, weil sie etwas erzählt über die Art, wie wir uns online präsentieren, wie wir online kommunizieren, wie wir online lieben. Und weil sich die Frage stellt: Wie können wir sicher sein, wer wir sind und wer die anderen?
»Bist du das wirklich?«, fragt Victoria immer wieder in den unzähligen Nachrichten, die sie im Winter 2011 schon seit Wochen täglich mit Kai austauscht. Sie schaut dem Foto des lächelnden Surfers tief in die Augen, klickt sich durch seine Facebook-Fotogalerie, wie man das heute eben so macht, wenn man jemanden interessant findet, sie schaut sich die Leute genau an, mit denen Kai abhängt, analysiert die Inneneinrichtung, achtet auf jedes kleine Detail – und fragt sich, ob man sie auch bald in der Galerie sehen wird, an seiner Seite. Kai reagiert genervt auf die Zweifel. Sein Profilfoto lächelt, aber die Sprache wird kühl. »Natürlich bin ich das. Hör doch endlich auf damit!« Victoria will ihm ja glauben. Ihr gefallen die Bilder. Und: Sehen die Leute auf Facebook nicht immer besser aus als in der Bahn und im Bett?
140 Zeichen hin, 140 Zeichen zurück
Victoria, die damals Single ist, und Kai haben sich über Twitter kennengelernt. Sie twittert viel, Alltagsbeobachtungen, Zitate, kleine Weisheiten. Sie ist lustig. Sie ist direkt. Sie hat mehr als 5000 Follower. Einer von ihnen, der sich Kai Cruz nennt, antwortet auf einen ihrer Tweets. Victoria wundert sich nicht über die Reply. Sie ist schon mit vielen Leuten über Twitter ins Gespräch gekommen, 140 Zeichen hin, 140 Zeichen zurück, Small Talk im Digitalzeitalter, manchmal entwickelt sich daraus auch eine Offlinefreundschaft.
Das 140-Zeichen-Fenster wird Victoria und Kai schnell zu eng. Stattdessen mailen, chatten und skypen sie. Kai schreibt, er sei 33 Jahre alt und arbeite als Physiotherapeut in Münster. Er erzählt ihr eine komplizierte Lebensgeschichte: Kind einer Deutschen und eines Jamaikaners, der im Ruhrpott studiert hatte. Die Scheidung der Eltern. Die zweite Ehe der Mutter mit einem Amerikaner. Ein Leben zwischen Europa und den USA. Deshalb auch der dunkle Teint, die Liebe zum Meer, zum Surfen. »Ich habe nie in Deutschland reingepasst. Weiss nicht ob das an mir lag oder an der dt Mentalitaet. Pass auch sonst nirgends wirklich rein«, schreibt Kai.
Victoria und Kai liken gegenseitig ihre Bilder auf Facebook, beide lieben das Meer, beide interessieren sich für Buddhismus, den inneren Frieden. Sie reden viel. Kai hört zu, berät und schreibt ihr lange Mails. Sie fühlt sich verstanden, kann sich auch schwach bei ihm zeigen. Sie stehen nun fast permanent via Chat und via Skype in Kontakt – immer ohne Videobild. Die Kamera seines Laptops, sagt Kai, sei leider kaputt. Nach etwa einem Monat schreibt Kai, dass er mehr für sie empfinde. Victoria geht es nicht anders.
»Er war angenehm. Ein toller, einfühlsamer Mensch mit viel Tiefgang«, sagt Victoria rückblickend. »Er war immer positiv und fröhlich, auch wenn man merkte, dass er eine psychische Last trug. Das fand ich beeindruckend.«
»Kai«, sagt die Unbekannte, war ein ideales Ich
Die Frau in dem Restaurant in Springfield, Arkansas, lässt sich nicht anmerken, ob sie gern an diese Zeit zurückdenkt. Sie beschreibt, wie sie die Figur »Kai Cruz« erschaffen hat, wie sie Profile auf Facebook und Instagram anlegt und mit Bildern füllt, die sie im Netz findet; sie schildert, wie sie, wenn via Skype ein Anruf aus Deutschland kam, erst das Programm »Garage Band« startete, das die Tonlage ihrer Stimme verändert, und erst dann sagte: »Hallo Victoria. Wie geht es dir?« Sie behauptet, »Kai« sei so etwas wie ein ideales Ich für sie gewesen. Es sei ja auch nicht alles gelogen gewesen: Als Kai zum Beispiel eine Postkarte aus China schickte, war die Frau für eine Dienstreise in Ostasien. Fast scheint die Frau zu fragen: Machen das nicht alle so?
Auch nach einem halben Jahr hat Victoria ihrem Freund noch nicht in die Augen schauen können. Durch die Gespräche, die warmen Worte, die guten Gedanken ist er ein Teil ihres Lebens geworden. Kai beginnt, Geschenke und Päckchen zu schicken. T-Shirts für die Kinder, Turnschuhe, Lego, Skateboards und Star-Wars-Zahnbürsten. Er schickt Schmuck und Souvenirs. In anderthalb Jahren kommen Geschenke im Wert von mehreren tausend Euro zusammen. Er beteuert, es mache ihn glücklich, ihr eine Freude zu machen. Kai ist selbst für einen Liebhaber sehr großzügig, fast scheint es, als wolle er seine Virtualität und seine Körperlosigkeit mit anderer Materie kompensieren.
Victoria wundert sich natürlich, dass die Pakete immer aus Springfield verschickt werden, einem kleinen Südstaatenort der USA. Kai sagt, dass dort ein Cousin von ihm lebe, den er oft besuche. Einmal schickt Kai einen neuen iPod voller Musik einer Neunzigerjahre-Jugend: Max Herre, Curse, Die Ärzte, Limp Bizkit, Söhne Mannheims. Er gibt sich wirklich Mühe.
Kai lädt Victoria schon in den ersten Wochen nach Amerika ein. Sie glaubt, theoretisch könnte sie ihn jederzeit kennenlernen. Das gibt ihr Sicherheit. Aber natürlich bucht sie nicht spontan einen Langstreckenflug, um einen fremden Mann zu treffen. Das Treffen, denkt sie, muss in Deutschland stattfinden. Drei Mal verabreden sich Victoria und Kai, drei Mal sagt Kai im letzten Moment mit guten, großen Ausreden ab. Einmal zwingen ihn angeblich familiäre Probleme dazu, länger in den USA zu bleiben. Einmal meldet sich plötzlich Kais Bruder via Facebook: »Hi Vicky, are you with Kai?« Kai sei verschwunden. Und der Bruder hat eine Erklärung: »I know he was upset about missing your date in Muenster and was ashamed leaving you hanging. Maybe that’s why he is avoiding you because he is scared?«
Victoria ist kein naives Mädchen, schon gar nicht im Internet. Sie arbeitet als Kommunikationsdesignerin, sie kennt sich mit Fotosoftware aus und betreibt ein erfolgreiches Blog. Das muss die Beziehung ziemlich anstrengend gemacht haben für die Frau aus Springfield. Es genügt nicht, das Profil von Kai zu pflegen, sie muss verschiedene Figuren mobilisieren, um sein Onlineleben authentisch und lebendig wirken zu lassen. Kai hat deshalb Geschwister und Freunde, die seine Posts kommentieren und liken. Er hat einen besten Freund namens Chris, einen Deutsch-Kanadier, der gewissermaßen für die Echtheit von Kai bürgt. Der Dreißigjährige nennt sich auf Facebook »Chris Rakete« und flirtet schon mal Victorias Freundinnen schief an.
Fragt man die Frau, was diese Spielchen sollten, sagt sie, dass sie eine umgängliche Person sei, aber auch aufbrausend werden könne. Sie werde wütend »wenn man mich in eine Ecke drängt. Mit Chris konnte ich direkter sein. Chris war meine schroffe Seite.«
Dient das Netz zur Selbstemanzipation oder zur Manipulation anderer Nutzer?
Als man das Internet noch Cyberspace nannte, galt es als Ort der Befreiung des Ichs, als neuartiger Raum, in dem man die Grenzen seiner Identität, Zwänge, Geschlecht und Körper überwinden und ganz man selbst sein könne. Die Frau aus Springfield nutzte das Internet allerdings nicht zur Selbstemanzipation, sondern zur Manipulation anderer Nutzer. Sie erfand so diverse Identitäten und lockte Victoria in ein fiktives, rein soziales Konstrukt. Ohne es zu wissen, wurde Victoria zu einer Figur in einer interaktiven Lovestory, einem Spiel.
Als sie mit ihrem Expartner und den Kindern in den Urlaub fährt, wirkt Kai verständnisvoll, aber von Chris erhält Victoria eine scharfe Nachricht: »Ich finde du traegst nicht gerade dazu bei, dass es positiv und easy going ist, wenn du mit der ganzen Familie im Urlaub bist.«
Im August 2012 dann zerbricht das Bild, das sich Victoria mehr als ein Jahr lang so gerne angeschaut hat, in viele Stücke. Eine Freundin von ihr, die mit Chris inzwischen intensiv auf Facebook flirtet, wundert sich über das widersprüchliche Verhalten von Chris und Kai. Sie ergreift die Initiative und ruft in Münster das Einwohnermeldeamt sowie Kais vermeintlichen Arbeitgeber an – und findet so heraus, dass Kai Cruz außerhalb des Internets nicht existiert. Noch einmal klickt Victoria auf Skype »Kai Cruz« an, noch einmal ertönt das Dudelgeräusch, das immer gute Gespräche ankündigte, das in jeder Fernbeziehung für Vertrautheit steht. Diesmal aber weiß sie nicht, wer am anderen Ende der Computerleitung sitzt. Victoria hat das Gespräch aufgezeichnet, in dem sie Kai zur Rede stellt. Victoria konfrontiert ihn damit, dass die Lügen aufgeflogen sind. Erst gefasst, dann weinend. »Kai« mauert. Plötzlich ist er nicht mehr einfühlsam: Er sei in diesen Fake reingerutscht, das sei auch für ihn »voll Kacke«. Sein Name, behauptet der Fremde, sei Daniel Grubert. Er komme aus Deutschland, sei 32, blond, blaue Augen. Wie Kai sei er Physiotherapeut. Er wohne in Springfield, wie einer von Kais Freunden. Dann beginnt er zu weinen.
Victoria gibt dem Fremden eine Chance. Der tollen Persönlichkeit und dem Tiefgang des Menschen, der sich hinter dem Catfish versteckt hatte. Plötzlich ergeben die abgesagten Treffen und die kaputte Webcam Sinn. Sie hofft, dass sich nun alles zum Guten wendet.
Aussteigen oder Weiterspielen?
Victoria möchte einen Beweis und fordert von Daniel ein Foto mit persönlichem Gruß. Die Frau aus Springfield hat nun zwei Möglichkeiten: aussteigen oder weiterspielen. Vielleicht ist sie in diesem Moment tatsächlich verzweifelt, wie sie später in dem kleinen Restaurant behaupten wird, weil sie die Person, die sie angeblich liebt, zu verlieren droht. Vielleicht ist sie auch einfach nur abgezockt. Sie nimmt eine Kreidetafel und schreibt darauf: »Vicky, is this Sign big enough for you? Daniel Grubert 8-18-12 Arkansas«, sie fotografiert die Tafel und setzt die Bilddatei mit Photoshop in das Foto von einem jungen Mann ein, der neben einem Pub-Schild steht. Das Foto hat sie im Internet gefunden. Sie gibt Victoria den Link zum Facebook-Profil von »Daniel Grubert« und richtet den Instagram-Account »kontrakonfus« ein. Nach und nach füllt sie beides mit Bildern und fiktiven Figuren. Victoria findet schon in den ersten Tagen immer wieder Fehler in der hastig fabrizierten Identität »Daniel Grubert«: Die mit ihm befreundeten Facebook-Accounts seiner Geschwister und deutschen Schulfreunde wurden alle innerhalb von zwei Tagen eingerichtet, seine Frisur und sein Alter scheinen sich von Woche zu Woche zu ändern. Victoria beginnt, jedes Detail zu prüfen. Als sie das Spiel beenden will und ein Treffen verlangt, bricht der Kontakt plötzlich ab.
Victoria fragt sich: Bin ich Teil eines kranken Experiments?
Kai, Chris und Daniel scheinen spurlos verschwunden zu sein. Für Victoria aber geht die Geschichte weiter. Sie schaut jetzt öfter nach, ob die Tür ihrer Wohnung wirklich abgeschlossen ist. Jemand da draußen hat ihr seine Liebe erklärt und viel Geld für sie ausgegeben. Jemand da draußen weiß so gut wie alles über sie. Später sagt sie über diese Zeit: »Manchmal kam ich mir vor wie in einem Experiment eines Psychologen, der testen will, wie man Frauen manipulieren kann«, sagt sie und ahnt nicht, wie nah dieses Gefühl an der Wahrheit liegt. Und wie weit entfernt.
Victoria meldet den Fall der Polizei, wo sie erfährt, dass sie rechtlich nichts machen könne, solange kein Geld geflossen ist, keine Gewalt angewandt und man nicht gestalkt wurde. Die Opferhilfe »Weißer Ring« registriert in Deutschland pro Jahr einige Dutzend Fälle sogenannter »Love Scams«, bei denen digital unerfahrene Menschen über das Internet emotional manipuliert und von ihren Onlineliebhabern dann um einen Geldbetrag gebeten werden – eine digitale Form des Heiratsschwindels. Die Catfishes aber, die in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, wollen kein Geld, sondern: Aufmerksamkeit, emotionale Energie, das Gefühl der Kontrolle.
Victoria gibt nicht auf. Sie will wissen, wie die Geschichte begonnen hat, wer hinter dem Catfish steckt. Und sie will das Ende selbst bestimmen. Sie recherchiert, beobachtet Daniels und Chris’ Profile auf Facebook, Twitter und Instagram, sie findet die Männer, deren Fotos der Unbekannte geklaut hat, sie kontaktiert Frauen, mit denen Chris auf Twitter kommuniziert, warnt diese und findet weitere Opfer. Anhand der Skype-Aufnahme bestätigen sie: Kai und Chris sind eine Person. All diese Frauen sind zwischen 25 und 35 Jahre alt. Sie sind attraktiv und selbstbewusst. Sie sind mit dem Internet aufgewachsen. Victoria bekommt das Gefühl: Es könnte jedem passieren.
Die Frau, die anderthalb Jahre lang Kai war, hat nicht damit gerechnet, dass man sie finden wird. Vielleicht glaubte sie, dass sie 8000 Kilometer Distanz schützen würden. Vielleicht war ihr nicht klar, dass Dinge, die im Netz passieren, keine virtuellen Phänomene sind, sondern reale Folgen haben. Und dass man nicht viele Leben im Netz führen kann, ohne Spuren zu hinterlassen.
Das Geheimnis wird aufgeklärt
Es war aufwendig, aber nicht unmöglich, die Frau in Springfield zu finden. Die Analyse der IP-Adresse, von der sie E-Mails schrieb, belegte, dass sie wirklich in den südlichen USA lebte. Vor allem: Die Frau fühlte sich wohl so sicher, dass sie dem Zoll ihre reale Adresse als Absender für die Geschenke an Victoria nannte. Die Adresse führt zu einem Reihenhaus in Springfield. Von einer Nachbarin ist zu erfahren, dass in dem Haus tatsächlich eine Person lebt, die Deutsche ist. Sie arbeite an der örtlichen Universität. Eine kurze Suche im Online-Mitarbeiterverzeichnis der Universität löst das Rätsel: »Kai« ist eine Wissenschaftlerin im Bereich Psychologie namens Kirsten Hader *. Ohne Probleme findet man Fotos und ein Video von Kirsten Hader. Victoria rechnet mittlerweile mit allem. So ist sie auch nicht davon überrascht, dass die kräftige, burschikose Frau der Kern der Sunnyboys ist. Als sie die Stimme im Video hört, steht sofort fest: »Das ist sein Tonfall, seine Art zu reden, nur höher!«
Ein paar Tage später kommt Kirsten Hader zum Interview in das kleine Restaurant in Springfield. Sie spricht langsam und ruhig und vermeidet, ins Englische zu fallen. Natürlich will sie nicht, dass einer ihrer Nachbarn erfährt, was sie getan hat. »Kai bin ich in Mannform«, sagt Hader und behauptet, dass die meisten biografischen Details der Figur aus ihrem realen Leben stammen. Nur den jamaikanischen Vater habe sie erfinden müssen, um die Hautfarbe der Figur zu erklären. Hader erzählt kühl und fast mechanisch. Sie sei in Deutschland geboren, ihren Vater kenne sie nicht. Nach dem Abitur sei sie für ein Jahr als Au-pair in die USA gegangen und habe danach Psychologie studiert. »Kai ist der Mann, der ich gerne wäre. Zurückgelehnt, bisschen edgy, definitely Wassersportler, aber trotzdem intelligent« – eine Fantasie durch und durch. »Ich fühle mich oft mehr als Mann denn als Frau. Und ich würde lieber mit einer Frau zusammenleben«, sagt sie. »Aber das ist in den Südstaaten ein Problem.«
Es ist eine schlüssige Erklärung, die einen trotzdem ratlos zurücklässt: Die homophoben Südstaaten zwingen eine lesbische Frau, ins Internet zu fliehen und andere Frauen in ein
Netz aus Lügen zu verwickeln?
Warum, fragt man sie, hat sie nicht nach gleichgesinnten Frauen gesucht, sondern heterosexuelle Frauen verführt und manipuliert? »Das war mir zu riskant«, antwortet sie. Auch das perfide Spiel, mit multiplen Figuren auf eine ahnungslose Frau einzureden, will sie rechtfertigen: Sie habe mit Chris und Kai nur verschiedene authentische Gefühlslagen artikuliert. Fast hat man das Gefühl, als säßen Kai und Chris jetzt mit am Tisch.
Kirsten Hader hat vermutlich psychische Probleme. Sicher aber hat sie ein sehr schlechtes Gedächtnis: An bestimmte Mails, die sie als »Kai« geschrieben hatte, erinnert sie sich auch nicht, wenn man ihr Ausdrucke vorlegt. Für sie scheint alles sehr weit weg zu sein. Dass die Gefühle echter Menschen verletzt wurden, dass Taten im Netz Konsequenzen haben, scheint ihr nicht klar zu sein. Ihre Entschuldigung klingt fast so, als bedaure sie vor allem sich selbst: »Ja, es tut mir leid. Also, ich würde mir wünschen, dass ich hätte ich sein können.«
Das Internet ist für Kirsten Hader und andere Catfishes ein Spielbrett. Die Frauen, die mit Chris oder Kai in Kontakt waren, fühlten sich nach ihren Beziehungen mit ihnen dann auch weggeschmissen »wie kaputtes Spielzeug«, wie eine sagt. »Jeder Mensch ist ersetzbar«, schrieb Kirsten Hader einer der Frauen zum Abschied. Hader sieht darin ihre eigene Logik: »Würde sie wirklich wissen wollen, wer ich bin? Oder lieber einfach sagen: Das war ein Arschloch?«
Victoria S. wollte es wissen. Sie musste erfahren, wer hinter Kai steckt, ein echtes Foto sehen, das Motiv kennen. Vielleicht deshalb, weil Kai eben kein Arschloch war.
* Name ist der Redaktion bekannt und wurde geändert
Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom November 2013 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Seit September 2013 gibt es alle Ausgaben auch digital in der NEON-App.