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Liebe Zwischendrin

Liebe: Zwischendrin
*Namen von der Redaktion geändert

Das Personenstandsgesetz wurde am 1.November geändert: Seitdem muss im Geburtenregister kein Geschlecht mehr eingetragen werden; es wird also amtlich anerkannt, dass es auch Intersexuelle gibt. In Deutschland kommt eins von 2000 Kindern ohne eindeutiges Geschlecht zur Welt. Letztes Jahr habe ich drei Intersexuelle getroffen und ihre Geschichten aufgeschrieben.

Nadja Schmidt*, 30, schob ihre Probleme lange Zeit auf ihr Asperger-Syndrom. Erst der neunte Arzt stellte die richtige Diagnose.

»Mein Chromosomensatz ist XY, also männlich, aber mein Körper kann das Testosteron nicht richtig aufnehmen. Mein Penis ist deshalb unterentwickelt, und bis mir ein Bart wächst, dauert es ewig. Aufgewachsen bin ich trotzdem als Junge. Gleich nach meiner Geburt wurde ich an der Leiste operiert. Was genau damals gemacht wurde, hat meine Mutter mir nie erzählt. Und hartnäckig sein und nachbohren, das kann ich nicht. Ich habe das Asperger- Syndrom, das ist eine abgeschwächte Form von Autismus. Bereits mit vier Jahren hat meine Mutter mich wegen meiner Verhaltensauffälligkeiten zum Psychiater geschickt.

Ich habe nur selten mit Mädchen gespielt und fast nie mit Jungs. Am liebsten war ich eigentlich alleine. Meine Andersartigkeit habe ich lange Zeit auf meine Kommunikationsstörung geschoben. Das war wie ein Ruhekissen für mich. Ruhe vor der Welt.

Meine Mutter wollte immer, dass ich kurze Haare trage, und hat mir in der Grundschule eine Bomberjacke gekauft, aber die wollte ich nie anziehen. Richtig schlimm wurde es dann in der Pubertät. Mein Verhalten war zwar burschikos, aber auf die Leute habe ich immer mehr wie ein Mädchen gewirkt. In der Umkleidekabine beim Sport haben meine Mitschüler mir die Hose runtergerissen und sich über mein kleines Genital lustig gemacht. Sie haben mich verfolgt und misshandelt.

Weil ich spürte, dass meine Andersartigkeit doch nicht so einfach zu erklären war, bin ich mit siebzehn Jahren zum Arzt gegangen. Der wollte, dass ich eine Spermaprobe abgebe, aber das konnte ich nicht. Als er darauf beharrt hat, habe ich ihm das Sperma eines Freundes mitgebracht. Natürlich war die Diagnose: ›Alles ganz normal.‹
Als ich achtzehn war, hat mich meine Mutter zu Hause rausgeschmissen. Ich glaube, sie war überfordert mit mir. Ich kam zum Glück in einem betreuten Wohnheim unter. Damals dachte ich, ich wäre transsexuell, und fing an, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Ziemlich schnell merkte ich aber, dass ich das nicht war. Die Leute dort hatten ganz andere Probleme als ich. Über die Gruppe lernte ich allerdings einen Mann kennen. Beim siebten oder achten Treffen sagte er zu mir: ›Wir haben übrigens etwas gemeinsam. Ich bin auch intersexuell.‹ Ich wusste anfangs nicht, was das war, aber als er so von sich erzählt hat, kam mir alles auf einmal sehr bekannt vor. Das Gefühl, weder Mann noch Frau zu sein. Das Gefühl, anders zu sein. Ich war dann bei vielen Ärzten – ungefähr jedes Jahr bei einem anderen –, um endlich eine genaue Diagnose zu erhalten. Ich wusste nur: Ich fühlte mich immer mehr als Frau. Doch kein Arzt konnte mir genau sagen, was mit mir los war. Die Arztbesuche waren oft schrecklich. Untersuchungen mit zwanzig Ärzten auf einmal waren keine Seltenheit. Dass mein Körper Testosteron nicht richtig aufnehmen kann, habe ich erst vor sechs Monaten erfahren – von der neunten Ärztin. Bereits mit Anfang zwanzig hatte ich aber mit Hilfe des Transsexuellengesetzes meinen Vornamen geändert und angefangen, Östrogene zu nehmen. Alle vier Wochen spritze ich mir die Hormone in den Po. Ein halbes Jahr habe ich auch mal Testosteron in ziemlich hoher Dosis genommen – eigentlich mehr aus Neugier, was das mit meinem Körper macht. Aber außer dass mir Haare an Bauch und Po gewachsen sind, ist nicht viel passiert.

Meine Schwester redet mich auch heute noch mit meinem männlichen Vornamen an und erzählt falsche Dinge über mich. Ich bin gezwungen, mich ständig zu erklären. Deshalb wende ich mich an die Öffentlichkeit. Vielleicht ist diese Form der Aufklärungsarbeit auch eine Art Berufung. Einen richtigen Beruf konnte ich leider nie erlernen. Bei mir gab es immer schon während der Praktika Probleme, weil ich die Autoritäten nicht anerkannt habe. Im August 2009 habe ich mich trotz allem mit einer Frau verlobt. Männer konnten mir nie das geben, was ich gesucht habe. Sie glauben auch immer, dass sie logisch denken, dabei stimmt das gar nicht.«

Alex Jürgen*, 36, lebte 25 Jahre seines Lebens als Frau. Seine Verwandlung zum Mann ließ er in einem Film dokumentieren.

»Junge, Mädchen, Frau, Mann, Rentner – das ist mein Leben im Schnelldurchlauf. Die ersten beiden Jahre war ich Jürgen. Doch schon bald merkten die Ärzte, dass mein Penis selbst für einen Säugling zu klein war. Als ich zwei war, sagten sie meinen Eltern, dass ich nie wie ein Mann aussehen würde. Ab da war ich Alexandra. Aber ein richtiges Mädchen wurde aus mir nie. Meine Puppe und meine Kinderküche habe ich beim Spielen angezündet. Ich habe mich nie eingefügt, war laut und später auch vulgär. Meine Eltern sagten, ich sei ›bubennärrisch‹, weil ich mit Jungs spielen wollte. Pünktlich zur Einschulung wurde mir mein Penis entfernt. Meine Eltern erklärten mir, dass das, was falsch angewachsen ist, entfernt werden muss, so wie bei meiner Großcousine, die sechs Finger hatte. Als ich zehn war, wurden mir dann auch meine nach innen gewachsenen Hoden entfernt. Dieses Mal sagten mir meine Eltern, dass irgendwas im Bauch operiert werden müsse. Als Kind habe ich nie Fragen gestellt – nicht einmal, als ich irgendwann den Mutter­Kind­Pass fand und darin Jürgen stand. Erst als ich mit zwölf aus Neugier versuchte, mir einen Tampon einzuführen, und das nicht ging, bin ich zu meiner Mutter. Die meinte nur, ich solle froh sein, dass ich keine Regel habe. Damit war das erst mal erledigt. Ein Jahr später bestand ich darauf, mit einem Arzt zu reden. Der Gynäkologe erwähnte ganz beiläufig, dass mir ja die Hoden entfernt worden seien. Da hat sich auf einmal alles zu einem großen Bild zusammengefügt. Trotzdem habe ich weiter versucht, das zu sein, was ich sein sollte: ein Mädchen. Ich bemühte mich, leise zu reden, nicht zu pfeifen und nicht breitbeinig dazusitzen. Ich habe Röcke angezogen, mich geschminkt und BHs mit den Schulterpolstern meiner Mutter ausgestopft. Mit vierzehn bekam ich dann Östrogene verschrieben – und wenig später riesige Brüste, zwei hängende Schläuche, BH­Größe D. Ich schlief nur noch mit BH. Mein Körper war mir total fremd. Außerdem war ich von den Hormonen wie ferngesteuert, ständig in irgend­ einen Typen verliebt. Die brauchten mich nur anzuschauen. Aber ich habe immer eine Strategie gesucht, damit die Typen mich unten nicht anlangen. Wenn mal wieder Tintenfischalarm war, also ein Typ seine Hände überall hatte, hab ich ihm einfach schnell einen geblasen. Das hat sich rumgesprochen.

Eine Vaginalplastik bekam ich mit sechzehn. Ein Jahr später hatte ich den ersten Freund und fing an, Drogen zu nehmen. Schnell war ich heroinabhängig. Mir war alles egal. Die Leute, mit denen ich damals abhing, waren nur noch grauslig, sie holten zum Beispiel das Wasser zum Spritzen aus dem Klo. In einem klaren Moment habe ich gesehen, dass ich auf dem besten Weg war, genauso fertig zu werden. Nachdem ich irgendwie noch die Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau geschafft hatte, flog ich mit meinem letzten Geld in die Türkei. Zwei Wochen all­inclusive. Alleine. Entzug.

Nach der Türkei wollte ich mein Leben neu ordnen und fing eine zweite Ausbildung zur Pflegehelferin an. Aber als ich fast fertig war, habe ich Krebs bekommen. Akute lympha­ tische Leukämie. Drei Tage fragte ich mich: Warum ich? Hab ich nicht schon genug mit­ gemacht? Dann fing ich an zu kämpfen. Während der ersten Chemo ging es mir fantastisch. Ich aß viel, abends kamen Freunde zu Besuch, und im Klo rauchte ich Bongs. Nach drei Monaten war ich wieder zu Hause, nach sieben Monaten wieder im Krankenhaus. Krebsrückfall. Multiorganversagen. Dreizehn Wochen Koma. Meine Überlebenschancen waren gleich null. Aber irgendwann war ich doch stabil genug, und die Ärzte transplantierten mir noch im Koma Stammzellen meines Bruders. Es folgten drei Jahre im Rollstuhl.

Über eine Online­Partnerbörse hatte ich schon zuvor eine andere intersexuelle Frau kennen gelernt. Wenn sie – oder später er – schrieb, kam es mir vor, als hätte ich das geschrieben. Sie riet mir, einen Chromosomentest zu machen. Das Ergebnis: XY, also männlich. Ich vertraute mich einem damaligen Freund an. Der sagte: ›Jetzt versteh ich dich!‹ Meine Eltern hatten mir immer eingebläut, niemandem was zu erzählen. Es tat so gut, endlich darüber zu reden, zu sagen: ›Ich bin ein Zwitter.‹

Als ich eines Tages im Radio ein Mädchen hörte, das sich die Nase richten lassen wollte, packte es mich. Ich rief an, um denen mal was über richtige Schönheits­OPs zu erzählen. Die Resonanz war riesig. Auch eine Redakteurin des Radiosenders meldete sich, um einen Film über mich zu machen. Während des Drehs las ich ›Middlesex‹ von Jeffrey Eugenides. Wie Schuppen fiel es mir da plötzlich von den Augen. Ich hatte die ganze Zeit in die falsche Richtung gefragt. Nicht ›Willst du ein Mann sein?‹ musste die Frage lauten, sondern ›Willst du eine Frau sein?‹. Denn letztere konnte ich eindeutig mit Nein beantworten.

Ich wollte sofort meine Schläuche loswerden. An dem Tag, an dem ich für die OP ins Krankenhaus ging, schrieb ich an meine Mutter, an meinen Vater und an meine Großeltern. In den Briefen stand, dass ich als Frau nicht weiterleben kann. Zum Glück haben sie akzeptiert, dass ich jetzt Alex bin. Jetzt nehme ich Testosteron, aber einen Penis wollte ich nicht. Vor allem nicht noch eine Operation.

Die Filmpremiere von ›Tintenfischalarm‹ bei der Berlinale war ein großer Erfolg. Ich fühlte mich super. Dass ich wenig später auch noch eine Freundin fand, war das Sahnehäubchen auf meinem Leben. Drei Jahre hat die Beziehung gehalten. Nur richtig arbeiten konnte ich nach meiner Krebserkrankung leider nicht mehr. Seit einem halben Jahr bin ich in Frührente. Jetzt schreibe ich mein Leben in Kurzgeschichten auf. Die sind hart, aber lustig.«

Anja Haller*, 33, glaubt, dass sie Männer besser versteht, als andere Frauen das können.

Dass ich heute trotz meines männlichen Chromosomensatzes so bin, wie ich bin, ver­ danke ich einer ärztlichen Fehldiagnose. Im Alter von vier Jahren wurde ich nach einer längeren Krankheit genau untersucht. Die Ärzte entdeckten zwei Knubbel in meiner Leistengegend und hielten sie für geschwollene Lymphknoten. Erst als ich fünfzehn war, fand man heraus: Die Knubbel waren keine Lymphknoten, sondern Hoden. Da bei mir aber wegen eines sehr seltenen Gendefekts ein Enzym fehlt, das für die Testosteronbildung wichtig ist, haben sie nie männliche Hormone produziert. Ich wuchs als Mädchen auf. Bis zur Pubertät ahnte niemand, was mit mir los war. Ich habe aber immer gespürt, dass ich etwas Besonderes bin. Das habe ich schon im Kindergartenalter zu meiner Mutter gesagt.

Als ich mit Ende vierzehn von einer Schulärztin zur Gynäkologin geschickt wurde, weil ich meine Regel noch nicht hatte, scherzten meine Mutter und ich noch vor dem Arztbesuch. Sie sagte: ›Mal schauen, was du bist.‹ Und ich antwortete: ›Bestimmt ein Zombie.‹ Meine Eltern hatten sich bis dahin keine Sorgen gemacht. Ich entwickelte mich zwar körperlich anders als die meisten meiner Mitschüler – ich war sehr schlaksig und sah aus wie ein hübscher Junge –, aber sie dachten, ich sei eben eine Spätzünderin. In meiner Klasse gab es auch andere Mädchen, die ihre Tage noch nicht hatten. Und ich hatte ja sogar einen Brustansatz. Die Frauenärztin war dann total überfordert, als sie feststellte, dass mein Scheidenkanal blind endet, also nicht in einer Gebärmutter. Sie überwies mich an einen auf Intersexualität spezialisierten Professor. Zum zweiten Mal hatte ich großes Glück. Er war sehr sensibel, hielt neugierige Medizinstudenten von mir fern und stellte gleich die richtige Diagnose. Ich war sogar irgendwie erleichtert. Endlich hatte ich die Bestätigung, dass ich wirklich an­ ders war. Mein Gefühl hatte mich die ganzen Jahre nicht getäuscht. Für meine Eltern war es ein kleiner Schock, aber sie waren vor allem froh, dass ich nicht schwer krank war. Meine Mutter hatte kurz Angst, dass ich mich dazu entschließen könnte, als Mann zu leben. Das hat sie mir aber erst später erzählt. Der Profes­ sor hat mit mir auch darüber gesprochen, aber da ich fünfzehn Jahre als Mädchen gelebt hatte, war für mich eigentlich klar, dass ich das bleiben wollte.

Weil ich in der Zeit häufiger zum Arzt musste, erzählte ich in der Schule, ich hätte Probleme mit den Lymphknoten. Ich habe mich damals ziemlich zurückgezogen, weil ich mir erst mal selbst Gedanken machen musste über mein künftiges Leben. Nur meiner besten Freundin habe ich mich anvertraut. Ich schrieb ihr einen Brief. Sie hat ihn vor meinen Augen in der Pause gelesen. Ich war total gespannt auf ihre Reaktion, aber sie hat nur mit den Achseln gezuckt. Für sie war das nicht von Bedeutung.

Als ich sechzehn war, wurden mir die Hoden rausoperiert. Nach der OP bekam ich eine geballte Ladung Östrogene, um in der körperlichen Entwicklung aufzuholen. Ich habe einen ziemlichen Schub gemacht und mich gefreut, dass ich endlich als Mädchen wahrgenommen wurde. Bald hatte ich meinen ersten richtigen Freund. Ich habe ihn mir extra nicht in meinem direkten Umfeld gesucht, weil ich ja nicht wusste, wie die Jungs auf mich reagieren würden. Ich dachte, er würde vielleicht etwas merken, wenn er mit mir schläft, aber das hat er nicht. Auch der zweite Freund nicht. Erst meinem dritten Freund habe ich erzählt, was mit mir los ist. Er fand das okay, war eher neugierig.

Nach dem Abitur fing ich an zu studieren, erst Jura, dann BWL. Während des Studiums habe ich auch zweimal vor Medizinstudenten gesprochen, um ihnen zu erzählen, wie Intersexuelle von Ärzten behandelt werden sollten – nämlich so wie ich. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon keine Angst mehr davor, eventuell darauf angesprochen zu werden. Ich dachte mir: ›Wer nicht damit umgehen kann, mit dem kann ich eben auch nicht.‹

Heute ist mir mein Chromosomensatz ziemlich egal. Ich definiere mich nicht über typi­ sche Geschlechterrollen. Es gibt Wichtigeres im Leben. Ich nehme täglich eine Östrogen­ pille. Außerdem schmiere ich mir zwei Mal in der Woche ein Testosterongel auf den Bauch, denn ohne männliche Hormone werde ich ganz lahm im Kopf und fühle mich schlapp. Der weibliche Körper produziert ja normalerweise auch männliche Hormone. Ich habe für mich inzwischen eine Art Wohlfühldosierung gefunden. Wenn ich mal ein halbes Milligramm zu viel von einem Hormon nehme, merke ich das sofort. Mit zu viel Östrogen bekomme ich Wassereinlagerungen in den Beinen und werde übersensibel, zu viel Testosteron macht meine Haut härter. Ich glaube, ich kann Männer schon besser verstehen, als andere Frauen das können. Ich weiß auch, wie sich ein Tritt in die Eier anfühlt. Früher hatte ich ja selbst mal welche.

Benachteiligt wurde ich wegen meiner Intersexualität bislang zum Glück nur einmal. Als ich mit 26 mein BWL­Studium schmiss und mich bei der Polizei bewarb, wurde mir durch eine Ärztin die Zulassung zur medizinischen Tauglichkeitsuntersuchung verweigert. Ich fand das wahnsinnig ungerecht, nicht einmal die Chance zur Untersuchung bekommen zu haben, und beschwerte mich überall. Ich durfte die Untersuchung dann doch machen und habe sie ohne Probleme bestanden. Seit ein paar Jahren bin ich Polizeikommissarin und liebe meinen Beruf über alles. Das Einzige, was mich wirklich traurig macht, ist, dass ich keine Kinder kriegen kann. Ich wollte immer viele Kinder haben. Aber vielleicht adoptieren mein Freund und ich eines Tages welche.«

Fotos: Anne Ackermann

Dieser Text erschien zuerst im NEON-Magazin März 2012. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden.