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Liebe Unwillkommen in Sotschi!

Liebe: Unwillkommen in Sotschi!
Micha

Wenige Tage vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Sotschi sagt der Bürgermeister Anatolij Pachomow in einem Interview mit der BBC: »Hier gibt es keine Schwulen!« Doch das ist eine Lüge. Schwule und Lesben leiden dort jeden Tag unter Diskriminierung und Gewalt. Der NEON-Autor Stephan Seiler hat acht Homosexuelle in Sotschi getroffen.

Text: Stephan Seiler | Fotos: Olya Ivanova

Der schwulste Ort in Sotschi, Austragungsort der 22. Olympischen Winterspiele, liegt in einer dunklen Gasse. Ein Flachdachbau nahe der Strandpromenade, umstellt von Baukränen und neuen Hotels. Keine Beleuchtung, kein Schild. An der Tür: Überwachungskameras und eine Gegensprechanlage. Wer in den Schwulenclub »Majak« kommt, betritt eine Welt, die der russische Staat gerne verböte. Im Juni unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein Gesetz, das »homosexuelle Propaganda« in Gegenwart von Minderjährigen unter Strafe stellt. Ein Kuss unter Männern vor einem Kindergarten, Händchen halten im Park, ein Regenbogenbutton am Revers: illegal. Journalisten ist es verboten, sich positiv über Homosexuelle zu äußern. Wer einem Teenager sagt, Schwule seien normale Menschen, macht sich strafbar. Denn all das, so die Logik, könnte Kinder verführen, ebenfalls homosexuell zu werden. Strafe: bis zu 25 000 Euro.

»Du kannst als Homosexueller hier nur ein erträgliches Leben führen, wenn du dich versteckst«, sagt Andrej Tanichev, Betreiber des Majak. Sein Club ist das einzige Versteck der ganzen Region. Auf der Bühne albern drei als Frauen verkleidete Männer in Glitzerfummel herum. Später tanzen Heteros mit Homos. Männer küssen Männer, Frauen küssen Frauen, Männer küssen Frauen. Kaum einer von ­ihnen wird anderntags von dieser Nacht erzählen. Die wenigsten sind geoutet. Und jene, die geoutet sind, erzählen von ihrer Schutzlosigkeit. Davon, nicht verstanden zu werden.

Laut einer Umfrage denken 34 Prozent der Russen, Homosexualität sei eine Krankheit, 23 Prozent, sie sei eine schlechte Angewohnheit, und 17 Prozent, sie sei das Ergebnis von Verführung. Jeder Zweite sagt, Homosexuelle sollten psychologisch behandelt oder geheilt werden. Fünf Prozent sind für ihre Ermordung.

Zu Sowjetzeiten galt Sotschi, der Kurort am Schwarzen Meer, als liberal. Die Leninstatue war ein Treffpunkt für Homosexuelle. Heute trifft man sich in Chats, in Privatwohnungen – oder eben im Majak. Das wurde wiederholt von Teenagern umstellt, die Schwule aufmischen wollten, erzählen Besucher. Sie berichten, das »Putin-Gesetz« sei so schwammig formuliert worden, dass es gar nicht angewendet werden muss: Es wirkt, indem es in der Welt ist. Den Rest erledigen die Homophoben. ­Nationalisten locken Schwule in Fallen, auf Youtube wimmelt es von Videos, in denen junge Männer ­gezwungen werden, ihren eigenen Urin zu trinken. Die Polizei schere das nicht, hört man. Die meisten Bürger, ermüdet von Korruption, Inflation und Misswirtschaft, haben Besseres zu tun, als sich um »Gals« zu kümmern, wie Schwule genannt werden. Derweil macht die orthodoxe Kirche offenbar Druck, dass nach den Winterspielen, wenn die Welt nicht mehr zuschaut, Orte wie das Majak schließen müssen. Die letzten Verstecke.

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Wlad, 17, Schüler

»Alles kam raus, als in der zehnten Klasse jemand mein Facebook-Profil gehackt hat. Sofort ­erzählten sich meine Mitschüler, dass ich mit Männern chatte. Seitdem bin ich ein Außenseiter. Nur drei Mitschüler halten zu mir, der Rest beschimpft mich. ›Schwuchteln sollen sterben!‹, sagen sie, oder: ›Ich steck dir eine Flasche hinten rein!‹ Sie glauben, was im Gesellschaftskundebuch steht: Dort wird Homosexualität mit Drogensucht und Kriminalität auf eine Stufe gestellt.

Nachdem sich mein Schwulsein herumgesprochen hatte, fragte die Sozialpädagogin der Schule meine Mutter, wie sie das nur zulassen konnte. Sie warnte, dass mich jemand umbringen würde. Ein paar Tage später kam sie mit einem Polizisten zu uns. Sie meinten, dass ich auf Männer stehe, könne nur zwei Ursachen haben: Entweder ich habe schlechten Sex mit Frauen gehabt oder ich müsse als Kind sexuell missbraucht worden sein. Meine Mutter ist Ärztin. Sie begreift langsam, dass ich nur meinem Herzen folge.

Im Fernsehen heißt es oft, Schwule wollten Kinder ins Bett locken. Das schürt den Hass. Auf dem Weg zur Schule wurde ich von ­Jugendlichen mit Kondomen beworfen, die mit Urin oder ­Scheiße gefüllt waren. Das Schlimmste ist vor ein paar Monaten passiert. Als ich abends an einem ­Trafohäuschen vorbei ging, sprangen vier Typen hervor. Sie stanken nach Alkohol, hatten ihre Gesichter verdeckt. Sie drückten mich zu Boden, hielten mir ihre Penisse ins Gesicht und wollten, dass ich sie oral befriedige. Ich konnte abhauen. Das Foto oben ist genau dort ­aufgenommen, wo es passiert ist. Die Polizei ­habe ich nicht alarmiert. Es bringt nichts, wenn die Aussage eines Schwulen gegen die von vier Normalen steht. Deshalb outet sich kaum einer mei­­ner Freunde. Sie führen Doppelleben, manche mit Frau und Kind.

Ich will mich aber nicht mundtot machen lassen. Ich habe sogar einmal mit Regenbogenfahne vor dem Rathaus demonstriert, ein paar Sekunden. Aber was soll sich ­ändern? Russland bleibt Russland.«

Liebe: Unwillkommen in Sotschi!

Dima*, 26, Ökonom

»Ich habe es versucht. Jahrelang wollte ich ›natürlich‹ sein, wie wir in Russland sagen, wenn wir heterosexuell meinen. Was habe ich mich belogen! Als Teenager hatte ich viele Freundinnen. Sie mochten mich, weil ich anders war als die anderen. Ich hörte zu, wollte nicht sofort ins Bett, schenkte ­ihnen Blumen. Das gefiel – den Frauen. Für mich war es eine Qual. Ich hatte Angst vor dem Sex. Bevor es dazu kam, machte ich lieber Schluss. Mein Standardsatz war in dieser Zeit: ›Du verdienst jemand Besseren als mich.‹ Erst als ich 21 war, akzeptierte ich, dass ich Männer mag. Damals lernte ich meinen ersten Freund kennen.

Seitdem passe ich mich ständig meiner Umwelt an, wie ein Chamäleon. Weil ich als Jugendlicher so viele Beziehungen mit Mädchen hatte, gelte ich immer noch als Womanizer. Keiner in meiner Umgebung schöpft Verdacht. Zudem habe ich Alibifreundinnen. Gerade wohnt die dritte bei mir im Apartment. In Wahrheit sind wir nur Freunde, sie suchte eine Bleibe für ein paar Wochen. In Russland lernst du, ein guter Lügner zu werden. Weil alle da­rauf achten, was die Nachbarn denken könnten, muss sich jeder tarnen, der ­irgendwie aus der Norm fällt.

Ich bin Einzelkind, stand deshalb zu Hause immer im Mittelpunkt. Klingt erst mal gut, war aber für mich eher das Gegenteil. Mein ­Vater ist Oberst bei der russischen Armee, meine Mutter Buchhalterin. Abends musste ich um 23 Uhr zu Hause sein. Es wurde viel geschrien, alles kontrolliert. Wenn was über Leute mit Regenbogenfahnen im Fernsehen lief, meinte mein Vater, dass die Schwuchteln alle getötet werden sollten. Er ­sagte, Schwule würden Kinder mit ihrem Schwulsein anstecken. Als ich das hörte, schwor ich, mich niemals zu outen. Wenn mich meine Eltern fragen, wann sie Enkel bekommen, würde ich am liebsten wegrennen.

Aber ich muss tapfer bleiben. Mei­­ne Mutter hat Krebs. Solange ich meine unechte Freundin habe, scheint es ihr besser zu gehen. Oft bringe ich Fotos mit, wenn ich meine Mutter besuche. Das macht sie glücklich. Ich bin mir sicher, die Wahrheit würde sie umbringen.«

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Sergej, 32, Travestiekünstler

»Ich kann mich nicht verstecken, jeder sieht, dass ich Männer mag. So war es schon in der Ukra­ine, wo ich aufwuchs. Ich wurde gehänselt, weil ich Boy George hörte. Es kam auch zu Gewalt, aber darüber möchte ich nicht reden. Ich habe keine Angst mehr. Auf der Bühne verwandele ich sie in Stärke. Ich verkleide mich als Frau und singe live. Seit einem Jahr lebe ich in Sotschi und trete im Majak als Isadora Vulkan auf. Wenn ich keine Hoffnung habe, hilft mir mein Job. Statt mich umzubringen, kann ich jeden Tag singen. Das Putin-Gesetz hat nichts verändert. Es war mir vorher unmöglich, einen Mann öffentlich zu küssen, weil sich das niemand ­getraut hätte. Nun tut es niemand, weil es verboten ist. Der Grund, aus dem die Gleichberechtigung in Russland wohl immer eine Utopie bleiben wird, ist folgender: In Einzelgesprächen verstehen die Russen alles, aber in der Masse verwandeln sie sich in einen Mob.«

Liebe: Unwillkommen in Sotschi!

Micha, 36, und Dimitri, 39, Werber

: »Wir sind seit fünfzehn Jahren ein Paar. Nach Sotschi sind wir gezogen, weil es weit entfernt von unseren Eltern ist. Meine Familie weiß von nichts.«

Dimitri: »Micha ist der Erste, mit dem sich eine Liebe komplett anfühlt. Meinen Eltern habe ich nie davon erzählt. Nur eine Schwester weiß es, sie lebt in London. Mit ihr kann ich reden.«

Micha: »In Russland gelten zwei Regeln: Erstens redet man nicht über die sexuelle Orientierung. Zweitens hängt das eigene Schicksal davon ab, was die Leute von einem denken. Unsere Nachbarn glauben, wir seien Mitbewohner. Wenn ich beruflich eingeladen werde, habe ich die Wahl: Entweder ich präsentiere Dimitri als meinen Bruder. Oder eine unserer Freundinnen als meine Lebensgefährtin.«

Dimitri: »Wenn alle wüssten, dass ich schwul bin, müsste ich womöglich meine Firma schließen. Kunden würden abwandern. Nicht weil sie selbst etwas gegen mich hätten, sondern aus Angst: Wer Geschäfte mit Gays treibt, muss um seinen Ruf fürchten.«

Micha: »In einem Bekleidungs­geschäft habe ich Dimitri kürzlich ›Hase‹ gerufen. Die Verkäufer schauten schockiert.«

Dimitri: »Ich antwortete: Micha, deine Frau ist doch dein Hase!«

Micha: »Wir haben nie Gewalt ­erlebt und trotzdem haben wir Angst, dass alles, was wir aufgebaut haben, zerstört werden könnte, sobald herauskommt, dass wir uns lieben.«

Dimitri: »Wenn wir nach Europa reisen, ist es, als würde man uns aus einem Käfig befreien.«

Micha: »Russland ist kein schlechtes Land. Aber im Fernsehen fordern Journalisten, die Herzen homosexueller Unfallopfer zu verbrennen! Sobald wir genug Geld haben, wandern wir aus. Wie so viele.«

Dimitri: »Seit dem Putin-Gesetz ist es nirgends mehr sicher, auch nicht in Sotschi. Als wir vor zwei Wochen aus dem Majak nach Hause gehen wollten, wurden wir von zwanzig Männern umringt und als Päderasten beschimpft, sie schnippten Zigaretten auf uns. Wir sprangen ins Taxi.«

Liebe: Unwillkommen in Sotschi!

Olga, 22, Verkäuferin

»Gerade hat meine Freundin mit mir Schluss gemacht. Ich bin traurig, aber zeigen kann ich das niemandem. Meine Eltern sind mit mir vor zehn Jahren aus Turkmenistan nach Russland eingewandert. Ich lebe bei ihnen. Wenn im Fernsehen etwas über Homosexuelle kommt, sagen meine Eltern, dass Schwule und Lesben einen Kreuzzug gegen die Christlichkeit führen würden. Mir fällt es schwer, ruhig zu bleiben. Ich sage, dass nicht stimmt, was im Fernsehen gesagt wird. Mehr traue ich mich nicht, sonst verdächtigen sie mich noch. Vor dem Putin-Gesetz haben meine Eltern sich nie so geäußert. Erst durch das Verbot ›homosexueller Propaganda‹ und die Berichterstattung darüber haben viele Leute angefangen, über Homo­sexuelle nachzudenken. Wir sind der perfekte Sündenbock. Wer setzt sich schon ohne Not für Homos ein?

Der Hass der Öffentlichkeit richtet sich vor allem gegen Schwule. Ich kenne einige, die verprügelt wurden. Wir Lesben haben es einfacher. Mit meiner Freundin war ich drei Jahre zusammen. Getroffen haben wir uns nur bei ihr. Sie ist meine große Liebe. Der erste Mensch, mit dem es sich normal anfühlte, sich zu küssen und zu berühren. Fast keine meiner Freun­­dinnen hat sich geoutet. Ich würde es gerne tun, sobald ich im Sommer mein Betriebswirtschafts­­diplom in der Tasche habe. Sobald ich finanziell von meinen Eltern unabhängig bin. Zum Glück ist meine ältere Schwester schwanger. Wenn ich mich oute, wird das Baby hoffentlich die Aufmerksam­­keit von mir ablenken.

Meine Eltern fragen nie, ob ich einen Freund habe. Mit sechzehn war ich mit einem zusammen, der später bei einem Autounfall starb. Es klingt makaber, aber diese Geschichte benutze ich heute, um zu erklären, warum ich keinen neuen Mann habe.

Es gibt das Gerücht, dass Putin nach Olympia den Lesben ihre Kinder abnehmen möchte. Wenn es schlimmer wird, werde ich ­abhauen. Ich würde gerne nach Deutschland gehen.«

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Jan*, 23, Chemiestudent

»Was ein Glück, dass ich bis zu meinem 16. Lebensjahr auf die Kadettenschule gegangen bin. Nicht nur, weil ich dort gemerkt habe, dass ich auf Typen stehe – wenn man jede Nacht mit zwanzig Jungs in einem Raum schläft, merkt man das schnell. Sondern ich habe dort auch zu kämpfen gelernt.

Ich lebe mit meiner Mutter in ei­nem Haus am Stadtrand von Krasnodar, der Hauptstadt der Region, in der Sotschi liegt. Meine Mutter zog mich alleine auf. Sie weiß nichts von mir. Sie würde meine Homosexualität nicht akzeptieren. Allein schon aus Angst um ihre Position, sie arbeitet als Richterin. Über Liebe oder Sex reden wir nicht. So etwas tut man in russischen Familien nicht.

Seit August habe ich eine Fake-Freundin. Mein echtes Leben ­kennen nicht viele, fast alle Mitwisser sind selbst schwul oder lesbisch. Ich werde nie die Kreuzfahrt mit meinem Ex durch Nordeuropa im Herbst 2012 vergessen. An Bord lernten wir ein schwules Paar kennen, das völlig offen seine Liebe zeigte. Also wag­­ten wir es auch, küssten uns, hielten Händ­chen – und niemand regte sich auf. Ich fühlte mich zum ersten Mal frei. Zurück in Russland bekam ich keine Luft mehr.

Als wir uns trennten, suchte ich im sozialen Netzwerk ›Mamba‹ nach Dates. Da gab es diesen Dreißigjährigen. Dunkle Haare, Dreitagebart, männliches Auftreten. Wir verabredeten uns zum Sex und fuhren mit seinem Wagen raus in einen Schrebergarten. Als wir ankamen, warteten dort schon zwei seiner Freunde auf uns. Sie bauten sich auf wie Gorillas und brüllten: ›Du Schwuchtel! An dir geht Russ­­land zugrunde!‹ Ich bin in eine Falle getappt, das passiert vielen Schwulen, oft mit bösem Ende. Die Gorillas schlugen auf mich ein. Aber wie gesagt, ich war Kadett und konnte mich wehren. Wir kämpften fünf Minuten. Als ich ­erwähnte, dass meine Mutter Richterin ist, rannten sie weg.

Ich rief die Polizei an. Aber die meinte: ›Du bist schwul? Dann ist es dein Problem, wenn du verprügelt wirst.‹ Ich hatte Schmerzen im Bauch und an der Schulter. Freunde holten mich ab. Als ich mich auf der Wache über den Polizisten beschweren wollte, gab es keine Akte zu meinem Notruf. Als hätte das alles nie stattgefunden.«

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Alexander*, 27, Kellner

»Die Olympischen Spiele sind gut für Sotschi, egal, was im Ausland gesagt wird. Ich habe mich als Freiwilliger gemeldet und werde beim Slalom und Super-G mit Skiern die Strecke präparieren. Eigentlich bin ich studierter Anwalt, arbeite aber lieber als Barmann im Hotel. Offiziell, weil ich dort mehr verdiene. Aber der eigentliche Grund ist, dass ich als Schwuler kein erfolgreicher Anwalt sein könnte. Anwälte leben öffentlich. Wer keinen Ring trägt, nicht mal eine Freundin hat, macht sich schon verdächtig.

Kaum einer weiß, dass ich seit sechs Jahren einen Freund habe, mit dem ich in meinem Apartment mit Meerblick wohne. Seit dem Putin-Gesetz reden viele Kollegen über Homosexuelle. Dass sie die Macht übernehmen wollten oder Spitzel des Westens seien. Sie verstehen nicht, dass ich mir meine sexuelle Identität nicht ausgesucht habe. Schon der Gang in den Schwulenclub Majak ist gefährlich. Ein Weg führt an einer Bar vorbei, vor der im Sommer oft Teenager herumstehen. Manchmal schubsen die einen oder brüllen: ›Fuck you, gays!‹ Ich bedecke mein Gesicht und gehe immer allein durch. Im Majak bin ich wie ausgewechselt: Wenn ich etwas getrunken habe, reiße ich mir auch mal das Hemd vom Leib.

Das hätte ich mich in meiner Heimatstadt Wolgograd nie getraut. Wenn meine dortigen Freunde ­Bescheid wüssten, würden sie wohl meine Mutter informieren. Im Westen wird gesagt, dass nach dem Coming-out alles besser wird. In Russland ist es meistens der ­soziale Tod. Und manchmal noch viel schlimmer: Nicht weit entfernt von meinem Elternhaus in Wolgograd wurde im Mai die nackte Leiche eines 23-Jährigen gefunden. In der Zeitung stand: Vier Freunde tranken auf einer Bank Bier. Als einer zugab, dass er schwul sei, begannen zwei, ihn zu verprügeln und zu treten. Sie zogen ihn aus, steckten ihm Bierflaschen in den After. Zwei vollständig, eine weitere teilweise. Dann versuchten sie den bewusstlosen Körper anzuzünden und warfen einen zwanzig Kilo schweren Pflasterstein achtmal auf den Kopf ihres Opfers. Versteht ihr jetzt, warum ich hier weg will?«

Liebe: Unwillkommen in Sotschi!

Andrej, 20, Tätowierer

»Ich bin ein Exot in Adler, dem Stadt­teil von Sotschi, in dem der Olympiapark steht. Weil ich geoutet bin. Und weil ich Piercings trage und meine Haare färbe. Beides zusammen macht den Alltag zur Hölle. Ich weiß nicht, wie oft ich ge­schlagen wurde, weil ich schwul bin. Zuletzt vor zehn ­Tagen nach einer Party. ›Fick dich, Scheißschwuchtel!‹ höre ich fast täglich. Ich hatte blaue Augen, gebrochene Finger, eine gebrochene Nase. Für Putin sind wir Gays die perfekten ­Sündenböcke. Eines Tages wird er uns einlochen. Vielleicht muss ich mich dann verstecken. Ich will auf keinen Fall, dass meine Mutter Probleme bekommt. Sie weinte viel nach meinem Outing. Wenigstens hat sie mich nicht in Therapie geschickt, so wie es Freunden von mir ergangen ist.«

* Namen von der Redaktion geändert

Der Text ist in NEON #02/2014 erschienen. NEON gibt es auch als Emagazine für das iPad.