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Freizeit »Freiheit oder Tod?« – Ein Anruf in Kiew

Freizeit: »Freiheit oder Tod?« – Ein Anruf in Kiew

Die Lage in der Ukraine ändert sich fast stündlich. Per Livestream können wir die Entwicklung der Proteste auf dem Maidan in Kiew verfolgen. Die Aktivistin Lidiya Huzhva, 37, filmt mit ihrem Handy und ihrer kleinen Kamera für die Plattformen ustream.tv und spilno.tv. Eigentlich hatte die Ukrainerin beschlossen, ihr Land zu verlassen, doch dann begann die Revolution. Lidiya ging auf den Maidan und filmte, damit die ganze Welt sehen kann, was dort passiert. Wir haben mit ihr gesprochen.

Lidiya, wo bist du gerade?
Ich sitze in meinem Auto am Parlamentsgebäude in Kiew und warte darauf, was in den nächsten Stunden passieren wird. Die Übergangsregierung soll sich bald bilden.

Du siehst ziemlich müde aus.
Ich habe seit Monaten nicht viel geschlafen. Ich habe Angst etwas zu verpassen. An ein paar Abenden bin ich ins Bett gegangen und dann begann der Sturm auf den Maidan. Ich will dabei sein. Das hält mich wach.

Die Sonne scheint inzwischen auf dem Maidan und die Zeitungen schreiben, es sei ruhiger geworden. Was bedeutet das?
Ruhig heißt: Keine Angriffe der Regierungspolizei, keine Scharfschützen, die in den Fenstern sitzen und auf die Demonstranten schießen. Der Platz ist immer noch besetzt. Die Demonstranten wollen bis zu den Neuwahlen bleiben. In den ersten Tagen hat sich das Kollektiv »Freie Universität Maidan« gegründet. Die Gruppe diskutiert, wie Demokratie in der Ukraine funktionieren könnte. Einige Programmierer versammeln sich in IT-Zelten und erfinden soziale Medien für eine bessere Welt. Andere Gruppen gründen Bürgerinitiativen und Zeitungen. Viele Ärzte und Krankenschwestern helfen den verwundeten Demonstranten. Sie haben immer noch Angst davor, sich in staatlichen Krankenhäusern behandeln zu lassen, weil die Versorgung so schlecht ist und die Polizei sie verhaften könnte.

Auf dem Maidan steht ein Baum, der mit Plakaten behängt ist. Was soll er symbolisieren?
Das ist der Neujahrsbaum. Nachdem Studenten von der Polizei geschlagen wurden, ist die Maidan-Bewegung groß geworden. Die Demonstranten haben spontan begonnen, die Fahnen an den Baum zu hängen. Auf einigen Plakaten steht: »Freiheit oder Tod.« Bis vor ein paar Tagen hingen dort auch Fotos von Julija Timoschenko, aber die hat man abgenommen, weil sie freigelassen wurde. Für sie müssen wir nicht mehr kämpfen.

Es sind auch viele Menschen gestorben. Was ist mit denen passiert?
Viele wurden von Scharfschützen erschossen. Seit kurzem kursieren Gerüchte, dass das keine professionellen Scharfschützen waren, sondern Freunde von Janukowitschs Sohn, der ist Präsident von irgendeinem Schutzverein. Auf den Aufnahmen kann man erkennen, dass die Scharfschützen nicht so aufstehen und liegen wie die professionellen. Die Scharfschützen waren mit sehr teuren Waffen ausgestattet, die die Armee nicht hat.

Hat sich die Gewalt auch auf andere Teile Kiews ausgeweitet?
In einem anderen Viertel wurde am Montag zum Beispiel ein Polizist festgenommen, der die Maidan-Kleidung getragen und in Schaufenster geschossen hat. Das klingt krass, aber solche Sachen passieren gerade. Einige Gruppen versuchen mit allen Mitteln die Maidan-Bewegung zu schwächen.

Warum ist es dir wichtig auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren?
Was in meinem Land passierte, hatte nichts mehr mit einem Rechtsstaat zu tun. Kriminalität wurde zu Macht und Macht zu Kriminalität. Vor Polizisten hatte ich Angst. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Unfall: An einer Bushaltestelle wurde ein Mann von einem Polizeiauto überfahren. Die Polizisten wurden in der Verhandlung freigesprochen. Die Verwandten vom Verstorbenen mussten Strafe zahlen. Das klingt so unheimlich, aber das war ukrainische Realität. Es ist traurig zu sehen, dass Menschen so etwas zulassen. Im vergangen Sommer habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, meine Heimat zu verlassen. Ich wollte nicht mehr in so einer Gesellschaft leben. Ich hatte den Glauben an die Menschen verloren.

Und dann sind die Menschen Ende November auf den Maidan gestürmt…
Ja, sie riskieren ihr Leben für die Freiheit und die Wahrheit. Die Menschen dieser Bewegung helfen sich gegenseitig und stehen füreinander ein. Das will ich unterstützen.

Viele Aktivisten haben mit ihren Kameras gefilmt und alles live ins Internet gestellt. Die Videos unter dem Hashtag #euromaidan haben auf den Plattformen ustream.tv und spilno.tv. über 4 Millionen Menschen gesehen. Welche Bedeutung hat das Livestreaming für die Bewegung?
Wenn du hörst oder in der Zeitung liest, dass jemand geschlagen wird, ist das eine Sache. Wenn du Videos siehst, wie drei junge Leute einen alten Mann mit Füßen treten und mit Stöcken schlagen, wirkt das sofort. Durch das Streaming ist ein großer Teil der Gesellschaft aufgewacht, denn die Scharfschützen wurden gefilmt und die Brutalität der Polizei. Niemand konnte das mehr leugnen. Das waren Tote in live. Bei manchen Streamings konnte man sehen, wie die Polizei Menschen umbrachte hat.

Was war auf deinen Streams zu sehen?
Vor meiner Kamera hat ein Mann geschossen. Es war die letzte große Demonstration vor dem Parlament. Die Regierungskräfte haben versucht, sie zu verjagen. Das war der letzte Versuch, Maidan zu zerstören.

War das für dich gefährlich?
Ich habe Wunden, meine Klamotten sind zerrissen, eine Kamera hat die Polizei kaputt gemacht, eine weitere wurde mir weggenommen. Man hat versucht, mich zu schlagen. Alles live. Ich hatte auch Streit mit einigen Maidan-Leuten, weil manche nicht gefilmt werden wollten, aber das verlief immer ohne Gewalt.

Auf diesem Foto sitzt du in einem Sessel in der Luxus-Datscha Meschigorje vom ehemaligen Staatschef Wiktor Janukowitsch. Das Gebäude ist von Aktivisten besetzt worden. Was haben sie dir erzählt?
Die bewaffneten Besetzer sagen: ›Wir beschützen das Haus, damit hier nicht randaliert wird. Alles muss dem Volk gehören. Später soll hier ein Kinderkrankenhaus eröffnet werden.‹ Ich habe sie gefragt, wie sie sich das vorstellen. Ich glaube nicht, dass an so einem Ort Kinder geheilt werden können. Wir diskutierten. Ich wollte wissen, ob sie wirklich zur Verteidigung der Gegenstände auf die Menschen schießen würden. Einer sagte, die Waffe sei nur zur Selbstverteidigung – nicht, um das Gebäude zu schützen.

Wie war es für dich, Janukowitschs Residenz zu sehen?
Sehr abstoßend. Überall hingen tote Tiere. Füchse. Wildschweine. Eulen. Eichhörnchen. Bärenfelle, Wolfsfelle. Geweihe. Die Besetzer haben mir erzählt, dass Janukowitsch zur Jagd nicht in den Wald ging. Er ließ die Tiere in einer Art Korridor laufen, so dass sie nur noch geradeaus laufen konnten. Er musste einfach nur noch schießen. Ich finde, das Haus muss zerstört werden, weil es so geschmacklos ist.

In der Ukraine herrscht viel Armut, hat dich das Luxusleben von Janukowitsch befremdet?
Wenn man in der Ukraine lebt, ist man sowieso daran gewöhnt, dass sich manche Leute große Autos kaufen können und andere kein Brot haben. Das ist schrecklich, aber wenn ich jeden Tag daran denken würde, würde ich nur weinen.

Wie beurteilst du die beiden Oppositionspolitiker Wladimir Klitschkound Julija Timoschenko?
Timoschenko ist viel klüger. Man kann sagen, Timoschenko ist der einzige Mann in der ukrainischen Politik. Klitschko hat allerdings keine Korruptionsskandale hinter sich. Man sieht ihn allerdings nicht als Politiker. Wir verstehen überhaupt nicht, welche Absichten er hat.

Was wünscht du dir für die Zukunft der Ukraine?
Dass die Menschen wach bleiben und sich die Hilfsbereitschaft der Maidan-Bewegung auf die ganze Ukraine ausweitet.