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Freizeit Sündenbär

Freizeit: Sündenbär

Über Franz-Josef Wagners Urteil in der »Bild-Zeitung« zu schimpfen, ist in der Regel mindestens so dumm wie das Urteil selbst. Ich rege mich heute trotzdem auf.

In einem »Brief« an Conchita Wurst schreibt Herr Wagner: »Die große revolutionäre Führerin gegen das schwulenfeindliche Russland sind Sie für mich nicht. Sie sind eine Kuriosität.« Oh Deutschland, Wunderland der Schwulenliebe, in dem man Conchita Wurst tolerant als Kuriosität bezeichnen kann. Zum Glück sind wir nicht im schwulenfeindlichen Russland, wo man ihr nur fünf von zwölf Punkten gegeben hat, statt wie bei uns sieben. Russland, Herd der Finsternis! Wir gegen die, die gegen uns. Das fortschrittliche Europa hat als neuesten Beweis der eigenen kulturellen Hochherrschaft den russischen Osten gefunden. Russland: Scheiße. Wir: Geil. Party like it’s 1984.

Ich will nicht behaupten, dass es in Russland leicht ist, schwul zu leben. In NEON hatten wir ja vor einer Weile Protokolle von Homosexuellen über ihr Leben in Sotschi, das war alles sehr traurig. Und ich will auch nicht Deutschland-Bashing betreiben, darüber schreiben, dass wir ja wohl alle noch viel größere Hinterwäldler seien, und wie beschissen dieses schreckliche Land sei mit seinen Dörfern und Herdprämien. Es geht mir aber sehr wohl um die Nonchalance, mit der man Russland pauschal dissen darf dieser Tage, unter Beifall des Publikums. Jaha, man muss sich nur mal mit diesem Land schwulenhassender, krimannektierender, pussyriotwegsperrender Arschlöcher vergleichen, unsere Kultur gegen deren Kultur halten, dann sieht man schnell, wer den längeren hat.

Sich auf so einen Vergleich überhaupt einzulassen, sollte eigentlich doch zur sofortigen Disqualifikation führen. Wenn aus Russland Stimmen herüberwehen, die in der Krimannektierung ein Zeichen russischer Stärke sehen, wenn es Russen gibt, die behaupten, der Westen sei dekadent und verkommen, dann kann man dazu zur Antwort eigentlich nur die Schnauze halten. Denn wer spricht da eigentlich? Wessen Stimme weht herüber? Spricht da »Russland«, oder sprechen da Menschen aus Russland? Und zu wem sprechen die? Zu »Deutschland«? Meinen die, wenn sie zu »uns« sprechen, die Leute, die Johnny K. am Alex totschlagen, oder reden die zu Franz-Josef Wagner, oder zu Gesine Schwan, oder zu wem? Zu mir? Zu Conchita? Können Länder überhaupt sprechen, glauben, so-und-so sein? Anders herum: Wenn irgendwer diesen russischen Stimmen im Namen von Deutschland oder gar Europa, dem Westen antwortet, dann will ich dem gerne den Mund verbieten. Der spricht aller-, allerhöchstens für Deutschland minus Alard. Die Aussagen dieser Antworten sind ohnehin absurd: »Wir sind stärker als Russland, weil wir uns nicht mit Russland vergleichen.« Hä?

Über »Russland« zu reden ist genauso blöd, wie über »den Islam« zu sprechen, oder auch »den Westen«. Es ist so rückschrittlich, es bedeutet doch ein Denken, dem wir entwachsen sein wollten. Es gibt sicherlich Leute, die das, was ich hier schreibe, als »Kulturrelativismus« bezeichnen würden, als eine überkommene Weichei-Haltung, die nicht zugeben will, dass es objektiv scheiße ist, Frauen in Burkas zu zwingen, oder eben Schwule auf offener Straße niederzuprügeln und politische Dissidenten in den Knast zu stecken. Kulturrelativismus heißt: Du willst die errungenen Freiheiten »des Westens« nicht verteidigen. Das stimmt nicht. Das sage ich nicht. Burkas und politische Haft sind nicht mein Ding. Burkas sind aber keine Eigenschaft des Islam. Oder politische Haft Eigenschaft der Russen. Beides sind nicht die Eigenschaften von Ländern. Es gibt keinen Nationalcharakter, es gibt ganz sicher keine nationale Kultur mehr. Es gibt nur Menschen, die Dinge tun, glauben, sagen. Politische Systeme, die ihnen die Möglichkeit dazu geben oder sie dazu zwingen.

Es gibt Leute, die sagen: Wenn ich aus Russland höre, der Westen sei dekadent, dann habe ich das Recht zu antworten, vielleicht sogar die Pflicht. Ist das besonders klug? Was ist mit den Russen, die nicht finden, dass der Westen dekadent sei? Was ist mit all den Sachen, die bei uns nicht so toll sind, die einem bei etwa zehn Sekunden Nachdenken einfallen, mit all den Dingen, die schlecht bis schlimm sind bei uns, soll man die verschweigen, wenn man antwortet? Wenn jemand für uns antwortet, wir seien nicht dekadent, sondern fortschrittlich, denkt der dann an »die Österreicher«, die einen starken Führer wollen, die brennenden Städte in England, die Flüchtlinge, die wir in erbärmlichen Quartieren auslagern, aussperren? Sind das dann nicht »wir«? Wovon, zum letzten Mal und zum Teufel, reden »wir« eigentlich, wenn wir vom schwulenfeindlichen Russland reden? Von Thomas Hitzlsperger?

Die russische Propaganda, höre ich von Leuten, die das wissen, funktioniert wirklich gut. Es gibt, heißt es, sehr viele Leute, vielleicht eine Mehrheit in Russland, die wirklich glaubt, dass der Westen verkommen sei. Ich finde, jede Stimme, die solchen Behauptungen antwortet, die sagt: nicht wir sind verkommen, ihr seid es, ist zuoberst ein Beweis dafür, dass unsere Propaganda genauso gut funktioniert. Eine gesunde Kultur braucht keinen an die Wand gemalten Teufel, um sich ihrer eigenen Heiligkeit zu versichern. Eine gesunde Kultur weiß eigentlich, dass es den Teufel nicht gibt, nur teuflische Menschen, sie weiß, dass es gefährlich ist, in Nationen, Völkern, Dominanz und Dekadenz zu denken. Es ist nicht verboten, über Verschiedenheiten nachzudenken, aber die in moralische Farben zu kleiden, ist extrem heikel. Alles, was Leute wie Herr Wagner erzielen, ist Zwietracht sähen, neue Grenzen in den Köpfen ziehen, neu behaupten, dass es kulturelle Überlegenheit gibt, Vorwände für Dünkel, Überheblichkeit und Rechteentzug zu schaffen.

Jeder, der russischen Stimmen über den Niedergang des Westens antwortet, gibt ihnen unfreiwillig schon Recht.