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Freizeit 50 Shades of Kale: Der Grünkohl-Trend

Freizeit: 50 Shades of Kale: Der Grünkohl-Trend
Jasmin Schlieker, 31, ist Ökotrophologin und arbeitet als Ernährungsberaterin in Hamburg.

Die Amerikaner – genauer: die hippen, trendaffinen, gesundheitsbewussten New Yorker und andere Großstädter – haben den Grünkohl entdeckt.

Leider nicht in der deutschen Variante, also als deftige Hausmannskost, stundenlang gekocht und mit Wurst und Gänseschmalz verfeiert. Nein, in den USA kommt Grünkohl gerne roh auf den Tisch, die zähen, sehr festen, gekräuselten und ziemlich bitteren Blätter werden als Salat serviert, in Smoothies geworfen, statt Chips gegessen und in allen möglichen weiteren Gerichten verarbeitet. (Die beklopptesten Beispiele werden hier aufgelistet).

Grünkohl ist in den USA derzeit ein größerer Heilsbringer als Yoga, Pilates und glutenfreies Mehl zusammen, es wird als das gesündeste Lebensmittel der Welt gefeiert, das gegen Krebs, Diabetes, Demenz, Depression helfen soll und wahrscheinlich auch für den Weltfrieden sorgen wird. Seine Anhänger, die sich auch »Kalevangelists« nennen, tragen T-Shirts mit Grünkohl drauf, sie massieren Grünkohl, sie kaufen Kochbücher namens »50 Shades of Kale« und unterschreiben eine Petition, mit der sie fordern, einen Nationalen Grünkohltag einzuführen. Und aktuell verfallen sie in Panik, weil eine weltweite Kohl-Knappheit drohen könnte.

Freizeit: Michelle Obama schlürft einen Grünkohl-Shake.
Michelle Obama schlürft einen Grünkohl-Shake.

Spinnen die Amerikaner? Oder haben sie Recht? Ist roher Grünkohl wirklich so gesund? Ein Interview mit Jasmin Schlieker, Ernährungsexpertin, über Grünkohlknappheit, das Revival der Pastinake und Maikäfersuppe.

Frau Schlieker, viele junge, coole Frauen und Männer essen in letzter Zeit »Kale« – rohen Grünkohl. In Deutschland kannte man bislang eigentlich nur »Grünkohl mit Pinkel«, also gekocht und mit Wurst. Ist das nicht viel gesünder?

Ja und Nein. Die Zugabe von etwas Fett zu Grünkohl ist wichtig, weil unser Körper die darin enthaltenen Carotinoide nur aufnehmen kann, wenn Fett mitgegessen wird. Andererseits ist die Wurst zu fettig. Sie enthält vor allem gesättigte Fettsäuren, die dem Herz-Kreislaufsystem schaden können. Besser wäre es eigentlich, den Grünkohl mit ungesättigten Fettsäuren zu essen, die in großen Mengen in Pflanzenölen, Nüssen und fettreichen Fischen wie Makrele oder Lachs vorkommen.

Ist das gefährlich, zuviel Rohkost ohne Fette zu sich zu nehmen?

Zu viel Rohkost kann man eigentlich gar nicht essen. Ein Zuviel an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen scheidet der Körper einfach wieder aus. Die Zugabe von Fett ist aber wichtig, damit der Körper die fettlöslichen Vitamine A, D, E und K aus der Nahrung auch aufnehmen kann.

Vor ein paar Jahren kam Rucola auf – vormals als Rauke bei unserer Oma auf dem Speiseplan und im Garten –, danach wanderte Bärlauch – vormals Arme-Leute-Knoblauch genannt ­– von den Wiesen auf den Tisch. Wie erklären Sie sich die überraschende Beliebtheit von Grünkohl?

Grundsätzlich entstehen solche Trends in der Ernährung und Kulinarik besonders von den Wünschen der Verbraucher beeinflusst. Es gibt zur Zeit einen regelrechten Boom hinsichtlich vegetarischer und veganer Ernährung. Sie spielen auf Rauke und Bärlauch an, vergessene Lebensmittel, die nach langer Zeit wieder einen Hype erfahren und wieder Einzug in unsere Kochtöpfe halten: Pastinaken, Steckrüben und Schwarzwurzeln sind auch solche Beispiele. Ebenfalls angesagt ist es, auf regionale, saisonale und biologisch erzeugte Produkte zu setzen. Grünkohl vereint also gleich mehrere Essenstrends auf sich: Er ist ein veganes, vergessenes und regionales Lebensmittel.

Es gibt schon eine Grünkohl-Knappheit!

Das liegt daran, dass Grünkohl ein klassisches Wintergemüse ist. Es gibt aber bereits Züchtungen, die ab September geerntet werden können.

US-Schauspielerinnen tragen T-Shirts, auf denen »KALE« steht, grünes Smoothies sind in, Michelle Obama schlürft Grünkohl-Shakes, es gibt Bücher, die Grünkohl als »das gesündeste Lebensmittel der Welt« anpreisen. Wie kann so ein schnödes Gemüse wie Kohl so einen Glamourfaktor bekommen?

Schon vor dreißig Jahren wurde auf Frauenzeitschriften mit der Ananas-Diät, Gurken-Abspeck-Kur oder ähnlichem geworben. Es ist so schön einfach, den Menschen zu versprechen, wenn ihr nur viel von diesem Lebensmittel esst, werdet ihr schlank, schön und gesund werden. Natürlich kann man mit einer kalorienreduzierten Diät, die etwa viele Rezepte mit Gurken liefert, gut abnehmen – zeitlich begrenzt. Danach sollte man wieder ausgewogen essen. Generell sollte man sich gesund, ausgewogen und möglichst natürlich ernähren. Diese Empfehlung klingt allerdings nicht so ansprechend und verkauft sich auch nicht so gut wie »Grünkohl – das gesündeste Lebensmittel der Welt«. Obwohl ich zugeben muss, dass Grünkohl wirklich ein sehr gesundes, vitalstoffreiches Gemüse ist.

Was für eine Halbwertszeit haben solche Trends?

Essentrends verschwinden nicht unbedingt wieder. Der Trend, sich vegetarisch zu ernähren, steigt zum Beispiel stetig an. Der große Hype um Sushi, als alle nur noch rohen Fisch auf Reis essen wollten, hielt etwa zwei Jahre an. Zur Zeit sprießen Burger-Läden, die qualitativ hochwertiges Fleisch zwischen Brötchenhälften anbieten, aus dem Boden. Menschen sind neugierig, auch kulinarisch.

Was sagt das über unsere Zeit aus?

Das zeigt, dass sich unser Geschmack schnell ändert. Wir ständig Lust haben, Neues auszuprobieren und von Altem rasch gelangweilt sind.

Was kommt nach dem Grünkohl?

Wer weiß, vielleicht essen wir bald alle marinierte, gegrillte oder geröstete Insekten. Die sind sehr eiweißreich und dienen besonders in Entwicklungsländern der Nahrungsaufnahme. Übrigens wäre das ein Trend, der auch schon früher Anklang fand. Im 19. Jahrhundert war zum Beispiel Maikäfersuppe in Deutschland ein beliebtes Rezept.

Text: Judith Liere, Interview: Nora Reinhardt