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Politik »Wenn ISIS sich einnistet, haben wir den ersten dschihadistischen Staat der Welt!«

Politik: »Wenn ISIS sich einnistet, haben wir den ersten dschihadistischen Staat der Welt!«

Täglich ändert sich die Lage im Irak: Inzwischen hat die terroristische Gruppe »Islamischer Staat im Irak und Syrien« wohl ein Chemiewaffen-Lager der irakischen Regierung unter Kontrolle. Wir haben mit Peter Neumann, dem Direktor des internationalen Zentrums zum Studium der Radikalisierung, über die terroristische Gruppe ISIS und ihre Popularität gesprochen.

Die terroristische Gruppe »Islamischer Staat im Irak und Syrien« hat inzwischen große Teile im Irak erobert. Das nach einer plötzlichen Aktion aussah, war aber wahrscheinlich lange geplant?

ISIS gibt es nicht erst seit ein paar Wochen. Der Extremist Abu Musab al-Sarkawi gründete al-Qaida im Irak. Im Jahr 2006 hat sich die Gruppe umbenannt in »Islamischer Staat von Irak«. Als im Jahr 2011 die Kämpfe in Syrien begannen, hat sich die Lage im Irak entspannt. Deshalb gingen viele Extremisten nach Syrien. Dort ist die Gruppe schnell gewachsen. Im April 2013 haben sie sich den Namen ISIS gegeben. Die Grenzen hatten keine große Bedeutung mehr, denn das langfristige Ziel ist ein regionales Kalifat. Der Irak, Syrien, Jordanien und der Libanon wären Teil davon. Das Ziel wäre es, Jerusalem zu »befreien«. Geschätzt hat ISIS etwa 10 000 Mitglieder.

Warum ist ISIS so aktiv bei Twitter? Ist das ein Krieg der Informationen?

Unser Institut hat eineDatenbank mit einer Sammlung von 350 Profilen von Auslandskämpfern aus England, Deutschland, Australien oder den USA. Die Profile sind meistens nicht von ISIS gesteuert. Die Profile pflegen die Kämpfer selbst, weil sie das vorher in ihrer Heimat auch getan haben. Das sind westliche Leute, die sind um die zwanzig Jahre alt und posten von Syrien aus einfach weiter. Sie verraten auch Sachen auf ihren Facebook-Profilen, bei denen man sich fragt, ob ISIS das so recht ist. Auf den Seiten werden meistens die guten Sachen gezeigt und nicht die problematischen.

Panzer und Waffen, was teilen sie bei Facebook oder Twitter?

Beides. Die Beiträge verraten viel darüber, wer tatsächlich als Kämpfer nach Syrien geht und was die Leute dort machen. Mit einigen schreiben wir fast täglich, mit anderen über mehrere Monate. Am Anfang wollen sie ihre Propaganda verbreiten, später werden die Geschichten ehrlicher: Sie schreiben zum Beispiel, dass sie es gar nicht so toll in Syrien finden oder »Die Syrer wollen uns hier gar nicht.«

Was unterscheidet ISIS von anderen al-Qaida Ablegern?

Al-Qaida hat verschiedene regionale Einheiten. Aqium in Nordafrika, al-Shabaab in Somalia. Im Irak wurde al-Qaida in der zweiten Hälfte der 2000er relativ unpopulär, weil die Organisation aus dem Ausland kam. Außerdem waren vieleKämpfer Ausländer. Deswegen hat man sich umbenannt. ISIS unterscheidet sich von anderen dschihadistischen Gruppen, zum Beispiel Jabhat al-Nusra, die in Syrien kämpfen. Jabhat al-Nusra ist der offizielle al-Qaida-Ableger, aber die wollen nur Assad töten. ISIS hingegen will einen Staat gründen, expandieren und vielleicht wird Assad dann auch irgendwann fallen. Strategisch ist das ein anderer Ansatz.

Jetzt gibt es diesen Staat, was bedeutet das?

ISIS hält bestimmte Gebiete im Irak und Syrien. In der Stadt ar-raqqa im Osten von Syrien ist das Hauptquartier. Das halten sie seit über einem Jahr. In der Stadt gibt es eine ISIS-Polizei, einen ISIS-Verbraucherschutz, ein ISIS-Gericht. Das ist sehr wichtig, weil die Scharia umgesetzt werden muss.

Warum hat ISIS diesen Zeitpunkt gewählt?

Es kamen unterschiedliche Faktoren zusammen. Zum einen war es die sehr aggressive Politik der Irakischen Regierung im Laufe des letzten Jahres, die zur Ausgrenzung der Sunniten geführt hat. Zum Beispiel hat der irakische Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki seinen eigenen Vize-Präsidenten verhaften und ins Gefängnis werfen lassen, weil er Sunnit ist. Dann wurden die Sunniten in der Armee gekündigt. Das wollen die Sunniten sich nicht mehr gefallen lassen. Die konfessionellen Gräben vertiefen sich. Außerdem war ISIS auf der Syrischen Seite sehr erfolgreich, dadurch wurden sie selbstbewusster und selbstbewusster. Die Gruppe hat auch Wurzeln im Irak. So bot sich eine Möglichkeit über die Grenze zu gehen und Territorium zu gewinnen. Das hat auch im Irak viele überrascht. Ich glaube, dass ISIS in der Stadt Mossul Unterstützung von Leuten hatte, die nicht unbedingt extremistisch sind. Da wären zum Beispiel ehemalige Saddam Hussein Anhänger und seine ehemaligen Soldaten. Darin liegt auch die Quelle für Konflikte in der Zukunft. Ich glaube, dass viele Leute, die beim Einmarsch mitgewirkt haben, nicht die ideologische Agenda von ISIS unterstützen. Wir haben das in den letzten Wochen schon gesehen: In Mossul versuchten einige Leute Poster von Hussein aufzuhängen. ISIS ist sofort eingeschritten. Nicht alle, die den Sieg von ISIS bejubeln, haben die extremistische Agenda.

Warum kämpfen junge Leute aus England oder Deutschland mit?

Wir schätzen, dass 11 000 Ausländer im Laufe der letzten drei Jahre in Syrien waren. Viele davon haben mal drei Wochen gekämpft und sind dann zurück in ihre Heimat gegangen oder in ein anderes Land. 80 bis 90 Prozent der Extremisten aus Deutschland oder England schließen sich ISIS an. Die Deutschen aus Dinslaken zum Beispiel, die sind auch bei ISIS.

Was macht ISIS so attraktiv?

Sie sind sehr aktiv, was die Propaganda in europäischen Sprachen betrifft. Sie sind sehr stark im Internet vertreten. Wenn man sich für Extremismus interessiert, dann könnte man den Eindruck bekommen, es gibt eigentlich nur ISIS. Außerdem ist ISIS eine Gruppe, die jeden aufnimmt. Die dschihadistische Organisation Jabhat al-Nusra zum Beispiel machen zuerst einen Charaktertest und dann schauen sie, ob sie die Leute überhaupt brauchen. Viele Europäer werden dann abgelehnt, weil sie keine militärische Erfahrung haben. ISIS ist viel liberaler.

Richtet sich die Propaganda gezielt an Leute aus Europa?

Nein, nicht hauptsächlich. Die Mehrheit der Kämpfer kommt aus arabischen Ländern, den Golfstaaten, aus Libyen oder Tunesien. Die Europäer fallen aber mehr auf, weil sie anders aussehen und nicht arabisch sprechen.

Hat ISIS Ausbildungslager, in denen neue Kämpfer trainiert werden?

Das kann man nicht so einfach sagen. Die Ausländer werden auf den Basen von ISIS ausgebildet. Wenn man nach Syrien geht, übernachtet man erst ein paar Nächte in einem Grenzort. Dann kommt man in ein Lager und wird nach ein paar Tagen an einen anderen Ort geschickt. Allerdings geht nicht jeder nach Syrien um dort zu kämpfen. Wenn jemand zum Beispiel in Deutschland als KFZ-Mechaniker gearbeitet hat, dann ist das etwas sehr Nützliches. Statt an die Front zu gehen, kümmert die Person sich um die Autos.

Kämpfen auch Frauen?

Man hört immer öfter Geschichten von Frauen, die nach Syrien gehen, ohne verheiratet zu sein. Einige Frauen sagen auch, dass sie kämpfen wollen, aber ich habe noch nicht gehört, dass sie das tatsächlich gemacht hätte. Viele Frauen kochen oder versorgen die Verletzten.

Wenn Frauen den Krieg unterstützen, widerspricht das nicht der Scharia?

Nein, wenn sie verheiratet sind nicht. Frauen, die alleine nach Syrien kommen, heiraten meistens nach zwei oder drei Wochen einen Kämpfer.

Wie legt ISIS die Scharia aus?

Das ist die saudische-al-Qaida Interpretation. Diese Auslegung gefällt vielen Irakern nicht. Interessant wäre zum Beispiel herauszufinden, ob ISIS inzwischen verboten hat, die Weltmeisterschaft zuschauen. Das wäre gegen die Regeln. Musik, Kino, rauchen, all das müsste verboten werden. Da haben viele Leute keine Lust drauf. Wer einmal im Irak oder in Syrien war, weiß: ungefähr 98 Prozent der männlichen Bevölkerung rauchen Kette. Es wäre eine große Aufgabe das zu verbieten.

Welche Bedrohung geht von den Kämpfer aus?

Wenn ISIS sich im Irak einnisten, ihre Autorität verteidigen und ihre Territorien halten, dann haben wir den ersten Dschihadistischen-Staat der Welt. Dann könnte es sein, dass sie, wie die Taliban, Terroristen aus aller Welt zur Ausbildung einladen, damit sie dann in die USA oder nach Deutschland zurückkehren und dort Operationen ausführen. Das ist eine strategische Gefahr und eine menschenrechtliche Katastrophe.

Was würde passieren, wenn ISIS Bagdad einnehmen?

Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Bagdad ist eine mehrheitlich schiitische Stadt. Mossul war möglich, weil niemand damit gerechnet hat. Der irakische Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki hat inzwischen die Schiitische Milizen, die sehr aggressiv sind, mobilisiert, außerdem iranische Berater, die auch Assad geholfen haben. In Bagdad werden alle kämpfen, wenn richtig gekämpft wird, hat ISIS keine Chance, weil sie numerisch unterlegen sind.

Foto: Stringer / Reuters