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Politik »Meine Hände sind nicht frei von Blut«

Politik: »Meine Hände sind nicht frei von Blut«
Avner Gvaryahu, 29, lebt in Tel Aviv und hat von 2004 bis 2007 als Fallschirmjäger in der israelischen Armee gedient. Während der zweiten Intifada (2000-2005) war er im Westjordanland und im Gazastreifen im Einsatz. Jetzt ist er Teil des Projekts »Breaking the Silence«, bei dem ehemalige israelische Soldaten die Bevölkerung mit Fotoausstellungen, Touren und Vorträgen über Kriegseinsätze aufklären.

Die Welt schaut nach Gaza, wo der israelisch-palästinensische Konflikt tobt. Avner Gvaryahu, israelischer Ex-Soldat, ist Mitglied bei »Breaking the Silence«, einer Organisation, die das harte Vorgehen ihrer Regierung und die Besetzung palästinensischer Gebiete kritisiert. Im Interview erzählt Avner, wie es ist, das Haus einer palästinensischen Familie einnehmen zu müssen.

Avner, der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hält schon seit über sechzig Jahren an, immer wieder gibt es Kriege und Kämpfe. Zynisch gefragt: Tritt irgendwann ein Gewöhnungseffekt ein?
Ja, das ist ja das Traurige. In Israel soll die Bevölkerung den Eindruck bekommen, dass alles gut ist, wenn kein Militäreinsatz gegen die Hamas läuft. Aber nichts ist gut. Der Gewöhnungseffekt kommt daher, dass der israelische Staat sein Volk davor abschirmt, was in Gaza und im Westjordanland passiert; mit Mauern, mit technologischen und psychologischen Mitteln. Die Palästinenser hingegen können es nicht ignorieren, denn es ist trauriger Teil ihres Alltags. Israel ist eine Besatzungsmacht, die die Palästinenser kontrolliert. Sie sind durch Mauern und Grenzen von Israel abgekapselt und haben keinen eigenständigen, unabhängigen Staat Palästina. Dieser Schwebezustand ist seit Jahrzehnten die Realität der Menschen dort. Wir Israelis können diese Realität ganz gut unterdrücken, aber nur, solange wir keinen hohen Preis dafür zahlen müssen. Beim jetzigen Militäreinsatz beginnen wir ihn aber zu zahlen: Tote, Verletzte. Das ist ein Albtraum! Wir hören nachts im Schlaf Raketen über uns fliegen. Ständig tönen die Sirenen. Jeder hat Angst. Das ist natürlich kein Vergleich zur Situation der Palästinenser. Ich will aber sagen: Man muss in der Lage sein, sich in beide Seiten hineinzuversetzen und mit ihnen mitzufühlen.

Du bist Mitglied bei »Breaking the Silence«, bei der ehemalige israelische Soldaten die eigene Bevölkerung über die Militäreinsätze und Belagerungen in den besetzten Gebieten aufklären. Was ist euer Ziel?
Wir sprechen uns geschlossen gegen die Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens aus. Eine Militäroperation ist nichts Angenehmes, Ehrwürdiges oder Schönes. Es ist nichts, worauf man stolz sein sollte. Belagerung und Krieg sind eine hässliche Realität, vor der niemand die Augen verschließen darf. Wir wollen der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und sagen: »Seht, was wir in eurem Namen tun mussten«. Es soll eine öffentliche Debatte entstehen.

Wie macht ihr das?
Vor zehn Jahren hat eine Gruppe ehemaliger israelischer Soldaten eine Fotoausstellung auf die Beine gestellt, mit Fotos, die sie während ihres Dienstes im Westjordanland geschossen hatten. Die Reaktionen darauf waren überwältigend. Tausende von Besuchern kamen, fast alle Medien berichteten darüber. Die Ausstellung hatte einen Nerv getroffen. Das war die Geburtsstunde unseres Projektes. Auch heute noch sammeln wir Bilder und Geschichten ehemaliger Soldaten und machen sie der Bevölkerung zugänglich. Diese Geschichten nutzen wir als Werkzeuge des Wandels. Wir halten auch Vorlesungen, aber was noch wichtiger ist: Wir nehmen unser Publikum mit zu Orten, in denen wir gedient haben. Im Süden des Westjordanlandes führe ich Gruppen herum, zeige ihnen meine Einsatzorte und erzähle die Geschichten dazu.

Finden die Touren auch im Gazastreifen statt?
Nein, seit etwa acht Jahren dürfen keine Israelis mehr in den Gazastreifen. Im Jahr 2005, nach dem Ende der zweiten Intifada, hat Israel alle seine Siedler aus Gaza herausgeholt. Wir bieten unsere Touren nur im Westjordanland an.

Am 26. und 27. Juli gingen Bilder tausender Demonstranten in Tel Aviv um die Welt. Beteiligst du dich an diesen Protesten gegen die Militäroffensive in Gaza?
Ja, aber das würde ich nicht Demonstration nennen. Mit unserer Organisation »Breaking the Silence« veranstalten wir öffentliche Lesungen. Letztens erst haben wir im Zentrum von Tel Aviv Berichte von Ex-Soldaten vorgelesen. Hunderte haben sich das angehört. Wir haben damit aber auch sehr viele Leute wütend gemacht.

Was ist passiert?
Als Reaktion auf unsere Lesung gab es gewaltsame Gegendemonstrationen. Die Demonstranten haben »Tod den Arabern, Tod den Palästinensern« skandiert.

Wie gehen israelische Medien mit dem Konflikt um?
Puh. Generell machen die Medien hier Journalismus für eine offene, demokratische Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit herrscht. Trotzdem gibt es Selbstzensur. Zeitungen, Fernseh- und Radiosender wollen konträren Meinungen keine Plattform bieten. Es scheint, als wolle man jede ernsthafte öffentliche Debatte über diesen Konflikt vermeiden.

Politik: »Meine Hände sind nicht frei von Blut«

Wie ist es, in der israelischen Armee zu sein?
Ich bin damals nicht nur eingetreten, weil der Wehrdienst in Israel Pflicht ist, sondern weil ich so erzogen wurde. Ich muss der Gesellschaft, zu der ich gehöre, etwas zurückgeben. Ich war 18, als ich eingezogen wurde. Vorher hatte ich mich noch nie mit einem Palästinenser unterhalten. Dabei verbindet Israelis und Palästinenser doch so viel. Sie leben Seite an Seite, seit Jahrzehnten, und wissen doch eigentlich nichts voneinander, weil sie nicht miteinander kommunizieren können. Vor meiner Armeezeit hatte keine Ahnung gehabt, was in den besetzten Gebieten passiert.

Was passiert dort?
Bei meinem ersten Einsatz haben wir eine Aktion durchgeführt, die sich »Straw Widow« (Strohwitwe) nennt. Dabei besetzen Soldaten ein Privathaus, meist in strategischer Lage, und nutzen das für Militäraktionen. Zum Beispiel als Aussichtspunkt. Ich meine, da sind junge Befehlshaber, 18 oder 19 Jahre alt. Die bestimmen dann, in welches Haus sie wann eindringen und wie lang sie dort bleiben. Sie tun das, ohne die Bewohner um Erlaubnis zu bitten. Im ersten Haus, das ich mitbesetzt habe, lebte eine Familie. Wir drangen mitten in der Nacht ein, weckten die ganze Familie auf, sperrten sie in einen Raum und übernahmen die Kontrolle über das Haus. Sie konnten Küche und Bad nicht benutzen, konnten das Haus nicht verlassen, konnten nicht zur Arbeit oder zur Schule gehen. Das war meine erste Begegnung mit Palästinensern.

Wie hat sich das angefühlt?
Man spürt diese Macht und hat unbeschränkte Kontrolle. Das ist erschreckend. Wenn ein Palästinenser mich auch nur schief angesehen hätte, ich hätte ihm Hände und Augen verbinden und ihn sogar verhaften lassen können. Diese Macht gehört zur Natur einer solchen Besetzung. Klar gibt es dann Palästinenser, die Widerstand leisten. Es gibt leichten Protest, etwa bei Grenzkontrollen den Ausweis nicht rausrücken zu wollen. Und es gibt gewalttätigen Protest, der mit Steinewerfen beginnt und zum Raketenwerfen übergeht.

Findest du es berechtigt, dass die Hamas Israel beschießt?
Nein, auf keinen Fall! Das ist kein legitimer Widerstand, und ich verachte jede Form von Gewalt. Aber wir müssen einsehen, dass diese Besetzung Konsequenzen hat, und dass die Art, wie wir mit den Palästinensern umgehen, Hass und Feindlichkeit schürt.

Politik: »Meine Hände sind nicht frei von Blut«

Wann kam bei dir das Umdenken?
Als ich bemerkte, dass meine Freunde in meiner Einheit sich veränderten, und dass ich mich veränderte. Die erste Hausbesetzung hat mich noch schockiert. Irgendwann wurde es mir egal. Ich merkte, dass ich jegliche Hemmung und Menschlichkeit verlor.

Hast du Menschen getötet?
Ich bin sehr glücklich, dass ich das sagen kann: Nein, ich habe noch keinen Menschen selbst getötet. Andere Soldaten aus meiner Einheit haben Menschen umgebracht, bei Gefechten. Meine Hände sind aber nicht frei von Blut, denn ich war Unteroffizier für ein Team von Scharfschützen. Dafür trage ich Verantwortung.

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