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Freizeit Platzverweis

Freizeit: Platzverweis
Dieser Text ist in der Ausgabe 08/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.

Vorne zu den Cineasten? In die letzte ­Reihe zum Knutschen? Oder doch: mittig im Mainstream? Um den perfekten Kinositzplatz wird gestritten, seit es das Kino gibt. Das ist jetzt vorbei.

Text: Lisa Goldmann

Der Ärger beginnt an der Kinokasse, mit der unschuldigen Frage des Kartenverkäufers: »Wo möchten Sie sitzen?« Ja, wo nur? »Weit vorne, sonst seh ich wieder nichts«, ruft das 1,60 Meter große Mädchen. »Da krieg ich Nackenstarre!«, protestiert ihr Freund. »Am Rand«, fordert der Typ, in dessen Rucksack die Bierflaschen verräterisch klimpern. Und während die Gruppe um einen räumlichen Kompromiss ringt, wächst die Kassenschlange, die ersten Besucher beginnen zu murren. Ach, ­wäre man doch zu Hause geblieben, beim 60-Zoll-3D-Fernseher und den 5.1-Boxen. Die immer besser werdenden ­Heimkinoanlagen und Streamingdienste haben unsere ­Ansprüche wachsen lassen, wir erwarten freie Sicht, Beinfreiheit und perfekte Bild- und Tonqualität. Die schlechte Nachricht ist nun: Der ideale Sitzplatz existiert nicht. Die gute Nachricht lautet: Es gibt einige Plätze, die dem Ideal verdammt nahekommen, je nachdem, welcher Film läuft und was man sonst noch so vorhat.

Reihe 1, leicht links versetzt
FÜR: Cineasten, für die Kunst das Leben ersetzt, und die am liebsten in das Filmwerk hineinkriechen wollen. Hier saßen in den 50er und 60er Jahren angeblich schon die Filmgötter der Zeitschrift ­»Cahiers du cinéma«, zu denen auch Truffaut, Godard und Chabrol zählten.
PERFEKTER FILM: »Histoire(s) du cinéma«, der endlose von Jean-Luc Godard; »Die geliebten Schwestern« (2014) – der neue Kostümfilm von Dominik Graf.

Reihe 4, mittig
FÜR: 3D-Fans. Je weiter man in die Ferne blickt, desto schwächer wird die räumliche Wahrnehmung. Das gilt auch fürs Kino, wo für den 3D-Effekt zwei Projektoren zwei Bilder im Abstand der Augen auf die Leinwand projizieren. Robert Neuman, Stereoskopiespezialist bei den Disney Animation Studios, empfiehlt deshalb, unbedingt im vorderen Drittel zu sitzen.
PERFEKTER FILM: »Gravity« (2013) – wunderbares Weltall; »Planet der Affen: Revolution« (2014).

Reihe 5, mittig oder leicht versetzt
FÜR: Adleraugen. Die Bildauflösung in vielen Kinos entspricht mittlerweile dem 4K-Standard (bis zu 4096 Pixel in der Breite). »Eine so hohe Auflösung kann das menschliche Auge nur bis zu einem Abstand von etwa der zweifachen Leinwandhöhe wahrnehmen«, sagt ­Harald Brendel, leitender Ingenieur bei Arri. In den meisten Kinos entspricht das dem vorderen Drittel.
PERFEKTER FILM: »La grande ­bellezza« (2013) – jede Einstellung ein Gemälde.

Reihe 9, Platz 10
FÜR: Harmoniebedürftige. Die meisten Menschen empfinden es als angenehm, wenn die Leinwand das Blickfeld fast vollständig ausfüllt – so kann man den Film sehen, ohne den Kopf drehen zu müssen. Dieser Platz ist so weit von der Leinwand entfernt, wie diese breit ist – meist eben in der Mitte des Kinosaals.
PERFEKTER FILM: »Monsieur Claude und seine Töchter« (2014) – nette Komödien aus Frankreich gehen immer.

Reihe 10, mittig
FÜR: Opportunisten. Bei harmlosen Mainstreamkomödien hilft nur eins: ab in die Mitte und sich von der albernen Stimmung um einen herum anstecken lassen.
PERFEKTER FILM: »A Million Ways to Die in the West« (2014); »Eyjafjallajökull« (2014).

Reihe 12, ganz am Rand
FÜR: Nervenschwache. Der Immersionseffekt des Kinos ist hier am schwächsten. Es ist einfacher, Distanz zum Film­geschehen aufzubauen. Außerdem wird einem hier bei Handkameraaufnahmen nicht so leicht schlecht.
PERFEKTER FILM: »The Blair Witch Project« (1999); »The Raid 2« (2014) – schnell geschnittene Kampfkunst vom Feinsten.

Letzte Reihe, mittig
FÜR: Menschen, die nicht wegen des Films hier sind: knutschende Paare. Scherzkekse, die gerne mit Popcorn werfen (aber komischerweise selbst gar nicht so gern beworfen werden).
PERFEKTER FILM: »Step Up: All In« (2014) – da muss man wirklich nicht zuschauen.

Letzte Reihe, ganz am Rand
FÜR: Angehende Filmkritiker. Roger Ebert, der US-Kinopapst, der das gnadenlose »Daumen rauf/Daumen runter«-Prinzip einführte, liebte diesen Platz, weil ihm niemand über die Schulter in die Notizen schauen konnte. Außerdem musste er, wie er zugab, mindestens einmal pro Film aufs Klo.
PERFEKTER FILM: »La dolce vita« (1960) – Eberts Lieblingsfilm.