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Freizeit Couchbedürfnisse

An einem Abend im Herbst sitzt der Kinderarzt in seiner Praxis, letzte Sprechstunde, der Nächste, bitte. Eine Motte kommt herein.

»Guten Abend, Herr Motte. Wo drückt der Schuh?«
»Wo drückt der Schuh?«, fragt die Motte erstaunt. »Na, wo soll ich anfangen? Also, jeden Tag gehe ich zur Arbeit bei Dimitrij Alfejowitsch. Jeden Tag, den ganzen Tag. Seit zwanzig Jahren. Und ich weiß ehrlich gesagt garnicht mehr, was ich da soll. Ich glaube sogar, dass Dimitrij Alfejowitsch das gar nicht mehr weiß. Aber er hat Macht über mich, und das scheint ihn glücklich zu machen. Aber ich weiß nicht. Ich wache auf und komme kaum noch aus dem Bett morgens. Es fällt mir sehr schwer.«
»Ah ja?«, sagt der Arzt.
»Ja«, sagt die Motte. »Und wissen sie, manchmal wache ich nachts auf, und drehe mich zur Seite, und da liegt dann eine alte Frau. Sie kommt mir fremd vor, aber ich weiß, dass ich sie einmal geliebt habe. Das ist meine Frau, Olga. Ich weiß nicht, wann alles angefangen hat, schief zu gehen. Vielleicht ist es, dass unser jüngster Sohn, Fjodor, im letzten Winter erfroren ist, wie so viele von uns. Oder, dass mein anderer Sohn, Vladimir… Oh, das ist die bitterste Pille. Vladimir… Ich liebe ihn nicht mehr. Alles, was ich sehe, wenn ich ihn ansehe… ist dieselbe Feigheit, die ich in meinen eigenen Augen sehe, wenn ich mich im Spiegel betrachte. Wenn doch… Wenn doch meine Feigheit nur noch größer wäre, so groß, dass ich vor dem Leben endlich davonlaufen könnte, endlich die geladene Pistole ergreifen… Statt diese höllische Fassade weiter aufrecht erhalten zu müssen. Herr Doktor, manchmal… manchmal fühle ich mich wie eine Spinne, obwohl ich eine Motte bin… Wie eine Spinne, die in ihrem Netz hängt, und darunter hat jemand ein Feuer angezündet. Es ist, als…«

Der Arzt kann nicht mehr, er unterbricht die Motte. »Herr Motte, entschuldigen Sie. Sie haben offensichtlich große Probleme. Es geht ihnen nicht gut. Aber wissen Sie, das sind alles Probleme für einen Therapeuten. Sie müssen zu einem Psychiater. Ich bin Kinderarzt. Warum kommen Sie damit zu mir?«
»Nun«, sagt die Motte irritiert, »das Licht war an.«

Für die nächste Ausgabe von NEON wollen wir von euch wissen: