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Liebe Der öffentliche Schmerz

Liebe: Der öffentliche Schmerz
Kati leidet am Boderlinesyndrom und teilt alle Details ihrer Krankheit im Netz. Ist das eine gute Idee?

Text: Teresa Fries | Foto: Basti Arlt

Manchmal hat man das Gefühl, dass Kati sich selbst ernst nimmt, wenn sie unter dem Namen @KatiKuersch twittert. Ganz kurz nur, wenn es ihr richtig beschissen geht. Meistens aber bleibt sie distanziert und amüsiert sich als @KatiKuersch darüber, wie sie am Leben scheitert. Jeden Tag gibt sie jede intime Kleinigkeit an mehr als 7000 Follower weiter: ihre Albträume, ihre Menstruationsbeschwerden, ihre Hungerattacken, ihre sexuellen Fantasien, ihre Schmerzen. Katis reale Depression ist der Running Gag von @KatiKuersch. Und trotzdem geht es Kati mit @KatiKuersch besser.

Die Frage, wer Kati ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. Auf Twitter ist sie die ­zynische, laute, derbe @KatiKuersch. Auf ihrem Blog ist sie eine selbstbewusste junge Frau, die sich für ihre Überzeugungen starkmacht. Im echten Leben ist sie die Kati, die gegen Schmerzen und Depressionen kämpft, mit sich selbst und um ihren Lebenswillen. In der kleinen Küche im Haus ihrer Eltern, in einer süddeutschen Innenstadt, trifft man dann eine 23-jährige Frau, ungeschminkt in ­T-Shirt und Jeans, die belustigt mit ihrer ­Katze schimpft, Energietee aufsetzt und aus Verlegenheit zu viel redet. Ein bisschen müde sieht sie aus. Im Ohr unter ihrem hochgebundenen Haar hat Kati einen Stöpsel, der über ein weißes Kabel zu einem Gerät in ihrer Hosentasche führt. Damit hört sie keine Musik, sondern empfängt Stromschläge. Alle dreißig ­Sekunden einen. Das Gerät dient eigentlich zur Epilepsie­behandlung, aber bei Kati versuchen die ­Ärzte damit, die Migräne zu lindern, unter der sie seit acht Jahren leidet. Bisher hatten die Ärzte keinen Erfolg. Auch nicht mit Naproxen, MAO-Hemmern, SNRI, Bupropion, Venlafaxin oder Seroquel. Kati spult die Medikamentennamen runter wie ein Pharmavertreter.

Ob ihre Kopfschmerzen etwas mit ihrer psychischen Krankheit zu tun haben, ist ­unklar. Kati leidet unter dem sogenannten Borderlinesyndrom, einer Persönlichkeitsstörung, und ­depressiven Episoden. In akuten Phasen prägen Risikobereitschaft, Wutausbrüche und Angst – oder aber tiefe Tauer Katis Leben.

Warum teilt jemand die Details seiner Krankenakte mit tausenden fremden Menschen im Internet? Warum veröffentlicht man jeden körperlichen und psychischen Schmerz? Kati ist nicht die Einzige, die in sozialen ­Netzwerken Dinge erzählt, die die meisten Menschen höchstens ihren besten Freunden anvertrauen würden. Weniger offenherzig, aber in einem ähnlichen Ton wie Kati twittert ­@halbbluthobbit über ihre Depression und die Besuche beim Therapeuten. @Nadine_Berlin lässt ihre Leser ihren Kampf gegen Lymphdrüsenkrebs jeden Tag eindrücklich miterleben.

Kati postet ungefähr zwanzig Tweets pro Tag. Es wirkt so als sei @KatiKuersch Katis persönlicher Paparazzo: ein geschäftstüchtiger Akteur, der die Zahl seiner Klicks und Follower maximieren möchte und zu diesem Zweck jede Information, an die er kommt, von den banalsten Beobachtungen bis zu den geheimsten Gefühlen, zuspitzt und veröffentlicht. Kati ist seit 2009 auf Twitter, seit 2012 twittert sie nahezu alles. Das soziale Netzwerk ist für sie ein Ventil. Im persönlichen Gespräch fällt es ihr dagegen schwer zu erklären, was sie fühlt. Auch wenn die Twitter-User nur Fremde mit Pseu­do­nymen sind: Ihnen kann sie alles erzählen.

Katis zweites Ich auf Twitter hilft ihr au­ßerdem, so absurd das klingt, Realität und ­Fantasie auseinanderzuhalten. Manche ihrer Fantasien, Träume, Gedanken hält sie für echt, reale ­Ereignisse erscheinen dagegen unwirklich. Manchmal freut sie sich darüber, Uni­prüfungen hinter sich zu haben, erinnert sich genau an die Situation und die Fragen – bis sie in ihrem Kalender sieht, dass die Prüfung erst in einer Woche stattfindet. Als würde sie die Rewind-Taste ihres Lebens drücken, verfolgt sie zurück, über welche Situationen und Ereignisse sie getwittert hat. Erinnert sie sich an wichtige Szenen, über die sie nicht getwittert hat, existieren die meist nur in ihrem Kopf. Natürlich würde auch ein Tagebuch diese Funktion erfüllen, aber Kati sagt, sie wolle anderen Menschen helfen, denen es so geht wie ihr: »Ich will ihnen das Gefühl geben, dass sie nicht allein sind.« Und ihre Follower geben Kati umgekehrt das gleiche Gefühl.

Selbsttherapie per Twitter – ist das eine ­gute Idee? Die Wissenschaft ändert ihre Meinung über soziale Netzwerke so häufig wie die Nutzer ihre Profilbilder. Mal machen sie selbst­bewusst, dann eifersüchtig, mal erfolgreicher, dann depressiv. Eigentlich weiß man nur eines: Es kommt drauf an. Dr. Catarina Katzer, deutsche Cyberpsychologin und Medienwissenschaftlerin, sagt, soziale Netzwerke könnten für Menschen in einer Lebenskrise eine große Hilfe sein. »Die Entkörperung und die Anonymität machten es viel einfacher, über Probleme zu sprechen. Die Rückmeldungen können einem im Real Life dann oft unglaublich weiterhelfen.« Diese Möglichkeit habe es vor dem Internet kaum gegeben. »Wenn man früher als junger Mensch Probleme hatte, mit der Familie, dem Job, der Sexualität, hat man einfach gar nicht darüber gesprochen«, sagt Katzer. Kati schreibt in ihrem Blog: »Ich bin fast 23 Jahre alt und weiß nicht, wer ich bin, wo­ran ich glaube, was ich will. Mein Selbstbild definiert sich darüber, wie mich meine Freunde (sofern vorhanden) wahrnehmen.« Im Internet wird sie wahrgenommen, von ihrer Follower-Gemeinde, von den Lesern ihres Blogs. Und sie bekommt direkte Reaktionen: Ihre Tweets, in denen sie sich über sich selbst lustig macht, werden favorisiert. »An einem Tag kann ich mehrmals die komplette Bandbreite menschlicher Emotionen durchmachen, von ›Ich will nicht mehr leben‹ bis ›Ich bin die geilste Person der Welt‹«, sagt sie.

Manchmal drückt sie ein Messer gegen ihr Bein, weil sie das Gefühl hat, nicht echt zu sein. »Wenn du überzeugt davon bist, etwas mit jemandem erlebt zu haben, es aber nie stattgefunden hat, dann denkst du: Jetzt bist du komplett verrückt. Du bist verloren, weil du dich auf nichts mehr verlassen kannst.« Auch über den Moment, in dem das Messer ihre Haut berührte, hat @Kati­Kuersch getwittert. Kati hat die Botschaft später wieder gelöscht. Sie will andere nicht ermutigen, das Gleiche zu tun. Kati hatte schon als sehr junger Mensch Probleme. Die neunte Klasse verbrachte sie in den USA, und dort fing sie an, sich zu verletzen. Um etwas anderes zu spüren als das Gefühlschaos oder die Leere, die sich plötzlich in ihr abwechselten.

Als sie zurück nach Hause kam, fühlte sie sich fremd. Ihre Mutter bemerkte die Wunden, ja, dachte aber, dass man Kati vor allem aufmuntern müsse. »Möchtest du zu deiner Freundin nach Berlin fliegen? Möchtest du dies oder jenes? Sie haben versucht, mir ­jeden Wunsch von den Augen abzulesen, aber so funktioniert das leider nicht«, sagt Kati. Ansatzweise verstanden haben die Eltern das erst, als sie Kati Ende 2008 wegen akuter Suizidgefahr in die geschlossene Psychiatrie bringen mussten. Kati selbst hatte den Krisendienst angerufen. Bei ihr hatte sich im Laufe der Zeit eine große Menge von Beruhigungsmitteln und Schmerzmedikamenten angesammelt. »Es war quasi alles da, aber irgendein Teil von mir wollte noch nicht aufgeben«, sagt sie. Nur ihren engsten Freunden hat sie damals erzählt, was mit ihr los war. Im Blog schreibt sie danach: »Ich glaube, es hat etwas in ihnen zerbrochen. Du siehst jemandem, den du liebst, dabei zu, wie er sich kaputt macht, weil in ihm etwas kaputt ist. Und egal was du tust, du kannst es nicht reparieren. Wir waren alle gerade 16, 17. Wir hätten lachend tanzen und von der Zukunft träumen sollen.« Heute thematisiert sie ihre Krankheit nur noch im Internet. Hier ist keiner @Kati­Kuersch so nah, dass sie jemandem wehtun könnte mit dem, was sie empfindet und erzählt.

Nicht alle Experten bewerten das Zurschaustellen der Krankheit im Netz so positiv wie die Cyberpsychologin Catarina Katzer. Bernhard Heinzlmaier, Mitbegründer des Instituts für Jugendkulturforschung in Wien, hält die Nutzung sozialer Netzwerke gerade bei psychisch Kranken für gefährlich: »Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Überspitzung der Ökonomisierung des Sozialen.« Das heißt, dass wir soziale Kontakte in Netzwerken nur noch für unseren Vorteil nutzen wollen und verlernen, echte Beziehungen zu führen. In ­Katis Fall würde das bedeuten, sie hole sich als @KatiKuersch nur Aufmerksamkeit und Zustimmung: Twitter ist die Bühne und ihre Krankheit der Star, der sich vor keiner Selbstentblößung scheut, solange das Applaus im ­Publikum generiert. Tatsächlich erzählt Kati, sie habe sich in letzter Zeit von ihren ­Freunden und Bekannten etwas zurückgezogen. Viele seien aber auch in andere Städte gezogen.

»Es ist wohl so, dass Twitter hier als Medi­kament angewendet wird«, sagt Heinzl­maier. »Auf die gleiche Art, wie manche Menschen ihre Depressionen mit Alkohol oder Drogen zu lindern versuchen.« Das könne aber allenfalls zu einer »Schiefheilung« führen, wie bei einem Knochenbruch, der falsch zusammenwachse. Es fühle sich vordergründig etwas besser an, aber auf Dauer bereite es Schmerzen.

Was Menschen sagen, die keine ähnlichen Erfahrungen gemacht haben wie sie, sei ihr egal, sagt Kati. Und das gilt für Experten wie für Kommentarschreiber im Netz: »Warum schreibst du eigentlich bei Twitter immer, alles und jeder wäre daran schuld, dass du fett bist«, steht zum Beispiel in ihrem Blog. »Du müsstest doch auch merken, die Leute machen sich über dich lustig, oder meinst du etwa, du hättest so viele Follower bei Twitter, weil du super viel lustiges und interessantes Zeug schreibst?« Kati bekommt aber auch solche Nachrichten: »Deine Tweets helfen mir sehr weiter – weil ich froh bin, dass es nicht nur mir so geht. Viel Liebe <3«. In ihrem Blog zieht Kati eine Bilanz: »Ich twittere mittlerweile seit fünf Jahren. Es überrascht mich nicht, dass Menschen kacke finden, was ich mache, und mir das auch (meist ungefragt) mitteilen.«

Humor sei ihr Bewältigungsmechanismus, sagt Kati. Als sie vierzehn war, erkrankte Katis Vater an Krebs. Sie war die Einzige in der Familie, die nach einer Woche schon Witze ­darüber machte. »Alle fragten, wie ich das tun könne, aber ich wollte sie eben nicht damit ­belasten, wie es mir ging und welche Sorgen ich mir machte«, sagt Kati. Ihre Eltern und ihre drei älteren Schwestern seien ihr sehr wichtig, aber sie würden bis heute nicht verstehen, was ihr genau fehle. Die Mutter sei der Meinung, dass sie nur beschließen müsse, wieder glücklich zu sein. »Und eine meiner Schwestern sagte einmal zu mir, ich soll jetzt mit dem Scheiß aufhören, ich setze Mutter nur unter Druck.« Dass das Twittern sie trotzdem nicht gesund macht, weiß sie. Es ist erst vier Monate her, dass sie in ihrem alten Kinderzimmer lag, zwischen grünen Wänden, Harry-Potter-Büchern und weiß gerahmten Fotos von einer grinsenden Mittelstufen-Kati, und achtzehn Stunden am Tag nur schlafen wollte. Dass sie tagelang nichts essen, nicht duschen, sich nicht anziehen konnte, weil alles so sinnlos erschien. In ihren schwer depressiven Phasen kommt Kati zu ihren Eltern, weil sie sich, wenn sie alleine in ihrer Wohnung ist, vor sich selbst fürchtet.

Es ist Katis Eltern anzusehen, dass sie Kati lieben. Ihre Mutter ist eine Frau, die sich immer sorgt, ob alle genug zu essen haben. Sie stellt einen Teller mit Gürkchen und Salami auf den Tisch. Ihr Vater ist jemand, der anpackt. Wenn etwas kaputt geht, repariert er es, wenn er Krebs hat, kämpft er dagegen und besiegt ihn. Wenn es um Kati geht, wird er stiller, hilflos. Bei Kati findet er keine Lösung. Er ­versteht ja nicht einmal das Problem. Katis Familie hat Angst, dass sie zu viele Ta­bletten nimmt, und gibt ihr Ratschläge wie den, es einmal mit Heilkräutern zu versuchen. Die Familie meint auch, ein bisschen frische Luft oder ein neuer Freund könnten Kati wieder glücklicher machen. Kati sagt, sie sei ihren Eltern nicht ­böse deswegen, »aber ich habe auch nicht die Kraft, ihnen immer und immer wieder zu erklären, dass ich krank und nicht nur schlecht gelaunt bin«. Sie wird derzeit medikamentös von einem Arzt behandelt und steht auf der Warteliste für einen Psychotherapieplatz.

Kati hätte nichts dagegen, wenn ihre Eltern ihre Tweets lesen würden. Ab und zu schickt sie ihnen Screenshots, aber das mit Twitter sei ihnen zu kompliziert. Wahrscheinlich würden sie @KatiKuersch auch nicht besonders mögen.

In letzter Zeit liest man auf Katis Account mehr Einträge über Uniprüfungen als über ihre Krankheit. Die Medikamente haben geholfen. Trotz vieler Krankheitstage scheint sie ihren Bachelor in Politikwissenschaften in der Regel­zeit zu schaffen. Danach will sie den Master in Angriff nehmen. Was sie damit später einmal anfangen will, weiß sie noch nicht. Erst einmal versuchen, ein bisschen glücklich zu sein, solange die Krankheit ihr eine Pause lässt. Wie ihre Geschichte weitergeht, wird man dann wohl auf Twitter erfahren.

Dieser Text ist in der Ausgabe 08/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.