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Politik Habt doch Mitleid!

Politik: Habt doch Mitleid!
Egal ob es um Unfälle, Krankheiten oder Katastrophen geht, »Selber schuld« ist die Standardantwort unserer Zeit. Das macht uns dümmer.

Text: Jakob Schrenk | Illustration: Frank Höhne

Ich hätte gerne ein wenig Mitleid von euch. Vor ein paar Wochen wurde mir mein Geldbeutel gestohlen. Es geschah in der Umkleidekabine der Kletterhalle. Dort hatte ich meinen Rucksack zwei, drei Stunden auf einer Bank herumliegen lassen, und, ja, es kann sein, dass der Reißverschluss der Deckeltasche womöglich nicht ganz zugezogen war, ich habe da so eine vage Erinnerung. Als ich vom Klettern zurückkam, war der Geldbeutel jedenfalls verschwunden. Und ich weiß genau, was jetzt alle denken: »Der Schrenk hat kein Mitleid verdient – selber schuld.«

Diesen Satz höre und lese ich in letzter Zeit sehr häufig, und zwar nicht nur, wenn mir selbst was Blödes passiert (was, zugegeben, nicht selten ist). Der Satz ist überall, in den Kommentarspalten, auf den Titelblättern, in den Hinterköpfen.

Als bekannt wurde, dass die Rettung des verunglückten Höhlenforschers Johann Westhauser aus einem 1000 Meter tiefen Loch mehr als eine Million Euro gekostet hat, schrieben die Leute in den Kommentarspalten: Aber der Typ war doch selber schuld! Eine Soziologin, die untersuchte, warum in Bosnien mehr als fünfzig Prozent der jungen Menschen keinen Job haben, kam zu dem Schluss: Die sind einfach zu faul und zu anspruchsvoll. Selber schuld!

Als der Bestsellerautor Frank Schirrmacher im Frühsommer völlig überraschend an einem Herzinfarkt starb, berichteten die Medien über dessen Cola- und Kippenkonsum und unterstellten ihm einen ungesunden Lebenswandel. Die Botschaft: Hätte der Mann sich mal besser ernährt oder wäre joggen gegangen, wäre das nicht passiert. Selber schuld! Die Theorie der »Krebspersönlichkeit«, die zurzeit sehr populär ist, besagt sogar, dass Menschen, die Krebs bekommen, die Krankheit durch Charakter, Lebensstil und mangelnden Kampfgeist quasi dazu eingeladen haben, sich in ihrem Körper auszubreiten. Selber schuld!

Deine Ehe ist kaputt? Das Konto ist leer? Dein Rücken tut weh? Selber schuld! Selber schuld! Selber schuld. Wir leben nicht im Spätkapitalismus oder im Internetzeitalter, sondern in der »Selber schuld«-Gesellschaft.

In den vergangenen Jahrzehnten haben die Menschen die fixe Idee entwickelt, dass sie ihrem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern eigene Entscheidungen treffen können. Wir wollen der Regisseur unseres eigenen Lebens sein, der Drehbuchschreiber, Castingagent und Locationscout. Klingt eigentlich nicht schlecht. Der Nachteil an dieser Ideologie ist aber, dass wir aufgeklärten Narzissten, wenn wir scheitern oder uns etwas zustößt, dafür keinen Gott oder politischen Feind verantwortlich machen können, sondern nur noch uns selbst. Die Arbeitslosen sind halt faul und feilen nicht genug an der Außendarstellung ihrer Ich-AGs. Der Hyperindividualismus ist selbstverliebt und selbstverachtend zugleich.

Der Kontrollwahn erstreckt sich nicht nur auf die Jetztzeit, sondern auch auf die Zukunft. Das Joggingregime dient der Körperoptimierung und damit den Paarungschancen im Jahr 2014, soll aber auch dafür sorgen, dass man 2044 keinen Herzinfarkt bekommt. Wenn man aber 2024 von einem Auto überfahren wird, kann man sich von den niedrigen Cholesterinwerten und den kalkfreien Herzkranzgefäßen auch nichts kaufen.

Es ist das Wesen der Zukunft, dass sie unbekannt ist, hat der Soziologe und Präventionsskeptiker Niklas Luhmann gesagt. »Je nachdem, ob ein Schaden eingetreten oder ob es gut gegangen ist, wird man das Risiko nachträglich anders einschätzen«, schrieb Luhmann über sogenannte knifflige Entscheidungen: »Man versteht nachträglich nicht mehr, wieso man in einer vergangenen Gegenwart derart vorsichtig oder derart riskant entschieden hatte.« Anders: Das Ergebnis bestimmt das Erlebnis.

Eigenverantwortung ist gut, und natürlich ist es sinnvoll, vorbeugend zu handeln (und den Rucksackreißverschluss zuzuziehen). Wir dürfen es aber nicht übertreiben. Die »Selber schuld«-Mentalität hat keinen Sinn für die Komplexität der Welt und die Tatsache, dass wir alle mit dem Chaos kämpfen. Statt anderen Menschen hämisch die Schuld an ihrem Unglück zu geben, sollten wir deshalb versuchen, dessen wahre Ursachen zu erkennen: schlechte Wirtschaftsdaten, bröckeliges Gestein, entartete Zellen, ein Kletterer, der sich nicht für die heilige Solidarität unter Kletterern interessiert, oder, schlicht und einfach: Pech. Das gibt es nämlich auch. Wir sind zu hart zu uns selbst. Und zu hart zu anderen.

Ich weiß, warum man mir so gerne unter die Nase reibt, dass ich den Rucksack niemals in der Umkleide hätte stehen lassen dürfen. Die Leute sind verdammt stolz darauf, dass ihnen so etwas nie passieren würde.

Dieser Text ist in der Ausgabe 09/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.