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Politik Zuhause in Tüten

Politik: Zuhause in Tüten
Sie schlafen auf dem Sofa bei Freunden, nicht eine Nacht, sondern Wochen und Monate. Ein revolutionärer Lebensstil oder doch nur modernes Schmarotzertum?

Text: Martina Kix | Fotos: Basti Arlt, Ramon Haindl

Wie oft Max* in den vergangenen zwei Jahren umgezogen ist, weiß er nicht genau. Er hat nach dem 25. Umzug einfach aufgehört zu zählen. Wenn Max seinen Wohnsitz wechselt, muss er keinen Lastwagen und keine Umzugshelfer bestellen. Er muss keine Möbel abbauen und keine Kisten packen. Es geht alles immer sehr schnell.

Ein Rollkoffer, zwei Plastiktaschen voll mit Hosen, Shirts und Wäsche, ein Longboard und ein Gedichtband von Hermann Hesse. Mehr besitzt Max nicht. Sein Zuhause ist der Ort, an dem er sein Gepäck abstellt. In diesem Frühsommer wohnt er bei seiner Kommilitonin Andrea im Münchner Stadtteil Giesing. Bald wird er weiterziehen. Er weiß noch nicht, wohin. Die Unsicherheit stört ihn nicht sie ist Teil seines Lebenskonzepts.

Max, 24 Jahre, Student, übernachtet nicht bei Andrea, weil er neu in der Stadt wäre oder auf dem überhitzten Münchner Immobilienmarkt keine Wohnung fände. Es geht auch nicht um Geld. Er macht gerade ein bezahltes Praktikum bei einem Tourismuskonzern und arbeitet abends als Schankkellner in einer Wirtschaft. Sein Vater besitzt ein Bauunternehmen. Max hat kein Zuhause, weil er kein Zuhause haben will. Er ist ein Luxusobdachloser.

Politik: Max, 24, mit all seinen Habseligkeiten im Zimmer seiner Gastgeberin Andrea. Diesmal darf er eine Woche bei ihr bleiben.
Max, 24, mit all seinen Habseligkeiten im Zimmer seiner Gastgeberin Andrea. Diesmal darf er eine Woche bei ihr bleiben.

An der Universität oder in Bars hat jeder schon mal einen wie Max getroffen, der gefragt hat: »Hey, kann ich mal ein paar Nächte bei dir schlafen?« Und weil man selbst ja oft ein Sofa sucht, weil der letzte Zug ausfällt oder ein Bewerbungsgespräch in einer anderen Stadt im Kalender steht und kein Geld da ist fürs Hotel, hilft man gern. Für Leute wie Max ist die Sofasuche allerdings keine Ausnahme, sondern die Regel.

Politik: Zuhause in Tüten

Wenn man versucht, zu verstehen, warum Luxusobdachlose so leben, wie sie leben, trifft man Menschen wie den Max, Fulya und Melanie, die versucht, auf der ganzen Welt zu Hause zu sein. Und man stellt sich irgendwann die Frage, ob man es hier mit einem revolutionären Lebensstil zu tun hat, einer Reaktion auf die Flexibilitätsdiktate der modernen Arbeitswelt; wenn man jeden zweiten Monat das Projekt und die Stadt wechselt, dann ist ein fester Wohnsitz, sind Sofa und Küchentisch doch nur Ballast. Oder handelt es sich doch eher um schlichtes Schmarotzertum, ein Leben auf Kosten anderer?

Andrea und Max haben gerade zusammen gekocht. Tortillas. Hühnchen. Reis. Es riecht ziemlich lecker. Max öffnet einen der weißen Küchenschränke. Dann den nächsten. Und noch einen. Bis er endlich ein Glas findet. Er schüttet Wasser hinein und setzt sich an den Tisch. Max bewegt sich in der Wohnung wie ein Fremder und doch mit einem Selbstverständnis, wie es sonst nur Mitbewohner ausstrahlen. Er gewöhnt sich eben schnell ein. Er sagt: »Ich habe ein Bett und muss ausnahmsweise nicht auf dem Boden schlafen. Das ist ein ziemlicher Luxus.«

In Deutschland leben laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. 24 000 Menschen auf der Straße und gelten damit als Obdachlose. Weitere rund 300 000 Menschen gelten als wohnungslos, weil sie in Frauenhäusern, Jugendheimen oder ähnlichen Einrichtungen leben. Die wahren Zahlen dürften jedoch wesentlich höher liegen, weil die wenigsten Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben, dies auch beim Einwohnermeldeamt eintragen lassen. Keine Wohnung zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als schwerer Makel und totales Versagen.

Die Luxusobdachlosen dagegen werden von keiner Statistik erfasst, was auch daran liegt, dass sich ihre Situation, ihre Geschichte und ihre Pläne stark unterscheiden.

»Ich muss nicht auf dem Boden schlafen. Das ist ein ziemlicher Luxus.«

Während Max erst ein einziges Mal auf der Straße schlafen musste und bei seinen Eltern gemeldet ist, die er immer besuchen kann, ist Fulya mit sechzehn von zu Hause ausgerissen, lebte in drei verschiedenen Wohneinrichtungen und verlor mit neunzehn dann ihre Wohnung. Damit begann ihre Sofatour: Sie schlief bei Freunden, bei den Eltern ihrer Freunde oder bei Fremden, die sie sympathisch fand und die gerade einen Platz frei hatten. Fulya sagt: »Das Materielle war plötzlich weg und ich habe das nicht als Belastung, sondern als große Freiheit empfunden.«

Fulya, 22 Jahre, eine hübsche, zarte Person, die man selten ohne ihre Gitarre trifft, kommt aus der Nähe von Frankfurt und hat seit drei Jahren keinen festen Wohnsitz. Ihr nächstes Ziel ist Berlin, denn dort hofft sie mit ihrer Musik bekannt zu werden. Ansonsten hat sie keinen genauen Plan, wie es weitergeht, weiß auch nicht, ob sie irgendwann wieder sesshaft werden will. Pläne, Geld und andere Sicherheiten spielen in ihrem Leben kaum eine Rolle. »Ich möchte mich nicht um Kündigungsfristen, Formulare und Verträge kümmern«, sagt sie, »das nimmt mir meine Freiheit.«

Es hat schon immer Menschen gegeben, die die Fixpunkte der Normalbiografie ablehnten festes Zuhause, feste Beziehung, Festanstellung und sich stattdessen durchs Leben treiben ließen. Im Laufe der Zeit hat man unterschiedliche Namen für sie gefunden: Bohemiens, Tramps, Drifter, Punks (und manche Namen waren weniger nett). »Nichts hinter mir, alles vor mir, wie das auf der Straße immer ist«, schreibt Jack Kerouac in »Unterwegs«, der heiligen Schrift der ewigen Wanderer, und: »Was ist das für ein Gefühl, wenn man wegfährt und die Menschen, die man zurücklässt, auf der weiten Ebene immer kleiner werden (…)? Zu groß ist die Welt, die sich über uns wölbt — das ist Abschied. Vor uns aber lag das nächste verrückte Abenteuer unter dem Himmel.«

Die ausgedehnte Wanderschaft, die Konfrontation mit Fremde und Unsicherheit galt lange Zeit für den Handwerkemachwuchs als Teil des Erwachsenwerdens — und manche pflegen den Brauch der Walz noch heute. Es ist ja auch eine einleuchtende Idee: Man zieht aus dem verstaubten Elternhaus aus, um Unabhängigkeit zu erlangen; noch unabhängiger ist man freilich, wenn man nirgendwo mehr einzieht.

Besucht man das Facebook-Profil von Melanie, fällt einem erst einmal nichts Ungewöhnliches auf. Melanie hat ein paar Hundert Freunde und postet gern bunte Fotos. Eines der neuesten Bilder zeigt sie im Bikini am Strand in Panama. Aber auch Melanie hat ihre Wohnung vor langer Zeit aufgegeben. Das Profil in sozialen Netzwerken funktioniert für sie wie eine neue Art Zuhause, das sie dekoriert und in dem sie ihre Fundstücke speichert. Anders als Max und Fulya schläft sie sich allerdings nicht bei alten Schulfreunden und Bekannten in Deutschland durch, sondern verfolgt einen globalen Plan.

Politik: Melanie, 24, ist bei ihren Eltern gemeldet. Dieses Foto entstand, als sie dort ein paar Tage wohnte – kurz bevor sie nach Panama flog.
Melanie, 24, ist bei ihren Eltern gemeldet. Dieses Foto entstand, als sie dort ein paar Tage wohnte – kurz bevor sie nach Panama flog.

Melanie ist im Westerwald geboren. »Als Teenager saß ich in meinem Zimmer und träumte davon, mir die Welt anzuschauen«, sagt sie und lacht, weil das vielleicht kitschig und klischeehaft klingt. Bevor sie ins Abenteuer auf und ihre Zelte abbrach, kümmerte sie sich um ihre Zukunft, studierte Gesundheitsmanagement in England und lernte dort Kommilitonen aus aller Welt kennen. Nachdem sie ihre Abschlussarbeit geschrieben hatte, wollte sie jedoch nicht mehr den klassischen Karriereweg gehen und bewarb sich für Praktika in Tadschikistan, Finnland, China. Sie erhielt nur Absagen. Aber das hielt sie nicht auf. Im Sommer 2013 zog sie aus ihrer WG aus, verkaufte ihr Bett, die Schränke und den Schreibtisch. Was sie behielt, passte in einen Koffer: T-Shirts, Unterwäsche, Röcke.

Politik: Zuhause in Tüten

Seit Melanie ein kleines Kind war, spart sie. Heute nutzt sie das Geld, das sie mit Kellnern oder anderen Jobs verdient, um die Flüge in ferne Länder zu bezahlen. »Es geht mir darum, Erfahrungen zu sammeln, und wenn man Freunde in einem Land trifft, hat man einen ganz anderen Zugang zum Land«, sagt sie. »Für mich war das irgendwie auch eine Form der Reinigung. Einfach einmal allen Ballast abwerfen«, sagt sie. Man brauche viel weniger, als man denke. »Warum muss ich mich festlegen, warum Miete zahlen, wenn ich doch überall auf der Welt eine Matratze bei einem Bekannten habe, auf der ich schlafen kann?«

Klingt das ein wenig größenwahnsinnig? Überall Freunde und Sofas, die nur auf einen warten; eine Weltreise, die niemals endet und so gut wie nichts kostet.

Wenn Melanie länger bei Freunden schläft als zwei Nächte, versucht sie sich zu revanchieren, indem sie die Wohnung putzt oder Frikadellen mit Kartoffeln kocht. Auch Fulya sagt: »Wenn ich daran denke, dass ich jemanden ausnutzen könnte, fühle ich mich ekelhaft.« Dann erzählt sie, dass sie bis vor Kurzem sechs Monate lang im Atelier eines Künstlers gelebt hat. »Er war glücklich, dass er einen Gesprächspartner hatte. Eine Person, mit der er über Bücher reden konnte und die ihm Musik vorspielte.«

Die Luxusobdachlosen zahlen ihre Miete offenbar nicht in Euro oder Dollar, sondern in Form von Zeit und Aufmerksamkeit. Sie glauben an sich selbst und ihre Fähigkeit, so sympathisch und charmant oder so mitleiderregend zu sein, dass ihnen die alte Freundin oder der entfernte Bekannte auch nachts um zwei Uhr noch die Tür aufmachen. Sie stehen weniger für eine minimalistische Ideologie oder den Systembruch als für ein Grundvertrauen in das, was manchmal als »Share Economy« bezeichnet wird. Auch wenn sie vor allem nehmen, leben sie das Teilen und profitieren von einem neuen Bewusstsein, das mehr ist als bloßes Bilanzdenken.

Man kann sich gut vorstellen, dass die Hilfsbereitschaft von Freunden und Bekannten Grenzen hat, wenn das zufällige Übernachten oder die dummen Ausreden allzu häufig werden. Die Luxusobdachlosen setzen auf die Gutmütigkeit ihrer Gastgeber und vermutlich auch auf deren stille Sehnsucht, ebenso frei zu leben.

Max, Fulya und Melanie malen ihr Leben nicht nur in bunten Farben. Melanie erzählt, dass sie gern unter Leuten sei, aber manchmal ihre Privatsphäre vermisse. »Wenn ich allein sein möchte, gehe ich spazieren oder bleibe etwas länger auf dem Klo sitzen.« Max erzählt, dass er vor einiger Zeit in Irland keine Bleibe gefunden und eine Nacht im strömenden Regen verbracht habe. Fulya erzählt, dass sie, wenn es sich richtig anfühle, einfach mit den Leuten mitgehe, die sie einer Bar kennenlernt, sie sagt: »Vielleicht haben es Mädchen leichter, in der Nacht spontan einen Schlafplatz zu finden.«

Natürlich gibt es auch für die Luxusobdachlose dunkle, einsame Momente, die latente Gefahr, dass aus dem Abhängen ein Abstürzen wird. Jack Kerouac schreibt in »Unterwegs«: »Ich war weit fort von zu Hause, zerschlagen und müde von der Fahrt (…). Ich war einfach jemand anderes, ein Fremder, und mein ganzes Leben war ein spukhaftes Leben, das Leben eines Gespenstes.«

Gibt es das auch? Eine Überdosis Freiheit?

Das Leben von Max, Fulya und Melanie hat mit dem ihrer Eltern nichts mehr zu tun. Melanies Vater zum Beispiel arbeitet in einer Schilderfabrik, ihre Mutter als Putzfrau. Ihr Vater lebt in dem Haus, in dem er geboren wurde, und geht jeden Morgen um sechs Uhr zur Arbeit. Ihre Eltern brauchen, so scheint es, ein Zuhause, das ihnen gehört, und folgen alten Gesetzen: Freizeit kommt nach Arbeit, Arbeit finanziert Freizeit. Man kann sich gut vorstellen, dass es für die drei schwierig ist, den Eltern ihr Leben zu erklären: warum sie als gut ausgebildete Menschen die Systemintegration verweigern.

Max, Fulya und Melanie wissen nicht, ob die Luxusobdachlosigkeit ein Lebensplan ist oder doch nur eine Phase. Von ihren Vorgängern, den Tramps und Punks, unterscheidet sie wohl vor allem, dass sie dank moderner Medien nicht abtauchen. Sie pflegen ihre Profile in den sozialen Netzwerken, checken ihre Emails und haben ein Mobiltelefon, sind erreichbar, lassen die Verbindung nicht abreißen. So unterschiedlich die Geschichten von Max, Melanie und Fulya sind, eins haben sie gemeinsam: ein Grundvertrauen darauf, dass da immer jemand ist, auf den sie sich verlassen können.

Nach dem Abendessen in der Giesinger Wohnung räumt Andrea, die Gastgeberin, die Teller in die Spülmaschine. Max hilft ihr dabei. Die beiden hatten einen schönen Abend, aber Andrea sagt auch, dass sie es nicht gut findet, wie Max seine Freunde manchmal ausnütze. Böse ist sie ihm trotzdem nicht: »Aber es ist der Max. Wir kennen uns so gut und ich mag ihn so gern. Er ist wirklich immer für mich da. Deshalb darf er auch bei mir wohnen.« Zumindest eine Woche lang. Und dann geht es weiter. Irgendwie.

*Anmerkung der Redaktion: Im Gegensatz zur Print-Version haben wir in der Online-Version dieses Artikels die Nachnamen unserer Protagonisten entfernt.

Dieser Text ist in der Ausgabe 09/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.