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Freizeit Das NEON Musiktribunal #1

Freizeit: Das NEON Musiktribunal #1
Helmut Mauró – Klassikkritiker der Süddeutschen Zeitung

Es ist natürlich einfach, sich beim Musik hören (und kritisieren) auf die Sachen zu konzentrieren, die man eh schon spannend, eh schon fresh, und eh schon supertoll findet. Nur umgibt einen im Alltag ja etwas ganz anderes. Im Autoradio, im Kaufhaus-Fahrstuhl, auf der Geburtstagsparty des kleinen Bruders steht man nicht im plätschernden Klangbächlein voller musikalischer Preziosen, auf deren Kenntnis man ach was nicht alles einbildet. »Oho, ein seltenes Bootleg von Hastenichgesehen..« Nein! Im Gegenteil. Man steht bis zum Hals im Mainstream. Und der ist manchmal klebrig oder miefig, aber: Er hat die Kraft des breiten Stroms. Und wenn man mal die Hand reinhält, findet man auch Interessantes.

In der neuen Musikkolumne kommen deshalb ab jetzt immer in der ersten Woche des Monats die Top Drei der deutschen Singlecharts auf den Horchstand. Es lauschen:

Patrick Morgan – Programmdirektor des Radiosenders bigFM
Lars Gaede – Musikredakteur von NEON

Freizeit: Das NEON Musiktribunal #1

Meghan Trainor – All About That Bass

Helmut Mauró: Ein schüchterner E-Bass steht Pate für das Hauptanliegen, für den aus der Form gelaufenen Booty. Die hohe Stimme dagegen für eine dürre Barbie-Figur. Wie rede ich mir meinen dicken Hintern schön? Mutti sagt, passt schon, es geht nie um Größe, und wenn, dann wollen die Jungs doch lieber etwas mehr als weniger. Und so ironisch-altmodisch schwingt sich dann auch der aufgestylte Sound der Vierziger ein, die aufgedoppelte Singstimme passt auch, klingt ein bisschen nach Andrew Sisters. Der Mutterwitz fegt die Teenie-Probleme vom Tisch, aber Meghan Trainor kann ihre Stimme noch so sehr nach unten drücken, ein Bass wird daraus nicht. Nicht einmal ein satter runder Ghospel-Alt. Das offenbart die ganze Tragik des Problems. Die Stimme wohnt im falschen Körper.

Lars Gaede: Wenn die Brigitte sich dafür bejubeln lässt, nur noch ganz normale Frauen aufs Cover zu nehmen (das dann aber auch bald wieder lässt), wenn Dove seine Hautcreme von Frauen in Durchschnittsmaß bewerben lässt und wenn Meghan Trainor neben anderen eher moppeligen Menschen durch das Video dieses netten R’n’B-Retropopsongs hüpft und darüber singt, dass sie nicht dünn ist, dann funktioniert das nach demselben Muster: Man zeigt total frisch und sympathieerzeugend, dass man die Körpernormen der Gegenwart für egal hält und sich gut dabei fühlt. Schön! Aber reduziert man sich damit nicht doch nur wieder selbst auf seinen Körper? Und wird dieser durch seine popkulturelle Verwertung dann nicht auch nur wieder kapitalisiert?

Patrick Morgan: Die Formel 90-60-90 trifft hier definitiv nicht zu. Unfassbar! Eine 20-jährige mit Hüftgold landet einen weltweiten Hit. Megan macht aus ihrer vermeintlichen Schwäche, eine Stärke. Sie schert sich nicht um den Körperkult. »All About That Bass« ist lässig, eingängig und ironisch. Ich mag den Song. Und eins ist auch sicher… wer weltweit die Charts anführt, kann nicht nur eine Hymne für Mollige geschrieben haben, die es nicht so genau nehmen mit Döner, Burger und Fritten. Wenn dem doch so ist, dann »Fear of A Fat Planet«. Offen gestanden, ich hoffe, dass sie nachlegen kann und nicht als pummliges One-Hit Wonder abgestempelt wird. Besonders groß ist Megan auch nicht. Sie misst nur 1,57m. Megan ist also quadratisch, praktisch, gut!

Freizeit: Das NEON Musiktribunal #1

The Avener – Fade Out Lines

Helmut Mauró: Alles geht den Bach runter, aber auch der Big Blast am Ende ist natürlich eine Party wert. Munter hüpft die gezupfte Gitarre herum, und die androgyne Stimme von Tristan Casara alias Tyares alias The Avener schleimt sich lasziv durch den düster raunenden Text aus dunklen Räumen und schwarzen Schatten und Kutten und der großen Uhr, die die letzte Stunde schlägt. We are all going down, down deeper down, gleiten nach unten, huhu, gruselige Beschwörungen, aber wie lustig und entspannt das musikalisch vonstattengeht. Der Untergang kann kommen.

Patrick Morgan: Sorry ich kann damit nichts anfangen. Ein befreundeter DJ hat mir vorm Hype »Fade Out Lines« nahegelegt. Der Titel macht mich traurig. Das Original von Phoebe Killdeer and the Short Straws ist auch nicht mein Fall. Was hat es nun auf sich mit dem Song? Ist es ein Cover? Ist es ein Remix? Ist es Kunst? Wenn ja, worin besteht die Kunst den gleichen Titel ein paar Jahre später etwas schneller auf dem Plattenteller abzuspielen? Das ist keine Kunst, das ist gepitcht. Respekt, gute Idee, hätte ich selbst drauf kommen müssen. Aus Frankreich bin ich anderes gewohnt: Justice, Daft Punk, Martin Solveig oder dieser David G., der immer donnerstags in Ibiza auflegt.

Lars Gaede: Egal ob Robin Schulz, Alle Farben oder jetzt eben der 27-jährige Franzose Tristan Casara aka The Avener. Der klebrige Wohlfühl-House sprudelt unaufhörlich aus dem Radio. Man nehme irgendeine gefällige Melodie, gespielt auf einem superfreundlich-warmen Instrument und eine ebenso superfreundlich-warme Stimme oder noch einfacher: Man kapere einfach einen alten Klassiker wie hier in dem Fall von Phoebe Killdeer & The Short Straws. Ein bisschen beschleunigen, hier und da etwas elektronisches Geflitter drumherum gelegt und ordentlich Bummsbumms drunter. Fertig ist der Klon.

Freizeit: Das NEON Musiktribunal #1

Sheppard – Geronimo

Helmut Mauró: Viel verhauchter dünner Falsettgesang beiderlei Geschlechts über eine verlorene und doch noch nicht ganz verschwundene und folglich schleunigst wieder aufzubrezelnde Liebe, erzählt in esoterischen Worthülsen, gesungen in nebulösen Sphärenklängen mit viel Nachhall, instrumental untermauert mit kantigen Rhythmen und altbackenen Klangmustern. Can you feel my love, my love, my love, my love, bombs away, bombs away, bombs away. Es ist nichts falsch an diesem Song, aber es ist auch nichts echt.

Lars Gaede: Das Lied besteht aus einem catchy Refrain, den man gut mitrufen und mitklatschen kann, wie früher im Kindergarten und genau das soll man wohl auch. Er lautet ja: »Say Geronimo!« Weil Lieder aber nicht nur aus Refrains bestehen können, wird drumherum noch etwas knödelig von Sprüngen durch den Wasserfall gesungen. Macht nichts. Klatsch! »Geronimo!«

Patrick Morgan: Im September waren Sheppard bei uns im Sender. Sie sind eine sehr sympathische Kombo – absolut bodenständig. Die Zwillinge George und Amy Sheppard wuchsen in Papua-Neuguinea auf, bevor sie nach Australien übersiedelten. 2009 haben sie sich gegründet. Heute sind sie eine sechsköpfige Band und in ihrer Heimat sehr erfolgreich. »Geronimo« ist ein Begriff, die Skydiver beim Fallschirmsprung nutzen, um zu zeigen, dass sie keine Angst haben. Sheppard springt also quasi ohne Angst durch den »Wasserfall« der Liebe. Textlich wenig gehaltvoll, aber netter Refrain.