Fotos: Markus Burke
Kyle Hamilton bereitet sich mit Tee und einem halben Liter Wasser auf die beste Welle Großbritanniens vor. Das wichtigste Gesetz hier lautet: warm bleiben. Dafür pinkelt sich Kyle auch mal in den Neoprenanzug.
Thurso, die nördlichste Stadt des britischen Festlands, liegt auf der gleichen Höhe wie Oslo und Moskau – und nichts erinnert an einen typischen Surf-Ort: Nirgendwo laufen braun gebrannte Menschen in Boardshorts herum. Es gibt keinen Surfshop. Statt in einer Strandbar feiert man in der Diskothek Skinandis zu scheppernder Dancemusic. Statt Sonnenmilch schmieren sich Surfer hier Fettcreme ins Gesicht, gegen den beißenden Wind. Die Wassertemperatur beträgt im Winter rund acht Grad.
Der Grund, aus dem die Studenten Kyle und Adam acht Stunden im Zug von Edinburgh saßen und Shoana McGuinness vor acht Jahren nach Thurso zog, liegt in der Bucht, rechts neben dem Fluss, vor einem Schloss: der Surfspot Thurso East. Wenn der Wind aus Nordwesten bläst und die Flut langsam abnimmt, dann bäumt sich das dunkle Wasser auf, bricht nach rechts und dreht sich perfekt ein, wie mit einem Buttermesser geformt. Es ist eine der längsten und bauchigsten Röhren, durch die Surfer auf der ganzen Welt fahren können.
Doch heute früh um halb acht sieht die Bucht eher nach Badewanne aus. Kyle Hamilton und seine Kommilitonen Adam und Steven beobachten die Wellen. Direkt vor ihnen klumpt sich an der Shitpipe etwas Gischt zusammen. Seinen Namen verdankt der Surfspot – etwa zweihundert Meter links von Thurso East – der Kläranlage, die früher das Abwasser dort bei Flut ins Meer spülte. Kyle hält seine Haare mit einem Tuch aus dem Gesicht. Der Zwanzigjährige misst 1,85 Meter, ein massiver Kerl mit breitem Kreuz und rundem Kindergesicht. Er wuchs an der Sunshine Coast von Australien auf, sein Vater stellte ihn mit fünf Jahren aufs Brett, jetzt studiert er Japanologie an der Universität in Edinburgh. »Südwestwind «, sagt Steven. »Scheiße«, brummt Kyle. Der blonde Adam nimmt einen Schluck aus seiner Teetasse.
Die Suche nach der perfekten Welle brachte auch Shoana McGuinness nach Thurso. »Hier bekomme ich den größten Adrenalinschub«, sagt sie – »vielleicht auch, weil einem die Kälte so in den Kopf steigt.« Die schottische Meisterin ist eine von nur drei Frauen, die in Thurso regelmäßig surfen. Sie arbeitet als Kunstlehrerin an der örtlichen Gesamtschule. Jeden Tag rennt die 38-Jährige von ihrem Steinhäuschen zum Pier und paddelt ins Wasser, mindestens eine Stunde am Tag. Im Hausflur, wo andere Jacken aufhängen, stapeln sich bei ihr acht Bretter und ein paar Bodyboards. Als sie im sechsten Monat nicht mehr surfen konnte, fuhr sie mit dem Bodyboard durch kleine Wellen. Ihre Tochter ist jetzt elf Monate alt. »Man wird leicht süchtig. Ich darf mich nicht ärgern, wenn ich an einem Tag keine Wellen bekomme«, sagt sie. Aus ihren langen blonden Haaren musste sie vergangene Woche vier Dreadlocks schneiden. Das Salzwasser verfilzt die Haare. »Die Wellen machen mich glücklich – ohne geht es nicht«, sagt sie.
Doch der Surfspot Thurso East ist auch ein Biest. Die Wellen dort haben Surfern die Nasen, Hüften, Schultern gebrochen und einige so lange unter Wasser gehalten, dass sie nachher Blut gespuckt haben. Bei Ebbe knallt man auf das Riff, die Wellen donnern Tonnen von Wasser auf die Surfer. Vor ein paar Wochen schwoll die Welle auf fünf Meter an.
Noch immer bewegt sich nichts. Die Stimmung von Kyle, Steven und Adam ist schlecht. Sie fahren weiter nach Westen, zu dem Surfspot Brimms Ness, vorbei an Schafen und Kühen. Sonne, grüne Hügel, das schwarze Riff – eine schottische »Kerrygold«-Landschaft. Doch an Brimms Ness klatschen die Wellen durcheinander, direkt auf die Schieferplatten des Riffs. Die Gischt spritzt meterhoch. Keine Chance. »Surfen heißt Abwarten«, sagt Adam. Fünfzehn Minuten mit dem Auto zurück nach Thurso, zum Surfspot Murkle Point. Rinder muhen die Jungs an. Wieder zu flach. Zu gefährlich. Also noch mal Thurso East.
Um zurück zu der legendären Welle zu gelangen, fahren die Studenten jetzt einen holprigen Weg an Feldern entlang, biegen zum Bauernhof ab, vorbei an Strohballen, Pferden, dem ätzenden Geruch von Gülle hinterher. Auf dem Bauernhof waten sie durch den Matsch zur Wasserkante. Und tatsächlich, jetzt schwellen die Wellen an. Kyle zwängt sich in den Fünf-Millimeter-Neoprenanzug und in die nassen Schuhe. »Ich hasse Neos, aber ohne geht’s nicht«, sagt er. Im Gegensatz zu allen anderen trägt er keine Haube und keine Handschuhe. Hat er vergessen zu kaufen. »Die meisten geben es nicht zu – aber man fühlt sich schon krass, wenn man in kaltem Wasser surft«, sagt er und lacht. Das ist auch der Grund, aus dem das Pinkeln in den Anzug unter Wintersurfern nicht verpönt ist: Man bekommt einen kleinen Wärmeschub, ohne sich vom Fleck bewegen zu müssen.
Ein Mann mit einem Surfbrett unter dem Arm klettert die Böschung hoch. Das Meerwasser verklebt seine Wimpern, seine Wangen sind rot, die Hände überraschend warm. »Ey, das ist Chris Noble«, zischt Adam den anderen zu. Dann klettern sie über die Steine und paddeln links an der Welle vorbei aufs Meer hinaus, bis sie nur noch schwarze Punkte auf der Wasseroberfläche sind.
Chris Noble gilt als der beste lokale Surfer. Er war mehrmals schottischer Meister. Noble, 38 Jahre alt, ein kleiner Mann mit zerstrubbelten Haaren und Stupsnase, arbeitet auf einer Ölplattform: drei Wochen auf hoher See, drei Wochen Urlaub. Fast jeden Tag surft er dann Thurso East. Mit fünfzehn wurde er hier das erste Mal durchgespült. Und blieb, wie Shoana McGuinness, an der Welle hängen: »Es ist einfach eine perfekte Welle – du spürst deutlich, dass du dich nach der Natur richten musst. Der Wind muss stimmen, die Intensität, die Höhe.« Mit 26 zog er dann von der Ostküste Schottlands hierher. Er studierte Informatik am örtlichen College. Aber vor allem wollte er Thurso East surfen – in der Einsamkeit oder mit Freunden. »Surfen ist egoistisch. Man geht nicht ins Wasser, um anderen zuzuschauen. Klar, man freut sich für seine Kollegen«, sagt Chris Noble. »Trotzdem bleibt es eine gute Welle, die man selbst hätte reiten können.«
Der Surfspot Thurso East wurde erst in den Siebzigerjahren wirklich befahren. In der Stadt galten die Jungs aber nicht als heiße Surferboys, sondern als Freaks: Ihre Neoprenanzüge schlabberten, sie klebten Haushaltshandschuhe mit Tape gegen Kälte und Wasser an den Anzügen fest.
Mit beweglicheren und wärmeren Neoprenanzügen wurde auch Wintersurfen populärer. Von 2006 bis 2011 fanden in Thurso East Qualifikationsrunden für die Weltcuptour statt. Die besten Surfer der Welt, darunter Marlon Lipke, Nic von Rupp oder Sunny Garcia, ritten die Welle. »Trotzdem ist Thurso einer der letzten einsamen Surf-Orte der Welt«, sagt Shoana McGuinness. An manchen Tagen sitzt sie allein im Wasser.
Das könnte sich ändern. Der Hauptarbeitgeber der Region, das Atomkraftwerk Dounreay, schließt voraussichtlich 2022. Die Thursoer fürchten, dass viele Arbeitsplätze wegfallen. Also soll der Tourismus gestärkt werden. Das heißt aber: weniger Wellen für die Einheimischen. Selbst hier, zwei Stunden von einer größeren Stadt entfernt, wo es im Winter stürmt und Eisbrocken im Wasser schwimmen, gibt es daher Spannungen mit Touristen. »Klar ärgere ich mich, wenn ich ewig auf gute Wellen warte und dann schon zwanzig Autos auf dem Parkplatz sehe«, sagt Chris Noble.
George Carson schüttelt den Kopf, wenn er so etwas hört. »Wem gehört das Meer? Der Queen, dem Papst? Nein! Das Meer gehört allen, also muss man es teilen.« Carsons Fish ’n‘ Chips-Laden und sein Hostel darüber gelten als Treffpunkte reisender Surfer. Hier wohnte Chris Noble in seinem ersten College- Jahr, dieses Wochenende sind alle Betten von Kyle, Adam und den anderen 24 Studenten des Edinburgher Surfclubs belegt. Carsons Imbiss riecht nach Bratfett, die Speisekarte – alles ist frittiert, von Mars-Riegel bis Fisch – hängt auf laminierten roten Karten an der Wand. »Die Locals haben ein Vorrecht: Wir haben die Vorzüge des Stadtlebens aufgegeben, um bei den Wellen zu sein – aber klar, der Tourist hat auch 200 Pfund für Benzin ausgegeben und will surfen. « Man müsse einen Kompromiss finden und sich an Regeln halten, sagt Chris Noble.
Das ist manchmal schwierig. Als Kommilitonen von Adam und Kyle bei der Shitpipe surfen, wird Shoana McGuinness‘ Ehemann sauer. »Die Bretter fliegen ja durchs Wasser. Wenn sie nicht anständig surfen können, müssen sie eine einfachere Welle suchen.«
Am nächsten Tag weht der Wind endlich von Nordwest. Shoana eilt mit ihrer Familie zum Pier. Chris Noble fährt in seinem blauen Peugeot zur Einstiegsstelle. Thurso East sieht jetzt endlich so aus wie in den Surfvideos, die Kyle gesehen hatte. Im Wasser selbst wirken die Wellen noch größer. Er paddelt auf seinem Brett, seine Beine angewinkelt. Als eine Welle kurz vor ihm zusammenkracht, taucht er unter und krallt sich mit den Händen im Seegras des Riffs fest, lässt die Strudel über sich hinwegdonnern. Er sieht eine neue Welle kommen, paddelt, so schnell es geht, springt aufs Brett und gleitet hinunter, dann nach rechts, als wolle er das Wasser mit seiner Brettkante aufschlitzen. Immer und immer wieder.
Abends am Lagerfeuer jucken seine Hände von der Kälte. Doch als er von den Wellen erzählt, hat Kyle ein großes Grinsen im Gesicht. »Es fühlt sich an, als ob man gegen die Natur kämpft«, sagt er, »Und heute habe ich gewonnen!«
Hinkommen
Das ist nicht ganz einfach. Zuerst muss man mit Easyjet nach Edinburgh fliegen. Dann mit einem Mietauto sechs Stunden über einspurige Bergstraßen fahren. Mit dem Zug dauert es fast acht Stunden (scotrail.co.uk).
Oder: Ab dem Flughafen Inverness fährt man zwei Stunden mit dem Auto. Die Entschädigung ist die Aussicht – Schafe, weite Felder, Berge und Meer.
Unterkommen
Von April bis Oktober im Komfortcaravan mit Blick auf die Bucht (ab 60 Euro für zwei Personen, thursobayholidays.co.uk).
Holzbett mit Frühstück, ohne Schnickschnack:
Sandras Hostel (DZ ab 45 Euro, sandrasbackpackers. co.uk).
Rumkommen
Nach Orkney vom Hafen Scrabster mit der Fähre (northlinkferries.co.uk). Oder die A 836 nach Westen nehmen. Besonders schön: der einsame Strand Farr Bay, eine Dreiviertelstunde von Thurso entfernt.
Unbedingt
Für Surfer ohne Ausrüstung: Vorher im Café Tempest (cafetempest.co.uk) fragen, ob sie noch genügend zum Ausleihen haben.
Als Belohnung danach bei Mackay am Pier frisch geräucherte Makrele essen.
Wie es aussieht, wenn man Thurso East surft, seht ihr hier im Video.
Dieser Text ist in der Ausgabe 01/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.