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Freizeit Die Unruhe nach dem Sturm

Freizeit: Die Unruhe nach dem Sturm
Vor einem Jahr zerstörte der Taifun »Yolanda« Teile der Philippinen. Für viele Mädchen und Frauen folgte eine zweite Katastrophe.

Text: Carsten Stormer | Fotos: Veejay Villafranca

Bevor sie ihr die Jugend stehlen, wälzt sich Yzrah Leigh Gazpar stundenlang im Bett. Die Nacht zum 4. Oktober dieses Jahres ist in Tolosa heiß und schwül. Es ist kurz nach Mitternacht. ­Yzrah kann nicht schlafen. Ihre Sachen kleben am Körper, die Mücken plagen sie und seit einer Ewigkeit muss sie dringend pinkeln. Ganz sachte, um die Mutter nicht zu wecken, mit der sie sich die Schaumstoffmatratze teilt, schiebt sie das Laken beiseite und kriecht aus dem Bett. Es sind nur ein paar Schritte durch die Hütte, von der der Sturm vor einem Jahr nur die Küche stehen ließ und ein halbes Schlafzimmer. Ein paar Schritte bis zu dem Plumpsklo draußen im Garten. Yzrah trägt ­rote Shorts mit weißen Punkten und ein rotes Träger­shirt mit eingewebten Silberstreifen. Leise schlüpft sie hinaus in die Nacht. Das Display ihres Mobiltelefons leuchtet ihr den Weg.

Den Mann, der im Garten auf sie lauert, sieht sie nicht.

Erst als er seine Hand um ihren Hals legt, spürt sie die Gefahr. Mit der anderen Hand drückt er auf ihre Nase. Dann verliert Yzrah Leigh Gazpar das Bewusstsein.

Als sie wieder aufwacht, weiß sie zunächst nicht, wo sie sich befindet. Um sie herum: Büsche und Gestrüpp. Ein fahler Halbmond wirft silbernes Licht durch die Bäume. Erst allmählich wird ihr bewusst, was gerade geschehen ist. Sie wundert sich, warum ein Mann auf ihr liegt, er ist schwer und nimmt ihr die Luft. Ein anderer Kerl steht daneben und uriniert an eine Palme. Dann spürt sie etwas Warmes, Klebriges an ihrem Bauch herunterlaufen. Yzrah Leigh Gazpar ist dreizehn Jahre alt.

»Yzrah! Yzrah! Wo bist du?« Die Stimme ihrer Mutter ist ganz nah. Die beiden Männer verschwinden im Gebüsch. »Dayay, Dayay«, hört sie die Mutter ihren Kosenamen rufen. »Dayay, Dayay«, immer wieder, mal lauter, mal leiser. Yzrah antwortet nicht, verkriecht sich hinter dem Stamm einer Kokospalme, schließt die Augen und hofft, dass die Täter nicht zurückkehren. Erst zwei Stunden später wagt sie sich aus ihrem Versteck und merkt, dass sie sich nur wenige Schritte von ihrer Wohnung befindet. Die Männer hatten sie einfach in das Gebüsch hinters Haus geschleppt.

Freizeit: Eine Zeltstadt am Rande von Guiuan. Hier traf der Taifun erstmals auf Land. Tausende Menschen leben heute noch in Provisorien.
Eine Zeltstadt am Rande von Guiuan. Hier traf der Taifun erstmals auf Land. Tausende Menschen leben heute noch in Provisorien.

Yzrah teilt ihr Schicksal mit vielen Frauen in diesem Teil der Philippinen. Frauen hatten es hier in dieser armen Region nie leicht. Doch seit der Katastrophe am 8. November 2013 ist die Gewalt der Männer, die die Frauen hier ertragen müssen, zu einer zweiten zerstörerischen Kraft geworden. An diesem Tag verwüstete einer der stärksten jemals gemessenen Wirbelstürme große Teile des Landes. Tagelang hatte sich der Sturm Haiyan über dem Pazifik zusammengebraut, bis er dann in den Morgenstunden auf das Land traf. Böen von über 379 Stundenkilometern und fünf Meter hohe Flutwellen verwüsteten die Provinzen Leyte und Ost-Samar. 6200 Menschen starben, 27 000 wurden verletzt. Bis heute gelten mehr als tausend Menschen als vermisst. Die Philippiner tauften den Sturm »Yolanda«.

Doch der Tropensturm mit dem schönen Namen zerstörte nicht nur Leben, Besitz und Existenzen. Er hinterließ in den zerstörten Gebieten ein Vakuum, einen rechtlosen Raum, in dem zivilisatorische Regeln nicht mehr gelten. In dem Vergewaltiger nicht mal fürchten müssen, bestraft zu werden. Weil es hier in vielen Gemeinden kaum handlungsfähige staatliche Akteure gibt, die sich den Verbrechern entgegenstellen können. Oder wollen. Weil hier jeder zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt ist, um sich um den Nachbarn, die Nachbarin zu kümmern. Weil hier nur noch das Recht des Stärkeren gilt, und junge Frauen und Mädchen nicht zu den Stärkeren gehören. Hunderte wurden in den Monaten nach dem Sturm geschlagen, vergewaltigt, missbraucht oder fielen in die Hände von Menschenhändlern. Die Gefahr ist überall. Bis heute.

Drückende Monsunhitze liegt über den Wellblechdächern Tolosas, der kleinen Gemeinde in der Provinz Leyte im Osten der Philippinen, in der Yzrah zusammen mit ihrer Mutter Yazelle, der Großmutter und zwei älteren Brüdern lebt. Yzrah ist ein höfliches, großes, schönes Mädchen mit langen schwarzen Haaren, das auf Taylor Swift und Avril Lavigne steht, Bücher liebt und sonntags mit ihren Freundinnen im Kirchenchor singt. Doch seit jener Nacht vor drei Wochen wagt sie sich kaum noch aus dem Haus. Sie sitzt im Schneidersitz auf ihrem Bett und knetet unaufhörlich ihre Finger, während sie mit leiser Stimme, fast flüsternd, ihre Geschichte erzählt. Sie versucht, sich die Angst nicht anmerken zu lassen. Sie zwingt ein Lächeln in ihr Gesicht, bis ihre Mundwinkel zittern, und unterdrückt ihre Wut, wenn sie von den Polizisten spricht, die bis heute ihre Aussage nicht aufgenommen haben. Yzrah zeigt auf eine Plastiktüte im Regal neben dem Bett, in dem ihre Mutter den Rock und das T-Shirt mit den getrockneten Spermaflecken aufbewahrt. »Niemand hilft uns«, sagt das Mädchen und starrt auf die Handflächen. Niemand unternimmt etwas, um die beiden Männer zu finden, die ihr das angetan haben und sie nachts nicht mehr schlafen lassen.

Inzwischen weiß auch das Dorf Bescheid. Mitschüler, Nachbarn, selbst ihre Lehrer tuscheln über sie. Vor ein paar Tagen erhielt sie die SMS eines Mitschülers. Er schrieb, dass er mit ihr Sex haben wolle. Sie hat die Nachricht sofort gelöscht.

Catherine Poro kennt Geschichten wie diese gut. Zu gut. Sie kann sie kaum ertragen. Wie jeden Morgen sitzt die 35-jährige Polizistin in ihrer Kammer in der Polizeistation von ­Borongan City, vier Autostunden südlich von Yzrahs Heimatdorf Tolosa, und liest die ­Berichte des vergangenen Tages. Als leitende Ermittlerin für alle Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in der Provinz Ost-Samar ist Catherine ­Poro zuständig für 22 Gemeinden mit rund 400 000 Einwohnern auf etwa 4600 Quadrat­kilometern. Ihre Waffen: ein alter Computer ohne Internetanschluss, ein Mobiltelefon und ­jede Menge verzweifeltes Engagement.

Freizeit: Sarah Tablatin (ganz links) geht mit ihren Mitstreiterinnen auf Patrouille durch ihr Viertel, um Gewalt zu verhindern.
Sarah Tablatin (ganz links) geht mit ihren Mitstreiterinnen auf Patrouille durch ihr Viertel, um Gewalt zu verhindern.

Sie tippt Befehle in ihren Rechner, wartet, kratzt sich am Kopf, sieht nach, warum der Drucker nichts ausspuckt, flucht, weil mal wieder kein Papier nachgelegt wurde, und hält nach ein paar Minuten fünf eng bedruckte Papierbögen in den Händen. »Das sind alle Strafanzeigen seit dem Sturm. Das größte Problem«, sagt sie: »Gewalt gegen Frauen.« Das zweitgrößte: »Gewalt gegen Kinder, vor allem Mädchen.« Catherine Poros Zeigefinger gleitet über die Liste; ein Busfahrer, der eine Passagierin vergewaltigte, Ehemänner, die ihre Frauen schlugen, Onkel, die ihre Nichten missbrauchten, Männer, die Frauen begrapschten, Mädchen, die an Karaokebars verkauft wurden, Schülerinnen, die in Bordellen landeten, häusliche Gewalt, Totschlag, Mord. Insgesamt 244 Fälle und bislang nur zwei Verurteilungen. »Und das sind nur die Taten, die uns gemeldet werden«, sagt Catherine Poro, atmet einmal tief aus, wie ein Ventil, das Überdruck ablässt. Früher, vor dem Sturm, sei das anders gewesen. Da habe es nicht so viel Gewalt gegen Frauen gegeben. Dann sinkt sie schweigend auf den Plastikstuhl vor ihrem Schreibtisch und breitet die Arme aus, als wolle sie sagen: Was soll ich denn machen?

Dutzende internationale Hilfsorganisationen operieren in den Provinzen Leyte und Ost-Samar noch immer im Notfallstatus und versuchen, Hilfsgelder unter die Leute zu bringen. Häufig misstrauen sich lokale Behörden und globale Helfer oder reden aneinander vorbei. Auch Catherine Poro beschwert sich über Helfer, die Gewaltopfer unterstützen, aber nicht mit den Behörden kooperieren wollen. »Sie teilen ihre Informationen nicht mit uns. Wie soll ich die Täter finden, wenn ich keinen Zugang zu den Opfern bekomme«, sagt sie und schlägt ihre rechte Faust in die linke Handfläche.

Doch jammern bringt nichts, sagt sie, es muss weitergehen. Sie bindet ihr Haar zu einem Pferdeschwanz, zupft sich die Uniform zurecht und verlässt die Polizeistation, um wie jeden Tag ihre Runden in Borongan City zu drehen, in der einen Hand eine Trillerpfeife, in der anderen einen Schirm gegen die Sonne. Sie kämpft sich durch das Gewühl aus Fußgängern, Straßenhunden, Marktständen und Sammeltaxis, tänzelt an Abfallhaufen und Schlaglöchern vorbei und biegt dann in eine ruhige Seitengasse ein. An deren Ende, hinter einem Eisentor, eingerahmt von Mangobäumen und Bananenstauden, liegt ein Schutzhaus der philippinischen Regierung. Zufluchtsstätte für sechzehn missbrauchte Mädchen im Alter von sieben bis siebzehn Jahren. Catherine Poro kennt sie alle.

Freizeit: Obdach: ein einzelnes Notzelt am Strand der Stadt Hernani in Ost-Samar.
Obdach: ein einzelnes Notzelt am Strand der Stadt Hernani in Ost-Samar.

Merla Arma, die vierzigjährige Heimleiterin, begrüßt die Polizistin. Es sei schwer, erzählt die Sozialarbeiterin, sich ganz alleine um all die Mädchen zu kümmern. »Gerade jetzt in den Schulferien ist es schwierig.« Weil die Kinder das Heim aus Sicherheitsgründen nicht ver­lassen dürfen, müsse man sie permanent ­beschäftigen. Morgens malt Arma mit ihnen Bilder – auf denen Monstermasken, Vampire und ­blutige Messer zu sehen sind. Mittags singen sie gemein­sam Kirchenlieder und Popsongs, während sie sich an den Händen halten. Jetzt gerade tanzen im Gemeinschaftsraum ein Dutzend Mädchen zu Shakiras »Waka Waka« und lachen sich dabei kringelig.

Wann immer sie Zeit findet, schaut Catherine Poro im Heim vorbei. Nachts stehen zwei Polizisten Wache. Man weiß ja nie. Die Polizistin möchte die neunjährige Trisha, die Anfang Oktober ins Heim kam, besuchen. Ein paar ­Tage nach dem Taifun begann ihr Onkel, die Kleine regelmäßig zu vergewaltigen. Immer zu Hause; in der Küche, im Garten, im Schlafzimmer. Seitdem sie ins Heim kam, blickt Trisha meistens still aus dem Fenster des Schlafsaals, und wenn man sie fragt, was passiert ist, schließt sie die Augen und ballt ihre kleinen Hände zu Fäusten. Oder die vierzehnjährige Jovelyn, deren Schicksal ans Licht kam, als sie und ihre Tante nach dem Sturm evakuiert wurden: Jahrelang war sie misshandelt, geschlagen und als Haussklavin gehalten worden. Vor sieben Jahren hatte Jovelyns Mutter ihre Tochter an die Tante abgegeben, die beiden Brüder an einen Ausländer verkauft und war in die Hauptstadt Manila verschwunden. Jovelyn hat nie wieder etwas von der Mutter gehört.

Eine Stunde später verlässt Catherine Poro bedrückt das Schutzhaus. Obwohl sie schon oft hier war, ist sie noch immer erschüttert, wenn sie Kinder trifft, deren Leben zerstört sind, bevor sie richtig begonnen haben. Zum Abschied winkt sie zwei Mädchen zu, die im Hof Felder für Hüpf­spiele mit Kreide auf den Asphalt malen.

Freizeit: Yzrah Leigh Gazpar (im Hintergrund) und ihre Mutter: »Niemand hilft uns.« Die Polizisten im Ort haben bis heute nicht ihre Aussage zur Vergewaltigung aufgenommen.
Yzrah Leigh Gazpar (im Hintergrund) und ihre Mutter: »Niemand hilft uns.« Die Polizisten im Ort haben bis heute nicht ihre Aussage zur Vergewaltigung aufgenommen.

Es gibt viele Versuche, zu erklären, warum die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach Yolanda zugenommen hat: unbehandelte Traumata, Hoffnungslosigkeit, Armut, Arbeitslosigkeit, unverarbeitete Trauer. Bis heute haben sich die Menschen nicht von dem Schock erholt, den der ­Taifun auslöste. Wer durch die betroffenen Provinzen reist, findet überall Zeugnisse des Sturms. Kopflose Kokospalmen ragen wie riesige Zahnstocher in den Himmel. ­Abgeknickte Strommasten. Weggeschwemmte Straßen. Zerstörte Häuser. Und überall Massengräber, auf denen Angehörige in stiller Trauer Kerzen anzünden. Sechshundert ­Tote in einem Gemeindegarten, dreihundert ­liegen unter einer Verkehrsinsel begraben, ein paar Dutzend in einer verfallenen spanischen Kirche, selbst in Reisfeldern stehen nun Grabsteine.

Würde man nicht vermuten, dass Menschen im Angesicht einer solchen Heimsuchung eher zusammenrücken? Tatsächlich haben sich nach Yolanda viele gegenseitig geholfen und das wenige, das geblieben war, geteilt. Doch wenn die Not zu groß wird, denken manche nicht mehr an andere, sondern nur noch an sich selbst. Schon nach Abflauen des Sturms kam es in vielen von der Katastrophe betroffenen Gebieten zu Plünderungen.

Von den Yolanda-Überlebenden hausen noch immer Abertausende in Zeltstädten am Rande der zerstörten Ortschaften; ohne Strom und fließend Wasser. So wie in dem 47 000-Einwohner-Städtchen Guiuan in der Provinz Ost-Samar. Hier traf Yolanda erstmals auf Land. Inzwischen ist wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Auf dem Markt bieten die Fischer ihren Fang feil. Auf dem Rathausplatz machen ein paar Dutzend Frauen Aerobic. Und in der Ruine der Kirche der unbefleckten Empfängnis hält ein Priester im Nieselregen eine Messe. Am Rande der Stadt befindet sich Tent City. Eine Ansammlung aus 105 Zelten mit den Logos internationaler Hilfsorganisationen, in denen 509 Menschen leben, die bis heute nicht in ihr altes Leben zurückgefunden haben.

In der Zeltstadt haben Hilfsorganisationen ­den sogenannten Women Friendly Space (WFS) eingerichtet. Es gibt einige von diesen WFS im Katastrophengebiet. Männerfreie ­Schutzzonen für Frauen und Mädchen. Ein paar Quadrat­meter Sorglosigkeit in einem Zelt oder einer Wellblechhütte. Orte, an denen Frauen sich austauschen, ihre Sorgen abwerfen und ihr Leid klagen können. Wo sie Ansprechpartner, psychologische Hilfe, Workshops finden und bekommen. Aber weil es von diesen Orten nicht genug gibt und weil Worte und guter Wille oftmals nicht ausreichen, um Gewalt zu verhindern, greifen einige Frauen auch zu handfesteren Methoden.

Freizeit: Die Polizistin Catherine Poro ist in der Provinz Ost-Samar zuständig für Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Vor dem Sturm sei die Lage nicht so dramatisch gewesen, sagt sie.
Die Polizistin Catherine Poro ist in der Provinz Ost-Samar zuständig für Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Vor dem Sturm sei die Lage nicht so dramatisch gewesen, sagt sie.

Es ist sieben Uhr abends, die Nacht spannt sich wie ein schwarzes Tuch über die Provinzhauptstadt Tacloban, als sich zwölf Frauen im Women Friendly Space einer Barackensiedlung am Stadtrand treffen. Auf ihren T-Shirts steht: »Gewalt gegen Frauen und Kinder stoppen«. Bewaffnet mit Rattanstöcken patrouillieren sie Nacht für Nacht durch ihre Nachbarschaft, um die Gewalt in Schach zu halten.

Sarah Tablatin ist eine schmale Frau mit tiefen Falten auf der Stirn. Ungeduldig trommelt die 48-Jährige mit den Fingern auf die Tischplatte. Jenalyn und Mary Joy sind mal wieder zu spät, und jetzt beginnt es draußen auch noch zu schütten. Wie alle hier ist Sarah Tablatin ein Opfer des Sturms. Er fegte ihre Hütte fort. Und die Flutwellen rissen fünf ihrer sieben Kinder mit ins Meer. »Ihre Leichen wurden nie gefunden. Ich konnte mich nicht verabschieden«, sagt sie und wischt sich eine Träne von der Wange. Die Erinnerung an diesen Tag begleitet sie. Ein ständiger Schmerz.

Seit elf Monaten lebt sie in der Siedlung. 315 Familien, 1421 Menschen, die der Sturm obdachlos gemacht hat, zusammengepfercht in siebzehn Holzbaracken; jeweils sechs Personen auf zwanzig Quadratmeter – ohne Toilette, fließend Wasser. Eine Übergangslösung, die zum Dauerzustand geworden ist. Die Bewohner haben sich in dieser Zwischenwelt eingerichtet; mit schmalen Gemüsegärten, Kiosken und Karaokebars. Täuschen Alltag vor, während sie darauf warten, dass die philippinische Regierung sie wie versprochen umsiedelt.

Der Regen hat aufgehört und inzwischen sind auch alle Nachzügler eingetroffen. Zwei Stunden lang laufen sie durch die Gassen, tratschen mit Nachbarinnen, ermahnen tobende Jungs, nicht auf die Straße zu laufen, schieben eine Fahrradrikscha beiseite, die einen Eingang blockiert. Probleme erkennen, bevor sie entstehen. Zuhören, hinschauen. Darum gehe es, sagt Tablatin. Manchmal schlage ein Ehemann im Suff zu, dann gehen sie dazwischen. Einmal wurde es richtig ernst, als ein Mann versuchte, eine Frau zu vergewaltigen. »Den haben wir der Polizei übergeben.«

Freizeit: Eine Unterkunft für Mädchen und Frauen, die Opfer von Gewalt und Menschenhandel ­wurden. Hier im Women Friendly Space sind sie erst mal geschützt.
Eine Unterkunft für Mädchen und Frauen, die Opfer von Gewalt und Menschenhandel ­wurden. Hier im Women Friendly Space sind sie erst mal geschützt.

Die nächtlichen Patrouillen sind auch ein Weg, die Bilder zu verarbeiten, die der Sturm in ihren Köpfen hinterlassen hat. Ein Mittel, die Deutungshoheit über das Leben zurückzu­gewinnen. »Ich helfe mir selbst, indem ich andere beschütze«, sagt Tablatin und schlägt den Rattanstock sachte gegen ihren Oberschenkel. Als der Regen erneut einsetzt und die Bewohner der Siedlung in ihren Baracken verschwinden, beenden die Damen ihre Streife und wünschen sich eine gute Nacht.

Yzrah Leigh Gazpar sitzt im Haus ihrer Großmutter in Tolosa auf einem Rattanstuhl, eine Haarsträhne hat sie wie einen Kranz um ih­ren Kopf gebunden, und liest ihr Lieblingsbuch: »Triumph auf Eis«, die Biografie der Eiskunstläuferin Tara Lipinski. »Ich habe es bestimmt dreißig Mal gelesen«, sagt sie. Als ihr Telefon summt, klappt sie das Buch zu und liest die Kurznachricht. Ihre Cousine hat ihr eine Geburtstagseinladung geschickt, kommenden Sonntag am Strand, mit allen Kindern der Nachbarschaft. Yzrah blickt ihre Mutter Yazelle an. »Darf ich?«, fragt sie leise.