Fotos: Frank Stolle
Lars schnauft wie ein Walross. Hanna und Nora mustern skeptisch die steilen Flanken, die uns umgeben. Frank versinkt bei jedem Schritt bis zur Taille. Wir stecken fest. Wenige Stunden nach Beginn der Tour haben wir den ersten Anstieg vor uns, von Gargellen im Montafon hinauf zur Schweizer Grenze. Und schon stellt sich die Frage, ob unser Vorhaben funktioniert. Könnte es sein, dass – entgegen der in den Alpen heute am weitesten verbreiteten Angst – einfach zu viel Schnee liegt?
Wintersport verändert sich gerade grundlegend. Die Neunzigerjahre waren von Carvingskiern geprägt. Die Geräte kommen aus dem Rennsport und eignen sich vor allem für den Einsatz auf planierten Pisten. Doch kurz nach der Jahrtausendwende sah man in den Liftschlangen die ersten Skier, die auf den ersten Blick wirkten wie zwei Snowboards: enorm breit, kaum tailliert, für die Piste untauglich. Durch den tiefen Schnee neben den Absperrungen allerdings glitten die Besitzer mit einer Leichtigkeit, die man bis dahin nur von Snowboardern kannte. Jetzt machen Freerideskier zum Teil mehr als die Hälfte des Angebots der großen Skihersteller aus. Die Sportgeschäfte sind voll mit Lawinenschaufeln und Overalls, durch die keine Flocke dringt. Freeriden, das freie Fahren im Gelände, ist auf dem Weg zum Breitensport.
Aber wie legt man möglichst viele Höhenmeter in unverspurtem Gelände zurück, ohne sich allzu sehr beim Aufstieg abmühen zu müssen? Wie nutzt man die Möglichkeiten des neuen Materials optimal – und entkommt gleichzeitig der wachsenden Masse Gleichgesinnter? Die Idee zu unserer Reise liegt eigentlich auf der Hand. Jeder Skifahrer, der seinen Sport liebt, stand schon an einer Gipfelstation und blickte hinunter in das andere Tal: die Seite des Berges, auf der keine Piste hinunterführt, sondern freie Hänge, die niemand betritt, weil niemand weiß, wie er dann zurück zum Auto kommen soll. Deshalb ließen wir das Auto zu Hause und verbanden mit Hilfe der Bahn möglichst viele »Rückseiten« miteinander – zu einer Reise auf Skiern und Schiene.
Im Hochwinter 2012 liegt eine mächtige Schneedecke über den Nordalpen. Von Anfang Dezember bis Ende Januar hat es mehr oder weniger durchgeschneit. Gut für uns. Doch dann kommen sibirische Kälte und ein stabiles Hoch. Das führt dazu, dass trotz bester Unterlage nicht mehr allzu viele unverspurte Hänge zu holen sind. Zum Glück fängt es endlich wieder an zu schneien, mehr als einen halben Meter binnen weniger Tage.
Wenn Lars die Tour schafft, ist Freeriden massenkompatibel
Unsere Route führt vom Montafon in Vorarlberg durch den Schweizer Kanton Graubünden. Die Reisegruppe: Nora, gute Skifahrerin, fit und neugierig. Hanna, die irgendwann mal Skikurse für Kleinkinder gegeben hat und der gewalzten Piste schon länger nichts mehr abgewinnen kann. Der Fotograf Frank, der als lebender Anachronismus die Tour mit Schneeschuhen und Snowboard zurücklegen will. Der Autor, der schon vor einigen Jahren zurück auf die Skier gefunden hat. Und Hannas Freund Lars: ehemaliger Snowboarder, frisch auf den Ski umgestiegen, mehr als zwei Zentner Lebendgewicht. Wenn er die Tour schafft, ist Freeriden massenkompatibel.
Jetzt müssen wir es erst mal hoch zum St. Antönier Joch schaffen. Wir schaufeln uns zurück an die Schneeoberfläche und diskutieren die Lawinengefahr. Die Steilhänge, aus denen Schneebretter drohen, sind weit von unserer Aufstiegsroute entfernt, der Hang hinauf zum Joch ist nur mäßig steil. Wir beschließen, uns hinaufzuwühlen. Statt der veranschlagten Dreiviertelstunde brauchen wir doppelt so lang. Dann ist auch Lars oben, umarmt den Grenzpfosten und entfernt keuchend die Steigfelle von seinen Skiern. Die ersten Schwünge unter dem ungewohnten Gewicht auf dem Rücken fallen schwer.
Aber bald läuft es. Nach drei Hängen erreichen wir eine verschneite Bergstraße, der wir bis zu den ersten Häusern folgen: St. Antönien. Eine Kirche, ein paar Bauernhöfe und wenige Gasthäuser.
Skitourismus hat in den Alpen eine lange Geschichte. Auf unserer Tour stoßen wir immer wieder auf Reste einer alten Infrastruktur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Winterurlaub noch so betrieben wurde, wie wir es jetzt wieder versuchen: Skihäuser und Gasthöfe abseits der erschlossenen Gebiete, in denen die Urlauber ihre Schneeferien, heute würde man sagen: entschleunigt verbrachten. Einfache Küche, bisschen Skiwandern, kein Stress. Wir quartieren uns in einem der Gasthöfe ein, Bettenlager, keine Schirmbar. Ein Ort, wie man ihn als Pistenskitourist kaum noch zu Gesicht bekommt.
Die rasante Entwicklung des Freeridens ist nicht nur der Ausrüstung zu verdanken. Auch im vermeintlich kritik- und krisenresistenten Skizirkus gibt es eine Orientierung zurück zur Natur. Der Sport findet zu seinen Wurzeln. Auch das Freeride-Skifahren unterliegt den Gesetzen der Trendsports: Es ist gerade frisch, gerade neu, gerade heiß. Aber es entspricht auch einem Zeitgeist, der sich vom ökologisch fragwürdigen Konsum einer mit immer mehr Aufwand betriebenen Winterferienindustrie entfernt: lieber eine besondere Abfahrt am Tag als hektische Raserei auf beschallten und nachts beleuchteten Kunstschneepisten. Selbst das Tourengehen, die grundehrliche Version des Skisports, in der jeder Abfahrtsmeter zu Fuß gewonnen werden muss, erlebt einen Aufschwung. Doch schon auf einer weniger sportlichen Unternehmung wie unserer seilbahngestützten Variante entdeckt man eine Alpenwelt, von der man gar nicht dachte, dass es sie noch gibt.
Der Zeitgeist entfernt sich von der Winterferienindustrie
Am nächsten Morgen schlüpfen wir in unsere Klamotten vom Vortag, eine Praxis, an die sich vor allem die Damen gewöhnen müssen. Dann nehmen wir den Bus zum Bahnhof Küblis und steigen in einen Panoramawagen der Rhätischen Bahn. Skiständer zwischen den Abteilen, Blick auf die die Hänge rund um Davos: als wäre das alles genau für uns so angelegt worden. Mit der Gotschnabahn geht es hinauf Richtung Parsenn, wir nutzen Schnee und Sonnenschein für ein paar Abfahrten ohne Gepäck, bevor wir einen ersten Blick in die entscheidende Abfahrt des Tages werfen: vom Weissfluhgipfel in Richtung Arosa. Nora und Hanna sind heiß auf immer mehr Tiefschnee, auf das Gefühl von Schwerelosigkeit, das sich im Vergleich zum Pistenschwung einstellt. Und auch Lars fühlt sich schon am zweiten Tag sicher genug, um eine steile Rinne unter dem Gipfel zu befahren, ein kurzer Gegenanstieg beschert uns eine weitere Abfahrt – klappt das, nach den Schwierigkeiten beim Einstieg, jetzt einfach alles zu gut? Noch vor einigen Jahren hätte man solche Abfahrten nur mit einem halben Skifahrerleben Erfahrung bewältigt.
Etappen
Gargellen - St. Antönien
Mit Bahn und Bus ins Montafon. Aufstieg von Gargellen zum St. Antönier Joch, mit Steigfellen etwa 45 Minuten. Abfahrt nach St. Antönien. Entspricht einer Hälfte der »Madrisa Rundtour«. Am günstigsten mit Tourengeherkarte Gargellen für 22,80 Euro. Mehr: bergbahnen-gargellen.at. Unterkunft in St. Gallenkirch für einen Warmfahrtag: basemontafon.at; Übernachtung in St. Antönien: hinterdemmondlinks.ch.
St. Antönien – Skihaus Casanna
Mit der Bahn von Küblis nach Klosters. Bergfahrt mit der Gotschnabahn und weiter zum Weissfluhgipfel. Am besten Tageskarte kaufen, im Skigebiet austoben und nachmittags RichtungLangwies zum Skihaus Casanna: skihaus-casanna.ch.
Skihaus Casanna – Tschiertschen – Arosa
Abfahrt nach Langwies. Mit der Bahn nach Arosa. Eine Kombitageskarte für alle drei Gebiete Arosa, Tschiertschen und Lenzerheide gibt es für 68 Schweizer Franken. Der Verlauf ab Arosa folgt der Arosa-Rundtour. Übernachten in Tschiertschen: huehnerkoepfe.ch; in Parpan: hotelalpinaparpan.ch. Von Arosa mit der Bahn nach Hause.
Jetzt jubelt sogar der Frischumsteiger vom Snowboard, Lars, nach jedem Hang, den er dank seines Mutes und der gutmütigen Breitski etwas hüftsteif, aber rasant bewältigt. Im Skihaus Casanna blättern wir in Gästebüchern aus Zeiten, in denen man noch in Steghosen fuhr. Der Wirt Christoph Menegon, Ende sechzig, serviert Schnäpse und erzählt, dass die acht Meter hohen Telefonmasten zur Hütte fast verschwunden seien: »So viel Schnee wie dieses Jahr braucht man nicht jeden Winter.« Hallo? Da sich zum Abend weder Bergfinken noch Alpenbraunellen einfinden, ist am nächsten Tag mit gutem Wetter zu rechnen, sagt Frau Margrit. Umso besser. Wir haben noch ein paar tausend Höhenmeter vor uns: weiter nach Arosa, wo wir mit der sogenannten »Skisafari« nach Tschiertschen und Lenzerheide abschließen wollen.
Wir haben dafür drei Tage Zeit, und das ist auch gut so: Zu sehr genießen wir das Gefühl, als autarke Skieinheiten unterwegs zu sein, den schönen Trott von auf die Skier in die Hütte auf die Skier in die Hütte auf die Skier in die Bahn auf die Skier. Wir begegnen Steinböcken und einer Hirschkuh. Einheimische Freerider geben uns bereitwillig Tipps, wenn wir ihnen von unserer Reise erzählen. In einer zwielichtigen Unterkunft im winzigen Skigebiet Tschiertschen verwickelt uns der Koch in ein Pokerturnier und lädt uns zu schwerem portugiesischen Rotwein ein. Glücklicherweise können wir am nächsten Vormittag bei dichtem Schneetreiben im Matratzenlager unter grauen Armeedecken ausschlafen.
Wir lieben das Gefühl, als autarke Skieinheit unterwegs zu sein
Insgesamt funktionieren die Traversen per Ski und Lift so gut, dass Lars sich zwischenzeitlich erschöpft beschwert, das Bahnfahren komme zu kurz. Vom Parpaner Rothorn spaziert man mit den Skiern auf der Schulter einen Grat entlang, eine Viertelstunde.
Dann liegt schon wieder so eine Abfahrt vor einem: ohne Spuren, ohne sichtbares Ende. Wir wissen nur, dass sie nach Arosa führt. Es ist die letzte für dieses Mal. Wir stinken, die Füße tun uns weh. Nora und Hanna sind erstaunt, dass wir die Tour tatsächlich ohne Bergführer geschafft haben. Frank, der Snowboarder, ist sich nicht mehr sicher, ob der Ski nicht doch das überlegene Gerät ist. Aber in einem Punkt sind wir uns einig: Nächsten Winter werden wir das Auto wieder zu Hause lassen.
Vorbereitung
Jede Tour mit Ski und Bahn mit genügend Zeitpuffer planen: Schließlich soll in den Skigebieten Zeit für ein paar Extraabfahrten sein. Für Touren in der Schweiz unschlagbar ausführlich und genau: die Tourenführer vom SAC. Wer erst einmal ein Gefühl für einzelne freeridetaugliche Skigebiete bekommen möchte, findet ausgewählte Abfahrten in Freeride-Guides wie dem »Powderguide« (Panico Alpinverlag) oder »Die schönsten Freeride-Touren in den Schweizer Alpen« (AT Verlag). Außerdem bei der Vorbereitung hilfreich (und auf Tour unerlässlich): Karten mindestens im Maßstab 1:50 000, besser 1:25 000. Auch sehr gut: die wasserfesten Karten von freeride-map.com. Wer sich ohne Bergführer oder Freeride-Guide ins unkontrollierte Gelände wagt, sollte Erfahrung haben und wissen, wie man mit der Sicherheitsausrüstung umgeht. Das lernt man am besten in einem Tiefschneekurs, zum Beispiel über den Deutschen Alpenverein.
Wettercheck
Der Winter ist zu kostbar, um bei Schneesturm und schlechtem Schnee im Hotel rumzusitzen. Vor einer mehrtägigen Tour also unbedingt Wetter und Schneelage checken. Die Lawinenlageberichte findet man für die Schweiz auf slf.ch, für Österreich auf lawine.at, für die relevanten deutschen Gebiete auf lawinenwarndienst-bayern.de. Schon ab Lawinenwarnstufe zwei wird es in manchen Hängen heikel. Natürlich freut man sich trotzdem über Pulver: Neuschneeprognosen gibt es zum Beispiel
auf powderguide.com. Ob man tatsächlich ins Gelände kann oder lieber auf den Pisten bleiben sollte, unbedingt vor Ort noch mal mit Bergführern, Liftleuten und Einheimischen klären.
Ausrüstung
Freeriden ist auch aufgrund der rasanten Entwicklung der Ausrüstung ein Spaß, der nicht mehr nur Profis vorbehalten bleibt. Neben Lawinenkenntnissen benötigt man trotzdem eine Grundausrüstung: Schaufel, Sonde und Verschüttetensuchgerät sollten immer dabei sei, außerdem ein Rucksack, am besten mit Lawinen-Airbag. Wer längere Touren plant, sollte sich eine Tourenbindung und Steigfelle zulegen. Die NEON-Runde schafft man, wenn nicht zu viel Neuschnee liegt, aber auch ohne Steigfelle und Tourenbindung. Was man sonst noch in den Rucksack packt? Möglichst wenig. Einmal Skiunterwäsche zum Wechseln sollte man sich aber zugestehen.
Dieser Text ist in der Ausgabe 01/13 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.