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Wissen Ausgekocht

Wissen: Ausgekocht
Soylent ist synthetische Nahrung. Manche sagen, die Zukunft. Wie fühlt es sich an, nur davon zu leben?

Fotos: Lucas Kromm

Dass ich mich in eine Maschine verwandle, begreife ich nicht ­sofort. Doch in der dritten Nacht des Experiments liege ich wach im Bett und denke auf einmal: Menschen, Tiere, Lebewesen essen. Ich aber tanke. Ich lebe von Sprit.

Mein Sprit heißt Soylent. In einem Paket aus Kalifornien haben mich sieben weiße Beutel erreicht, minimal, ultrazeitgemäß designt, irgendwo zwischen Lifestylepharmazie und Apple. »Soylent« steht auf den Beuteln, jeder wiegt genau 444 Gramm. Dazu sieben weiße Röhrchen mit schwarzem Deckel, »oil blend«, je 58,2 Milliliter. Weiter finde ich im Paket einen fest verschließbaren Kunststoffkrug (zwei Liter), eine Bedienungsanleitung, schließlich einen Brief vom Zoll: Dieses Paket wurde von den deutschen Beamten geöffnet, um den Inhalt zu prüfen.

Alle sieben Beutel sind bei Ankunft noch versiegelt, die Beamten haben nicht gekostet. Vielleicht haben sie »Soylent« gegoogelt und ­begriffen, dass es sich bei dem pulvrigen Inhalt nicht um Heroin, sondern um so etwas wie Nahrung handelt. Eine Woche lag es bei ihnen herum, bevor sie sich dazu durchringen konnten, es an mich weiterzuleiten. Sie wussten ja nicht, dass ich schon seit Monaten auf dieses Paket gewartet hatte.

Einen süßlicher Geruch mit pharmazeutischer Note schlägt mir entgegen

Ich habe den Soylent-Erfinder Rob Rhinehart das erste Mal Ende 2013 kontaktiert. Ich hatte im Netz über ihn gehört: dass er Softwareingenieur ist. Dass er kaum mehr isst, dass er sich zu 90 Prozent von einem selbst hergestellten Pulver ernährt und dass es ihm mit diesem Pulver sehr gut geht. Dass er sein Experiment im Netz dokumentiert, dass er auf einer Crowdfunding-Plattform in zwei Stunden mehr als 100 000 Dollar eingesammelt hat, um das Pulver zu einem Produkt zu machen, dass er nun auch als Lebensmittelfabrikant aktiv ist und die Welt erobern will. Ich bat ihn um eine Probe: das Paket aus Kalifornien.

Soylent für eine Woche. In dieser Zeit werden alle meine Kalorien, alle Nährstoffe und Vitamine von diesem Pulver kommen. Nichts anderes, nur Wasser und Kaffee. Kein Alkohol, kein Obst, keine Snacks.

Wissen: Ausgekocht

Am Abend vor dem Experiment betrinke ich mich. Als ich am nächsten Morgen verkatert aufwache, will ich instinktiv zu McDonald’s oder ein dick belegtes Brötchen, ich brauche Salz, Fett, um meinen angeschlagenen Magen zum Schweigen zu bringen, aber dann fällt mir ein: Nö. Es gibt nur Soylent. Ich habe schlechte Laune. Ich gehe zu meinem Kühlschrank, der mit den weißen Beuteln und Fläschchen nun eher einem Labor ähnelt. Ich öffne den ersten Beutel, ein süßlicher Geruch mit pharmazeutischer Note schlägt mir entgegen. Das mehlfeine, blassgelbe Pulver staubt in den Kunststoffkrug, Wasser drauf: Mmmmmmh. Unten matschiges Pulver, oben trübes Wasser. Schütteln. Nun den »oil blend« ­dazu, eine Mischung aus Fisch- und Rapsöl. Schütteln. Fertig. Nach drei Minuten. Vor mir steht mein Essen für den Tag. Schlammbraune Flüssigkeit. Die Hauptzutat von Soylent ist Maltodextrin, lese ich. ­Wikipedia meint dazu: »Maltodextrin ist ein wasserlösliches Kohlenhydratgemisch, das durch Hydrolyse von Stärke (Poly-α-glucose) hergestellt wird.« Weiter: Reisprotein (bitte?), Hafermehl (kenn ich!), dann nur noch Chemiebaukastenteile: DL-α-Tocopheryl-Acetat, ­Molybdän, Cyanocobalamin. WTF. Was bringt mir das?

Im Dezember 2012 lebt Rob Rhinehart mit zwei anderen Programmierern in San Francisco. Sie versuchen, ein Technologie-Start-up im Silicon Valley aufzubauen, es läuft nicht so super, sie arbeiten die ganze Zeit, dazwischen muss man als Mensch ja leider essen, in der Programmierer-WG gibt es zumeist Instantnudeln, Tiefkühl-Quesadillas und ­Vitamin-C-Tabletten. Rob, Zahlenwesen, berechnet, dass er mit Einkauf, Zubereitung, Konsum und Abwasch fast zwei Stunden mit Essen verbringt – pro Tag. Was für eine Verschwendung, denkt er, und: ­Warum ernähren sich Menschen im 21. Jahrhundert auf ähnliche Art wie im Mittelalter? Er überlegt sich, dass Menschen ja keine Lebensmittel ­aufnehmen, sondern nur die enthaltenen Substanzen. Dass wir Amino­säuren und Lipide brauchen, nicht Milch. Kohlenhydrate, nicht Brot.

Rob studiert Bücher und Websites über Ernährung, bestellt bei ­Onlineshops, bald sieht seine Küche aus wie ein Pharmalabor, überall Chemikalien in Pulverform, die Substanzen, die der Körper nach ­seinen ­Berechnungen braucht, um gesund und effizient zu laufen. Rob schreibt mir: »Ich sah all die Energie, die es gekostet hatte, mich zu ernähren. Die Herdplatten, das Wasser, den Strom, riesige schmutzige Farmen. Und das, dachte ich, für sieben Milliarden Menschen. Stell dir vor, was das Gesellschaft und Umwelt kostet.« Rob mixt die Pülverchen und Öle zusammen, gießt Wasser drauf, schüttelt, vor ihm steht: Soylent.

Utopien: Iss das!
Die Menschheit war nie zufrieden mit ihrem Menüplan. Doch nicht ­alle Ideen, die unsere Essgewohnheiten und die Welt revolutionieren sollten, haben sich durchgesetzt. Eine Übersicht.

1810: Konservendose
Entwickelt im Auftrag Napoleons, der nach haltbarer Verpflegung für seine Soldaten suchte. Der Dosenöffner ­wurde übrigens erst 1855 erfunden. Vorher machte man die Konserven mit Hammer und Meißel auf – oder 
mit dem Bajonett.
1902: Kokovorismus
Der in die Südsee ausgewanderte Apotheker August Engelhardt glaubte, dass die Kokospalme »das pflanzliche Ebenbild Gottes« sei und dass 
der ­Verzehr ihrer Nüsse unsterblich ­mache. Engelhardt aß fast nichts ­anderes mehr. 1919 starb er entkräftet
1939: Vollkornbrot
Der »Reichsvollkornbrotausschuss« setzte auf Vollwertkost, um die ­Deutschen fit zu machen für den Krieg. In den Propagandaschriften stand: »Das Brot ist ein heiliger Begriff, in ihm lebt der Geist vom Urquell der Kultur und der Urkraft unserer Rasse.«
1946: Mikrowelle
Wurde als Hightech-Wundermaschine gefeiert, die der Hausfrau das Leben leichter machen sollte. Noch in den 1980ern bewarb Moulinex sie mit dem Slogan »Für die beste Mutti der Welt!«. Heute gelten Mikrowellenköche eher als rückständige Fertiggerichtsopfer.
1975: Krill
Um die wachsende Bevölkerung mit Ei­­weiß zu versorgen, suchte das Bundesforschungsinstitut für Ernährung im Meer nach Alternativen zur umweltschädlichen Viehhaltung. Krill stellte sich allerdings als zu teuer heraus. Derzeit hoffen Forscher auf Insekten.
2004: Green Smoothie
Wie empfohlen fünfmal am Tag 
Obst oder Gemüse essen? Ganz schön zeitaufwendig. Der Smoothie ist die ­To-go­-Lösung für Gestresste ohne Zeit zum Schnippeln. Zutaten wie ­Grünkohl, Möhrenkraut und Vogelmiere sollen gesundheitlich Wunder wirken.
2013: 3d-Drucker
Kreatives Kochen mit Programmcode. Die NASA hat einen Pizzadrucker 
entwickelt. Der Nudelhersteller Barilla arbeitet an einem Gerät, das in Restaurants individuelle Pastasorten fabriziert, die Entwürfe sollen die Gäste auf dem USB-Stick mitbringen können.

Das Zeug im Kunststoffkrug, das ich nun in drei Portionen ­aufteile – Frühstück, Mittagessen, Abendmahl. Ich gieße mir ein Glas ein, koste und bin überrascht. Das schmeckt nicht schlecht. Nach Malz, süßlich, irgendwo zwischen Ovomaltine und Pfannkuchenteig. Am Glasrand bleibt es in Krusten und Schlieren kleben. In ein paar Zügen habe ich mein Glas geleert. Wie viel brauche ich? In einem Beutel Soylent sind 2000 Kalorien – die 444 Gramm Gewicht sind Zufall. Mein Körper setzt am Tag, wenn ich mich nicht sonderlich bewege, 2100 Kalorien um. Ich mache mit einer Packung am Tag also eine leichte Diät. Ich trinke das Glas aus. Die Nahrungsaufnahme ist in zwei Minuten vorbei. Es dauert auch nicht lange, bis sich mein Katermagen beruhigt hat. Ich merke: Das ist echte Nahrung!

Essen hat uns als Spezies ja, soweit wir das wissen, schon immer viel bedeutet. Wenn wir Steinzeitartefakte ausgraben, sind das fast ­immer Werkzeuge, die der Jagd, dem Zerlegen, dem Zubereiten von ­Essen gedient haben. Und in jedem Menschenleben spielt Essen von ­An­­beginn eine Rolle. Der erste Schrei des Säuglings wird mit der ­Mutterbrust oder einer Flasche beantwortet. Milch. Bald Brei, Karotten, Äpfelchen. Kakao im Kindergarten. Pausenbrot, Milchschnitte, Schule. Fast Food, Döner, Apfelkorn, Jugend. Das erste selbst ­gekochte Essen: Mirácoli, verbrannter Reis. Italienisch, Japanisch, Peruanisch. Molekular, Slow Food, Aldi, bio. Essen ist eine unserer ­fundamentalsten Schnittstellen zum Leben. Wir denken ständig ans Essen, lesen, hören, streiten darüber. Und wer die Rezepte und den Ernährungsplan der Welt verändert, verändert die Welt selbst.

Lebensmittelrevolutionen sind nichts Neues (in den 70er Jahren träumte man von Astronautenfutter für alle). Aber ­größere Pläne als Rob Rhinehart hatte noch kein Bauer, Koch, Fabrikant. ­Soylent, meint er, sei gesünder, ökologischer, vernünftiger als alles ­andere, und zwar gerade dadurch, dass es die Verbindung von Nahrung und Landwirtschaft aufhebt. Besser als bio – weil anti-bio. Soylent besteht größtenteils aus Laborprodukten, und Rob hofft, die wenigen organischen Zutaten wie Kohlenhydrate bald durch synthetische zu ersetzen. Das Motto: Ab in die Zukunft statt zurück zur Natur. Das klingt nicht schlecht, aber man fragt sich auch, was passiert, wenn sich sieben Milliarden Menschen von Soylent ernähren und nicht mehr von Rind und Weizen; auch synthetische Zutaten werden ja nicht aus Luft und Licht generiert, und ist eine Chemiefabrik wirklich besser als der Megabauernhof?

Soylent verändert nicht nur die ­äußere Welt, sondern auch mein Erleben meines Körpers. Mein Mund kaut nicht mehr. Mein ­Magen schrumpft, meine Verdauung wird geräuschlos und gefühllos. Ich gehe seltener und kürzer aufs Klo. Etwas passiert mit und in mir. Mein ­Körper hat sein ganzes Leben lang Essen aufgenommen, verbraucht, prozessiert, aber das ist vorbei. Ich fühle mich fremd in ihm.

Meine Mittagsflasche Soylent in der Hand begleite ich die Kollegen in die Kantine. Ich nehme an ihrem Leben nicht mehr teil, ich ­beobachte sie. Sie gehen essen, weil sie Hunger haben, sie suchen sich aus, ­worauf sie Appetit haben. Salat oder Geflügelhackbraten. Wahnsinn, dieses Zeugs, das da auf ihren Tellern liegt. Bunt. Unordentlich. Wieso isst der genau das? Was will die damit? Der Appetit ist, überlege ich, so eine Art Autopilot des Energiehaushalts, eine Steuereinheit. Wenn wir ­lange keine Vitamine zu uns genommen haben, sieht ein Obstsalat eben ­besonders appetitlich aus. Rob schreibt mir, dass dahinter extrem komplexe Biomechanik stecke: »Wie verursacht ein Mangel an Natrium in Geist und Augen Lust auf Salz?« Das ist wie Magie.

Essen und Trinken sind der Kern unseres Soziallebens. Ich werde zum Eremiten

Mein Appetit aber ist erloschen. Ich brauche ihn nicht mehr. Vielleicht ist das ein Indiz dafür, dass Soylent tatsächlich ein innovatives, ideales Nahrungsmittel ist, in dem alles enthalten ist, was man braucht. Einmal laufe ich an einer Bäckerei vorbei, aus der mir der Geruch ­frischer Croissants entgegenweht. Ich stutze kurz, denke daran, dass mir das mal geschmeckt hat. Aber dann versagt mein Appetit und ich gehe weiter. Ich brauch das wohl nicht mehr. Abends fragen mich Freunde, ob ich nicht etwas unternehmen will. Ich sage fast immer ab. Ich darf nichts trinken und nichts essen. Ich kann an dem, was sie gemeinsam tun, nicht teilnehmen. Das erscheint mir freudlos. Essen und Trinken ist der Kern des Soziallebens. Ich sitze alleine in meiner Wohnung. Auf einmal habe ich Zeit. Ich gehe mir selbst auf die Nerven, lese, schreibe, telefoniere dagegen an, schlafe früh ein, wache früh auf.

Es gibt immer nur Soylent. Es wird mir nie zuwider. Der Hunger wird durch diese Substanz viel schneller gestillt als durch Essen. Er ­verschwindet schon beim Trinken des zweiten Glases. Aus ökonomischer Perspektive ist Soylent unschlagbar. Ich kann die Kalorien exakt quantifizieren. Ich esse nicht mehr und nicht weniger, als ich brauche. Ich habe durch Soylent keine Kurven in meinem Tag. Keine Müdigkeit nach dem Essen, keine Hibbeligkeit nach der Aufnahme von Zucker. Ich habe immer Energie, und wenn die Energie absinkt, bekomme ich Hunger und fülle Soylent nach; zack, ist Energie wieder da.

Wissen: Die Farbe von Soylent ist gewöhnungsbedürftig, die Konsistenz, nun ja, Geschmackssache. Es schmeckt wie eine Mischung aus Ovomaltine und Pfann­kuchenteig.
Die Farbe von Soylent ist gewöhnungsbedürftig, die Konsistenz, nun ja, Geschmackssache. 
Es schmeckt wie eine Mischung aus Ovomaltine und Pfann­kuchenteig.

Nach einigen Tagen will ich gerade ins Bett gehen, als irgendeine Hirnwindung laut Alarm schlägt. Panik: Du hast seit Tagen nichts gegessen, nicht gut, nicht gut!! Der Appetit schweigt dumm, der Magen stammelt, sendet Entwarnsignale. Der Verstand erklärt geduldig, was los ist, irgendwann beruhige ich mich, liege dann aber lange wach. Wer bin ich, wenn mir mein Körper fremd wird und die sozialen Rituale und Konventionen entwertet werden. Früher dachte ich: ein Mensch.

Soylent wurde erfunden, damit man mehr arbeiten kann. Wie traurig!

Rob schreibt mir: »Es gibt keinen fundamentalen Unterschied zwischen Organismen und Maschinen. Pflanzen und Tiere sind auf molekularer Ebene zusammengesetzt, und Maschinen entstehen auf natürliche Weise aus den Gedanken und Energien von Menschen. Leben ist alles, was Energie verbrennt.« Es ist das Bild vom Verbrennungsmotor, das mir gegen Ende der Woche neue Sicherheit verleiht. »Du isst nicht mehr, du tankst.« Wie ein Auto, wie eine Lokomotive. Mein Mund ist ein Einfüllstutzen. Durch Soylent hat sich mein Körper von einer konfusen, durch das Leben, die Evolution, Werbung, Kochkunst, Geld und Coolness ständig durcheinandergeworfenen Riesenkomplexität in eine ­einfache Funktion verwandelt: Energie-Input = Energie-Output.
Dieser Gedanke führt dazu, dass ich schlagartig alle Liebe zu Soylent verliere. Bis zu diesem Zeitpunkt finde ich das Zeug interessant, neu, faszinierend, trippy. Nun aber regt sich langsam Widerstand in mir. Rob würde mich vermutlich romantisch nennen, irrational. Aber ich will einfach nicht glauben, dass Menschen und Maschinen das Gleiche sind. Ich fange an, Soylent böse, unästhetisch, brutal zu finden, wegen der Lässigkeit, mit der es unser über Jahrmillionen ­gewachsenes Verhalten absägen will.

Dass Rob zum Beispiel deswegen angefangen hat, Soylent zu er­finden, weil er mehr arbeiten können wollte. Traurig! Im Soylent-Prospekt schreibt Rob: »Wenn du bist, was du isst, dann darfst du dich nun als ­gesund und praktisch empfinden.« Eine Reduktion auf das ­Gesunde und Praktische bedeutet eine Reduktion auf das Funktionieren: auf das, was wir von Maschinen verlangen. Sind die Maschinen für uns mittlerweile derart einschüchternd geworden, dass wir selbst welche werden wollen? Ist Soylent nicht ein weiterer Schritt in diese Richtung?

Ich stelle mir einen Staat vor, in dem die Armen mit Soylent-Rationen zwangsernährt werden

Ich denke nach über das Silicon Valley, aus dessen Geist Soylent ­geboren wurde, diesen Ort, der sich mit Daten, Funktionen, Quantifizierbarkeiten, Kontrolle beschäftigt. Dessen Erfindungen das Leben ­selten leichter, dafür mess- und steuerbarer machen. Ich stelle mir ­Banker und Unternehmensberater vor, die sich von Soylent optimal und rational ernähren, um ihre Arbeitszeiten und ihren Output zu maximieren. ­Derzeit kostet eine Mahlzeit Soylent etwa 2,50 Euro, Rob glaubt, dass er es noch billiger produzieren kann. Ich stelle mir den Staat vor, der dem Hartz-IV-Empfänger die Ernährungspauschale in Soylent ausgibt.

Das ist wahrscheinlich Quatsch. Meine Voraussage ist, dass sich kaum jemand ausschließlich von Soylent oder ähnlichen Produkten, die sicher bald auf den Markt kommen, ernähren wird. Ich kann mir aber vorstellen, dass viele Menschen bald ein paar Packungen in der Vorratskammer haben werden. Wenn man keine Lust auf Kochen hat oder ­keine Zeit: Soylent. Das klingt eigentlich nicht schlecht. Natürlich gibt es noch keine Langzeitstudien, wie Soylent sich auf unsere Körper auswirkt. Die meisten Ernährungswissenschaftler glauben, dass Rob die Komplexität des Körpers unterschätzt. Und wer weiß, ob es Soylent überhaupt jemals in Deutschland zu kaufen geben wird. Wobei es ­derzeit stark danach aussieht. In den USA kommt das Unternehmen mit den Lieferungen kaum hinterher, so hoch ist die Nachfrage, und Rob will so bald wie möglich auch nach Europa liefern.

Wahrscheinlich wird er ein steinreicher Mann werden damit. Anders als Coca-Cola hält er ­seine Formel nicht geheim, sondern hat sie im Netz veröffentlicht. Jeder kann selbst Soylent machen, und es gibt tatsächlich schon Leute, die Soylent nach Robs Rezept verkaufen. Aber die Produktion ist kompliziert. Rob glaubt, dass die Menschen auf den Markennamen vertrauen werden.

Am ersten Morgen nach dem Experiment gehe ich zu einem kleinen Café in St. Pauli. Ich bestelle Lachs. Der Teller kommt, ein paar Scheiben Fisch darauf, mit Dill bestreut, dazu Butter, grobes Salz, ein Korb mit frischem Brot. Ich bestreiche das Brot mit Butter, lege den Lachs darauf, es kostet Zeit ohne Ende und sieht seltsam, fast steinzeitlich aus. Ich beiße hinein. Ein Augenblick vergeht, dann seufze ich. ­Alles kommt zurück. Butter, oh Butter, oh mittelalterlicher Quatsch aus Lipiden und Aminosäuren! Lachs, mein Schatz, in Gewalt und Überfischung auf meinen Teller transportierte Schweinerei! Ich be­wege ­meine Kiefer, es knirscht, zerbröselt, matscht, vermischt sich in meinem Mund zu einem geschmacklichen Glockenschlag aus Glück. Ich trete danach vor die Tür, rauche eine Zigarette und freue mich schon auf die Drinks, die ich am Abend mit meinen Freunden trinken will. In mir ballt sich Lust auf unpraktische Ungesundheit, und ich begreife, dass ich mich als Mensch, anders als jede Maschine, durch meinen Mund nicht nur versorgen, sondern erleben, fordern, vielleicht gar verletzen will. Dass Essen und Trinken mehr sind als Energiemanagement, sondern Abenteuer, Rausch, Gefahr. Handlungen, in denen man sich selbst spürt, Lust an und auf sich hat und im Reflektieren ­darüber wichtige Distanz gewinnt. Wir sind eben kompliziert. Wir sind Menschen.

Im Video zeigt Alard, wie Soylent zubereitet wird und spricht darüber, was das Zeug mit ihm macht.

Dieser Text ist in der Ausgabe 10/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.

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