Anzeige

Wissen Einstellungssache: Und du so?

Wissen: Einstellungssache: Und du so?
Der CEO duzt Praktikanten. Der Assi besteht auf dem Sie. Unsere Autorin wundert sich über moderne Manieren.

Text: Charlotte Schiller | Illustration: Jan Robert Dünnweller

Jürgen Wulnitzer arbeitete seit 25 Jahren als Justiziar 
in unserer Firma. Ein hagerer Mann mit Hornbrille. Herr Doktor Wulnitzer war allerdings kein Hipster, er hatte sich die Brille einfach während des Studiums in den 70er Jahren gekauft und sie seitdem behalten. Ich hatte eine Zeit lang viel mit Wulnitzer zu tun gehabt und ganze Wochenenden mit ihm in der Firma verbracht. Deswegen war ich nicht überrascht, als Wulnitzer vorschlug, abends essen zu gehen. Er hatte ein schönes Restaurant ausgesucht, beriet sich mit dem Kellner über den Wein, schenkte umständlich ein, straffte den Rücken und sagte: »Nun haben wir bereits so viel gemeinsam erlebt. Dieses gute Verhältnis sollten wir in der angemessenen Form nach außen dokumentieren.« Ich fand es sehr rührend, dass Wulnitzer so viele­ Worte brauchte, um Worte zu sparen und mir das Du anzubieten. Wulnitzer sagte: »Ich würde mich freuen, wenn Sie ab jetzt bei der Anrede meinen Doktortitel wegließen.«

Menschen wie Jürgen, Entschuldigung, Herr Doktor Wulnitzer sind selten geworden. Immer häufiger erlebe ich, dass sich Vertreter aller Hierarchieebenen gleich beim ersten Kennenlernen so vorstellen: »Hallo, ich bin der Moritz.« Später erfahre ich dann, dass ich es mit Moritz Gerber, dem millionenschweren Geschäftsführer zu tun hatte. Ich muss mich bei solchen Begegnungen immer kurz schütteln, ­bevor ich ein »Hallo, Charlotte« hervorstoße. Heute ist jede ­Firma ein Start-up (oder tut zumindest so). Das hat mit der Internationalisierung und Amerikanisierung der Arbeitswelt zu tun. Aber auch mit einer neuen Art des Führens. Der moderne Chef will nicht Chef sein, sondern Kumpel.

Ich bin kein Fan dieser Entwicklung. Als Angestellte war ich immer froh, im Job durch das Siezen eine gewisse Distanz wahren zu können. So sind die Fronten geklärt. Der Duzdruck vermittelt den Angestellten das Gefühl: »Wir sind alle gleich!« Aber diese Gleichheit ist immer auch eine Illu­sion, wie sich spätestens herausstellt, wenn man über das Gehalt streiten oder die Verantwortung für einen Fehler der lieben Kollegen übernehmen muss. Die Pseudonähe erschwert es vielen Menschen, die Hierarchie zu akzeptieren und sich in der Wirklichkeit zu verorten. Außerdem: Wenn einen das Sie trennt, bleiben Frotzeleien unter Kollegen im sicheren Bereich. Man sagt halt schneller »Du Arschloch!« als »Sie Arschloch!«.

Aber die Welt ist nicht so, wie ich und – vor allem – Herr Doktor Wulnitzer sie gerne hätten. Es gibt keine klaren ­Regeln mehr. Es kann ein Fauxpas sein, einen Kollegen zu duzen. Es kann aber auch ein Fauxpas sein, ihn zu siezen, weil er sich dadurch plötzlich sehr alt fühlt. Ich habe also nur einen wirklichen Tipp: Mimikry. Kommt man in eine neue Firma oder hat mit Kunden zu tun, die man bisher nicht kannte, wartet man erst einmal ab, sagt weder Du noch Sie – da muss man halt geschickt vorgehen – und beobachtet die Gepflogenheiten. Diese Inkonsequenz sollte man mit Konsequenz verfolgen. Ich finde es sehr merkwürdig, wenn eine Führungskraft nur ein oder zwei Untergebene duzt und den Rest des Teams per Sie auf Distanz hält. Und ganz besonders bescheuert ist die Idee, die mir kürzlich ein Kunde bei einer Coaching-Sitzung präsentierte. Der Abteilungsleiter plante ein Teamentwicklungsseminar mit seinen Kollegen. Erfahrungsgemäß wird dort abends auch mal ein bisschen getrunken und über private Dinge gesprochen. Der Mann hatte also folgende Frage: »Ich würde gerne meinen Mitarbeitern für die Dauer des Seminars das Du anbieten. Und es ihnen am Ende wieder entziehen, denn dann herrscht ja wieder Alltag. Halten Sie das für eine gute Idee?«

Dieser Text ist in der Ausgabe 02/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App. Eine Übersicht aller »Einstellungssachen« findet ihr hier.

VG-Wort Pixel