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Freizeit Nur ein Schwein ruft nicht an!

Freizeit: Nur ein Schwein ruft nicht an!
Es gilt als höflicher, Nachrichten zu schicken, als zu telefonieren. Das ist ein gesellschaftlicher Rückschritt!

Illustration: Frank Höhne

Ich sollte kürzlich für eine erkrankte Kollegin ein Dokument zusammenstellen. Nichts Kompliziertes, aber sie musste mir trotzdem schnell erklären, worum genau es ging. Doch statt meinen Anruf entgegenzunehmen, beantwortete sie meine Fragen lieber via WhatsApp. 42 Nachrichten, 35 Minuten und einige Emoji-Interpretationsschwierigkeiten später (Smileys mit riesigen LSD-Pupillen, verzweifelte Äffchen) war klar, was ich machen sollte. Wir ­hätten auch kurz telefonieren können.

Neunzig Prozent der Deutschen über vierzehn besitzen ein Handy. Jeder Dritte hat es sogar auf dem Klo dabei. Fast alle Menschen sind fast den ganzen Tag in der Nähe eines Telefons. Ans Telefon aber gehen sie nicht.

Unsere Gesellschaft hat in den ­vergangenen Jahren ein widersprüchliches Verhältnis zum Mobiltelefon entwickelt. Auf der einen Seite sind wir damit permanent online und tippen unzählige Nachrichten – seit 2008 ist die Anzahl der in Deutschland verschickten SMS um über fünfzig Prozent auf 168 Millionen pro Tag gestiegen –, auf der anderen Seite aber lassen wir Anrufe ausklingeln oder drücken sie gleich weg. Manche besitzen dann sogar noch die Dreistigkeit, eine SMS zu schreiben: »Es tut mir leid, dass ich deinen Anruf verpasst habe.« Es tut ihnen aber gar nicht leid. Sie haben den Anruf aktiv abgewiesen.

Man muss nicht in die Medienkonvergenztheorie einsteigen, um zu verstehen, dass Mails, Chats und SMS diverse Vorteile gegenüber dem Telefongespräch haben. SMS kann man problemlos nachts um zwei Uhr oder aus dem fahrenden Funkloch namens ICE verschicken. Und Mails, die auf dem Computerbildschirm aufploppen, lassen sich besser ignorieren als der Kollege aus dem Controlling, der einen am Telefon zuschwallt. Sobald aber die Nachricht über Zahlen, Daten und Fakten hi­nausgeht, sind Anrufe schneller und effizienter und auch persönlicher.

Wie also kann es sein, dass das Telefonieren heute als unhöflich gilt, wie die Manierenpäpstin Judith Martin meint? In manchen ­Büros gibt es mittlerweile sogar ein Telefonverbot. »Das Telefon verdient zu sterben«, schreibt der Technologieexperte Clive Thomp­son in der US-Zeitschrift »Wired«. Bei Facebook oder im Chat könne man sehen, ob jemand online und prinzipiell bereit ist, Kontakt aufzunehmen. Das Telefon habe keine solche Kontrollfunktion, jammert Thompson. Ich denke: Zum Glück hat es die nicht!

Woher kommt die neue Telephobie? »Menschen werden immer vorsichtiger, etwas über sich selbst preiszugeben«, erklärt Edward ­Tenner, der sich in dem Buch »Our Own Devices« ­mit dem Einfluss der Kommunikationstechnologie auf die Gesellschaft beschäftigt. »Die Leute verwalten ihre öffentliches Image mit sehr viel Akribie. In einem Gespräch oder Telefonat allerdings gibt man mehr ungeplante Dinge von sich preis als in einer Nachricht.« Um uns vor der Spontanität des persönlichen Gesprächs zu schützen, verschicken wir fein säuberlich komponierte Nachrichten und verabreden uns selbst im Freundeskreis plötzlich per SMS zum Telefonieren – als müssten wir pünktlich am Fernsprecher auf dem Dorfplatz anstehen und könnten nicht einfach das Handy aus der Hosentasche ziehen. Der angebliche Fortschritt wird zum Rückschritt. Wenn man sich zehn Minuten lang hin- und herschreibt, wann man erreichbar ist, hätte man auch gleich anrufen können.

Die Telephobie ist ein weiteres Beispiel dafür, auf welch widersprüchliche Art und Weise wir doch unser reales und digitales Leben verwalten. Während wir online unsere intimsten Urlaubsbilder und unsere Stammkneipen preisgeben, ziehen wir uns zu Hause zurück: Läutet es nachmittags unangekündigt an der Tür, zuckt man zusammen und denkt, wenn das Festnetztelefon klingelt, dass Oma anruft (oder gestorben ist). Als ich vor einiger Zeit versuchte, den Partner einer guten Freundin anzurufen, um ein Geburtstagsgeschenk abzusprechen, ging er nicht ran. Nicht, weil er ­keine­ Zeit hatte. Er kannte die Nummer nicht.

Der unangekündigte Kontakt, vor allem zu Leuten, die wir nicht kennen, fühlt sich seltsam übergriffig an. Als hätte jemand, indem er unsere Nummer wählt, ungefragt unseren Kreis betreten. Die Telefonverweigerer sind auf dem besten Weg, hysterische Einsiedler zu werden, die hinter jedem Anruf den Geheimdienst oder einen Kaffeefahrtdrücker vermuten. Versiegeln wir auch bald unsere Briefkästen? Das können wir nicht wollen.

Natürlich gibt es Momente, in denen ein Anruf stört, wenn man arbeitet, schläft oder gerade Sex hat. Aber man kann das Handy ja ausschalten. Und dann bitte wieder an!

Dieser Text ist in derAusgabe 12/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.

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