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Freizeit Das NEON-Musiktribunal #5

Freizeit: Das NEON-Musiktribunal #5
Helmut Mauró – Klassikkritiker der Süddeutschen Zeitung

Es ist natürlich einfach, sich beim Musik hören (und kritisieren) auf die Sachen zu konzentrieren, die man eh schon spannend, eh schon fresh, eh schon supertoll findet. Nur umgibt einen im Alltag ja etwas ganz anderes. Im Autoradio, im Kaufhaus-Fahrstuhl, auf der Geburtstagsparty des kleinen Bruders steht man bis zum Hals im Mainstream. Und der ist manchmal klebrig oder miefig, aber: Er hat die Kraft des breiten Stroms. Und wenn man mal die Hand reinhält, findet man auch Interessantes.

In der Musikkolumne kommen deshalb einmal im Monat die Top Drei der deutschen Singlecharts auf den Horchstand. Es lauschen:

Patrick Morgan – Programmdirektor des Radiosenders bigFM
Alard von Kittlitz – Musikredakteur von NEON

Love Me Like You Do – From Fifty Shades Of Grey

Patrick Morgan Das ganze klingt wie eine Phil Collins Power-Ballade aus den 80ern. Wahrscheinlich bin ich hier einfach nicht die Zielgruppe von 50 Shades Of Grey. Das Buch habe ich weder gelesen, noch den Film gesehen. Rein objektiv eine solide 08/15 Popnummer mit eingängigem Refrain. Hier wurde auch nichts dem Zufall überlassen. Der Überpopproduzentengott Max Martin hat hier seine Finger im Spiel, und Shooting Star Tove Lo hat ebenfalls mitgeschrieben. Ellie Goulding hat lediglich ihre Stimme dem Song verliehen. Der kommerzielle Erfolg widerspricht natürlich völlig meiner Einschätzung. In einen Baumarkt wird es mich nicht ziehen, um irgendwelchen Fesselkram zu kaufen. Bei dieser Thematik wünschte ich mir eine Interpretation von Marylin Manson oder Nine Inch Nails.

Helmut Mauró Ihr Gesicht huscht immer nur kurz vorbei, das gut gepolsterte Riesenkinn vorneweg. Sie ist keine Schönheit und der Schlafzimmerblick hat sich seit ihren Kindertagen nicht verändert. Aber nun soll sie die sexsüchtige Schlange in 50 Shades of Grey geben. Nicht ganz einfach, aber möglich: Für das Video findet sich ein neutrales Double fürs Erotische, und ihre Stimme ist mit wenigen Handgriffen am Mischpult clean und – la la love me like you do – und ein bisschen verhaucht anzüglich. Der Refrain-Chor klingt wie früher bei Madonna, das Ganze bleibt auch musikalisch eine Art Schulmädchenreport, den einen zu sexy, den anderen zu streberhaft.

Alard von Kittlitz Ich finde »50 Shades of Grey« immer noch einen sensationellen Buchtitel. Niemals würde ich ein Buch lesen wollen, indem Grau in allen denkbaren Schattierungen verhandelt wird. Klingt doch sehr langweilig. Und trotzdem hat sich das Buch unfassbar verkauft! Liegt das an der literarischen Qualität? Sogenannte Experten sagen: Nein. Ich dagegen sage: Qualität, Schmualität. Ist ja wohl eindeutig egal, ob etwas gut ist oder schlecht! Für die Verkaufszahlen. Der Beweis ist Ellie Goulding. Sie hat mit dem Song den Nagel auf den Kopf getroffen, es war der letzte Nagel in den Sarg. Das Lied ist die Vertonung von einer der fünfzig Grauschattierungen. Stahlgrau, oder Mausgrau, oder Schiefergrau, Aalgrau – wer weiß das schon, aber das Grauen kriegt man. Gut gemacht. Das Lied hat keine Farbe. Es hat nichts Eindeutiges. Es macht nicht fröhlich oder traurig, es ist nicht kinky und nicht frigide. Eindeutig eine Nummer Eins. Wobei etwas Einpeitschenderes genauso angemessen gewesen wäre.

Cheerleader (Felix Jaehn Remix)

Gratulation Omi. Der Track ist noch immer unter den Top 3. Texte dazu: In der letzten Kolumne.

Firestone – Kygo

Patrick Morgan Im kalten tristen Deutschland mit einem Golf GTI auf der A3. Innenraum: Zwei Nebelmaschinen, eine Diskokugel, die Heizung auf Anschlag und der Subwoover brummt im Kofferraum. Wenn dann noch aus den Boxen Firestone läuft, dann kannst Du Dich auf direktem Weg nach Ibiza beamen. Tropical House mit dem typischen Flötensound von Kygo ist einfach chillig. Du riechst beim Hören quasi das Meer, obwohl Du gerade wieder im Stau stehst.

Helmut Mauró Das perfekte Gute-Laune-Stück zu jeder Tageszeit. Von Kygo, dem norwegischen Electropop-Remix-Meister, der hier als Stimmungskanone die Klangteppich-Routine zur Perfektion rundet und seinen Trop House mit lustigen bunten Synthie-Popups zur Beach Party aufbrezelt. Alles muss raus. Gott sei Dank dimmen die Vocals von Conrad, diese edle Leidensstimme, den Sound of Kindergeburtstag etwas herunter in den Bereich erwachsenen Pophandwerks. Keine Bange, die Party geht trotzdem weiter.

Alard von Kittlitz Ich hab dieses Lied auf Youtube gesucht und gefunden. Der User, der es hochgeladen hat, heißt Morning Coffee Music. Ich dachte auch sofort: Ich hab das jetzt verstanden. Das Lied fängt an genau so, wie Musik zum Morgenkaffee klingen soll. Wenn man hart verkatert ist oder noch versucht, den Traum von der dreiköpfigen Oma in einem Panzer einzuordnen, oder wenn man einfach noch sehr müde ist; dann will man ja beim Kaffee kochen und trinken nichts hören, das sich irgendwie renitent bemerkbar machen würde. Genau so fängt dieses Lied an. Man bemerkt gar nicht, dass es läuft. Sehr gut, Aufgabe erfüllt! Dann aber kommt der Refrain, und es wird einem aggressiv nahe gelegt, sofort gute Laune zu kriegen. Das ist zu viel verlangt. Dann stürzt man den brühend heißen Kaffee den Hals hinunter vor Schreck oder Bedürfnis, anderen Sinneseindrücken ausgesetzt zu werden. Während man zum Krankenhaus fährt, hört man diese Gameboy-Melodie weiter im Kopf, und man kann noch nicht mal schlucken. Das Leben ist brutal!

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