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Liebe Mach mir was vor

Liebe: Mach mir was vor
Ehrlichkeit ist einfach. Aber kann man richtig lügen lernen?

Foto: Tanja Kernweiss

Ich werde gerade von einem rechtskräftig verurteilten Hochstapler beleidigt, als mir mal wieder klar wird, dass ich es mit der Ehrlichkeit einfach zu genau nehme. Ich hatte Gert Postel, einem Briefträger, der sich jahrelang als Psychiater ausgegeben hatte, eine höfliche Anfrage per E-Mail geschickt: Guten Tag, ich, Autorin für NEON, würde mich mit Ihnen gerne über das Lügen unterhalten. Von Postel gibt es ein Buch mit dem Titel »Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers« und eine Website, inklusive Fanclub. Er hat mir innerhalb kürzester Zeit geantwortet: Er habe an sich wenig Interesse an dieser Art von »Presseorganen« wie jenes, für das ich arbeite, und ich möge ihn mal überzeugen, warum er mit mir reden soll. Der Mann nervt mich schon jetzt, aber ich möchte ihn gern interviewen und rufe ihn an.

Am Telefon sagt mir Postel, ich wisse wohl nicht, wovon ich spreche, nicht jede Unwahrheit sei eine Untat im sittlichen Sinne, und im Übrigen müsse ich ihm schon was bieten, zum Beispiel Geld oder eine Reise. Ich behaupte, was er erzählt, sei ja total spannend, allerdings zahle NEON wie jedes andere seriöse Medium leider nicht für Interviews. Da raunzt mich Postel an, er glaube nicht, dass wir uns auf einer persönlichen Ebene verstünden. Ich hätte ihn gern angelogen, aber das Einzige, was mir einfällt, ist: »Ja, das sehe ich ehrlich gesagt genauso.« Dann legen wir beide auf.

Alle Menschen lügen, darin sind sich Sozialwissenschaftler und Psychologen einig. Angeblich durchschnittlich 200 Mal am Tag, wobei sich diese Zahl möglicherweise jemand ausgedacht hat. Der Psychologe Robert Feldman beschäftigt sich seit 25 Jahren mit menschlichen Täuschungsmanövern und hat ausgerechnet, dass Personen einander in den ersten zehn Minuten eines Kennenlerngesprächs etwa drei Mal belügen. Menschen, die gelegentlich lügen, seien sozial erfolgreicher, sagt Feldman. Vielleicht fangen die Menschen im Allgemeinen deshalb so früh damit an: laut der aktuellen Verhaltensforschung mitunter sogar schon ab dem Alter von zwei Jahren. Der Zweijährige zum Beispiel, den ich zu Hause habe, wehklagt gern »Aua, aua«, wenn er eine Hose nicht anziehen will. Ich habe es geprüft: Die Hose zwickt nicht und sie beißt ihn nicht, aber offenbar soll ich das glauben. Er spiegelt Tatsachen vor, um aus der Hosenbredouille zu entkommen. Das kann er besser als ich: Wenn ich etwas erledigen soll, das ich nicht erledigen will, fällt mir nie eine Ausrede ein.

Kürzlich fragte mich mein Kollege Jakob, ob ich einen kleinen Reiseessay schreiben könnte, alle anderen hätten keine Zeit. Ich habe schon kleine Essays über Tampons geschrieben, aber bei Reisen macht der Teil meines Gehirns, der fürs Schreiben da ist, Urlaub: Mir fällt zu dem Thema nichts ein, daher kann ich das Thema nicht leiden. Doch statt klug zu sein und zu behaupten, ich hätte leider wahnsinnig viel zu tun, guckte ich Jakob ins bittende Gesicht und sagte: »Äh, also, nur wenn es sein muss. Reisen ist ja nicht so mein Ding.« Muss ich mich wundern, dass mich am nächsten Tag eine unmissverständliche Aufforderung erreichte, umgehend den Text zu schreiben? Es ist doch so: Lügen haben zwar einen schlechten Ruf.

Aber sie sind schon sehr nützlich. Wer lügen kann, kann reich und mächtig werden, man sieht es an zahlreichen Unternehmern und Politikern. Wer lügen kann, kann Affären haben und macht seinen Partner deswegen nicht unglücklich. Lügner haben mehr Spaß und sind cooler – eine Studie der amerikanischen Drexel University in Philadelphia zeigte, dass Menschen, die im Büro lügen, weniger gestresst sind als solche, die immer ehrlich sind. Meine Erfahrung bestätigt das. Es ist nicht so, dass ich nie lüge, ich lüge bloß schlecht. Wobei: Wenn mich jemand nicht gerade zu Tode nervt, bin ich eine passable Höflichkeitslügnerin. Ich gratuliere Kollegen zu Texten, die ich nicht gelesen habe, und Musikern zu Stücken, die ich schräg fand. Kein Problem.

Aber sobald es um mich selbst geht, verhalte ich mich wie ein zwanghaftes katholisches Schulmädchen: Ich bin immer sicher, dass Lügen meinen Mitmenschen und mir Schaden zufügen. Noch heute schäme ich mich für das eine Mal vor mehr als zwanzig Jahren, als ich beim Spielen irgendein Bild von der Wand gerissen hatte, das dann zu Bruch gegangen war, und meinen Eltern erzählte, meine kleinen Geschwister seien aus Versehen dran gekommen. Wenn ich irgendetwas aktiv verheimlichen muss, kann ich an nichts anderes denken und verrate mich durch meine extrem fahrige Art. Wenn ich schlechte Laune habe, merkt mir das jeder an. Wenn ich etwas doof finde, könnten in meinem Gesicht genauso gut Leuchtbuchstaben mit »ICH FINDE DAS DOOF« prangen.

Wenn ich jemanden toll finde, auch jemanden, der schon eine Beziehung hat, dann labere ich ihn so lange an, bis er es merkt. Mein Innen ist mein Außen. Deshalb hatte ich noch keine Affäre, die nicht aufgeflogen wäre. Und ich kenne mehrere Menschen, die mich für renitent und arbeitsunwillig halten, weil ich nicht verschweigen kann, keine Lust auf etwas zu haben. Ich weiß, es gibt Schlimmeres, aber trotzdem würde ich innen und außen gerne manchmal besser trennen. Ich würde gerne besser lügen, aber wie fängt man damit an? Ich frage meine beste Freundin: Darf ich dich als Versuchsperson benutzen? Sie sagt: Nur, wenn du mich vorwarnst, sonst finde ich das schlimm. Das kann nicht funktionieren. Der NEON-Art-Direktor Jonas behauptet, er lüge täglich, andernfalls würde er wahnsinnig. Jetzt lüg halt einfach, sagt er zu mir. Na gut, dann müssen die Kollegen herhalten.

Bei Robert Feldman lese ich, dass nirgends so viel gelogen wird wie im Internet: Untersuchungen von Chatprotokollen und E-Mails zeigen, dass die digitale Kommunikation die Tendenz zur Unwahrheit deutlich verstärkt. Alle großen Selbstverbesserungsprojekte beginnen mit kleinen Schritten, also schreibe ich dem NEON-Textchef Marc Schürmann eine Mail, in der ich behaupte, mein Interviewpartner in Wien hätte den Termin abgesagt, ich könne meinen Artikel leider erst nächste Woche abgeben. Normalerweise hätte ich ihm umständlich erklärt, dass ich den Termin verlegen musste, weil ich mich um meinen Sohn kümmern musste und … aber diesmal mache ich es mir leichter. Auch wenn ich mich dabei wie eine miese Kollegin fühle. Und dann schreibt Marc nur zurück: »Kein Problem.« Ich stelle fest: Das war ja einfach. Keinem von uns ist irgendetwas passiert, obwohl ich nicht die Wahrheit gesagt habe.

Lügen muss man üben, sagen Forscher der Northwestern University in Evanston, Illinois. Zappeln, nach rechts oben gucken oder sich häufig wiederholen: All das sind angeblich eindeutige Signale für die Unwahrheit. Aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es aber nur einen nachweisbaren Indikator: Die Reaktionszeit eines Lügners verzögert sich im Gespräch um ein paar Millisekunden. Ich will wissen, warum das so ist, und schreibe dem Leiter der Studie. Ich behaupte, ich hätte seinen Aufsatz in der Fachzeitschrift gelesen, aber in Wahrheit kenne ich nur eine kurze Zusammenfassung von der web.de- Nachrichtenseite. Es ist eine völlig überflüssige Lüge, aber sie macht dem Mann vielleicht gute Laune, also warum eigentlich nicht? »Lügen machen dem menschlichen Gehirn deutlich mehr Arbeit als die Wahrheit«, erklärt mir Xiaoqing Hu, so heißt der Leiter der Studie: Das Gehirn bezieht dabei Teile des präfrontalen Kortex mit ein, die für Arbeitsgedächtnis und Planung zuständig sind. Die Psychologen der Northwestern University beobachteten, dass genaue Anweisungen und ein längeres Training bei Probanden dazu führten, dass sie schneller reagierten – und damit glaubwürdiger logen. »Aus psychologischer Sicht wird eine Lüge irgendwann zur Wahrheit, wenn sie oft genug wiederholt wird«, erklärt mir Xiaoqing.

Ich telefoniere mit meiner Schwester, sie fragt, ob ich nicht morgen nach Wien kommen wolle, wo sie wohnt. Ja schon, sage ich, aber der Interviewpartner hat den Termin verschoben. Sie verspricht mir, sich nächste Woche freizunehmen, wenn ich komme. Danach fällt mir auf, dass ich ihr nicht die Wahrheit gesagt habe. Ich habe mich so an die Geschichte mit dem verschobenen Interview gewöhnt, dass es keinen Unterschied mehr macht. Dann fahre ich nach Konstanz, um zu lügen. Die Psychologen Ute Ehrhardt und Wilhelm Johnen haben vor Kurzem das Buch »Wenn ich ehrlich bin, dann lüg‘ ich richtig gut« (Knaur Verlag) veröffentlicht. Sie plädieren für einen entspannteren Umgang mit der Wahrheit und dafür, das Potenzial der Lüge anzuerkennen: das Leben interessanter und angenehmer zu machen. »Lüge ist nicht gleich plumpe Unehrlichkeit«, erklärt Wilhelm Johnen, »sondern eine intelligente Struktur, um die eigenen Ziele zu erreichen.« Gute Lügen, sagt er, sollten eine gute Portion Wahrheit enthalten, damit das Gehirn sich kognitiv nicht überanstrengen muss. Als ich Ehrhardt und Johnen in Konstanz treffe, um mit ihnen das Lügen zu üben, erzähle ich ihnen, wie schwer es mir fällt, unwahrhaftig zu sein und andere Menschen im Dunkeln zu lassen. Johnen guckt mich an und wackelt nachdenklich mit dem Kopf: »Sie sollten sich klarmachen, dass Sie ein Recht auf Privatsphäre haben.« Dann fordern die beiden mich auf, ihnen drei Geschichten zu erzählen, eine davon unwahr. Sie wollen mich beobachten und mir dann Tipps geben, was ich besser machen kann. Ich bin aufgeregt. Ich denke an das, was sie mir gesagt haben. Ich erzähle zwei belanglose Geschichten vom Wochenende und dann eine größtenteils umgedichtete Geschichte von meinem Jahr in Argentinien und dem Mann, mit dem ich dort zusammen war. Nur, es gab kein Jahr, sondern bloß ein paar Monate. Und auch keine Beziehung, sondern bloß ein anstrengendes Hin und Her. Je mehr ich erzähle, desto wärmer und roter fühlt sich mein Gesicht an. Gleichzeitig: desto mehr Spaß habe ich dabei, vor mich hin zu fabulieren. Um nicht dauernd nach rechts oben zu gucken, schaue ich meinen Gesprächspartnern fest in die Augen, so fest, dass ich sicher bin: Die merken das. In der sicheren Erwartung, ertappt zu werden, beende ich meine Geschichte, und – bekomme Applaus! Sie haben keine Ahnung, wann ich gelogen habe.

Es fühlt sich tatsächlich sehr gut an, undurchsichtig zu sein, aber trotzdem bin ich ganz erleichtert, als ich meine Geschichte bereinigt habe. Das mit der Privatsphäre ist offenbar noch nicht ganz eingesickert. Ehrhardt sagt: »Solange Sie nicht mehr versprechen, als Sie halten können, geht Ihr Leben andere Leute nichts an. Auch im Job. Sie können sogar Ihren Lebenslauf tunen, das ist doch egal – Hauptsache, Sie können liefern.« Sie empfiehlt mir therapeutische Selbstbeeinflussung: Wenn ich mir oft genug einrede, dass ich mehr für mich behalten will, glaube ich mir das irgendwann auch selbst. »Irgendwann werden Sie spüren, dass das richtig ist, und mit gutem Gewissen Ihre Privatsphäre schützen.« Mein Chef fragt mich, ob diese Wienreise wirklich noch sein müsse. Bringe das denn etwas für den Artikel? Ich sage: »Absolut, Dr. Stiegnitz ist der wichtigste Lügenforscher Europas.« Tatsächlich bin ich mir da gar nicht so sicher, ich bin bloß sehr neugierig auf den alten Herrn, der als der Begründer der »Mentiologie« gilt und Bücher geschrieben hat wie »Lügen – aber richtig! Die angewandte Theorie der Lüge« oder »Die Lüge – das Salz des Lebens«. Als ich im Wohnzimmer bei Dr. Stiegnitz sitze, erklärt er mir, dass Lügen lebensnotwendig seien, ja, dass eine Welt ohne Lüge eine Welt ohne Leben wäre. Aber haben andere Menschen nicht das Recht, von uns die Wahrheit zu erfahren? Dr. Stiegnitz, der den Holocaust überlebte, weil er als Achtjähriger vor einem ungarischen Nazi seine jüdische Herkunft verleugnete, war vierzig Jahre lang Beamter im österreichischen Bundeskanzleramt und betreibt seine Forschungen eher als leidenschaftliches Hobby. Er lächelt und sagt, dass es natürlich eine moralische Grenze gebe: Man dürfe anderen Menschen nicht schaden. »Sie spüren das schon«, sagt er zu mir, »das sehe ich Ihnen an.« Ich bin mir nicht sicher, wie ernst er das meint, aber es klingt gut.

Am nächsten Tag fragt mich mein Chef, wie das Gespräch war. »Ja, super, er hatte unheimlich viel zu erzählen. « Wenn ich ehrlich bin, war es zwar interessant, super war aber vor allem, dass ich danach noch mit meiner Schwester ein Powidlkompott essen konnte. Und wenn ich noch ehrlicher bin, hat so eine Dienstreise für mich den Vorteil, dass ich ausnahmsweise nicht in die Kita hetzen muss, um meinen Sohn abzuholen – was, so gerne ich meinen Sohn abhole, hin und wieder auch ganz nett ist. Lügen, habe ich gelernt, tut nur weh, wenn man anderen wehtut. Aber sich hin und wieder mal ein paar Freiheiten zu erschummeln, ist überhaupt nicht schlimm. »Und der Text, wann kommt der?«, fragt mein Chef. »Im Prinzip bin ich fertig, ich muss nur noch auf einen Interviewpartner warten.«

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