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Wissen Einstellungssache: »Sorry, nur Feste dürfen Feste feiern!«

Wissen: Einstellungssache: »Sorry, nur Feste dürfen Feste feiern!«
Jobnomaden, Freelancer, Projektarbeiter – Unternehmen sind auf zuverlässige freie Mitarbeiter ­angewiesen. Wieso lassen die sich trotzdem behandeln wie Arbeitnehmer zweiter Klasse?

Text: Charlotte Schiller | Illustration: Jan Robert Dünnweller

Der peinlichste Moment in Thomas’ Leben ist gerade erst sechs Monate her. Thomas arbeitet als freier Mitarbeiter im Onlinemarketing eines großen deutschen Modekonzerns. Kurz vor Weihnachten hatte seine Chefin die ganze Abteilung in ein Restaurant geladen. Als Thomas in seinem besten Anzug und mit neuer Krawatte etwas zu spät im Speisesaal ankam, bemerkte er sofort die merkwürdigen Blicke seiner Kollegen. »Liegt vermutlich am ungewohnten Outfit«, dachte er und ­suchte auf den Sitzkarten nach seinem Platz. Zweimal ging er um die Tafel herum, dann stand plötzlich seine Vorgesetzte vor ihm. »Das ist mir jetzt etwas unangenehm, Thomas«, sagte sie, »aber die Feier ist nur für die Festangestellten. Ich dachte, das hätte ich klargemacht.«

Zu diesem Zeitpunkt war Thomas seit fast zwei Jahren für den Konzern tätig, oft schuftete er sechzig Stunden die Woche. Viele seiner Kolle­gen erschienen zum Coaching in meinem Büro – selbstverständlich kam das Unternehmen dafür auf. Nur Thomas musste die Coachingstunden selbst bezahlen. Seine Chefin hatte ihm gesagt, dass sie nicht in die Weiterbildung von Leuten investieren könne, die innerhalb kürzester Zeit zur Konkurrenz wechseln könnten. »Bin ich eigentlich der letzte Idiot auf Erden, dass ich mir so eine Behandlung gefallen lasse?«, fragte mich Thomas im ersten Gespräch. Zumindest in dieser Hinsicht konnte ich ihn beruhigen: Es gibt im 21. Jahrhundert viele solcher »Idioten«. Die meisten Unternehmen, mit denen ich zu tun habe, würden ohne den Einsatz von Praktikanten, Werkstudenten und freien Mitarbeitern sofort zusammenbrechen. Schon in zehn Jahren, da sind sich viele Experten einig, werden Jobnomaden, Projektarbeiter und Lebensabschnittsangestellte die Mehrheit auf dem Arbeitsmarkt stellen. Diese Menschen kennen keine 38,5-Stunden-Woche, keine Kaffeepause und keine Hausschuhe im Büro. Theoretisch können sie von heute auf morgen gekündigt werden – oder selbst kündigen, wenn ihnen etwas nicht passt. Tatsächlich sind sich die meisten Freelancer gar nicht bewusst, wie viel Macht sie haben.

Auch Thomas hat sich öfter gefragt, ob er nicht nach einem neuen Arbeitgeber suchen sollte. Im Coaching haben wir darüber gesprochen, was ihn genau an seiner Situation stört. Thomas kritisierte vor allem die fehlende Wertschätzung. Er vermisste nicht nur anerkennende Gesten seiner Chefin. Ihm setzten auch die Kollegen zu, die immer wieder Bemerkungen über seinen hohen Stundensatz fallen ließen. Dass Thomas von seinem Honorar noch seine Kranken- und Altersvorsorge bestreiten muss und auch keinen bezahlten Urlaub bekommt, war ihnen nicht klarzumachen.

»Love it, change it or leave it!« – nach diesem Motto lasse ich meine Klienten erarbeiten, was ihnen an ihrem Job gefällt, welche Probleme sie selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit lösen können – und was nicht zu ändern ist. Fällt die Bilanz zu negativ aus, wird ihnen oft bewusst, dass es ihre freie Entscheidung ist, zu kündigen. Allein diese innere Unabhängigkeit führt zu einem selbstbewussteren Auftreten im Job.

Wie bei Thomas. Ihm war klar, dass er seine Kollegen nicht zu besseren Menschen machen konnte. Aber er handelte ein höheres Honorar aus (eventuell ist Geld doch die ehrlichste Form der Wertschätzung). Im selben Gespräch bot ihm die Chefin übrigens auch eine Festanstellung an. Thomas hat sofort abgelehnt.

Dieser Text ist in der Ausgabe 06/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen. Eine Übersicht aller »Einstellungssachen« findet ihr hier.

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