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Politik Land der untergehenden Sonne

Politik: Land der untergehenden Sonne
Vier Jahre, zwei Monate und zwanzig Tage später steht Herr Nakasato vor dem Verwaltungsgebäude von Namie, um mir etwas zu zeigen, das man sehen, aber nicht verstehen kann.

Ich bin für Nido und NEON in Japan unterwegs, eine Geschichte, die ich recherchieren soll, spielt in Fukushima, und um besser zu verstehen, was die Katastrophe hier eigentlich verursacht hat, möchte ich das Sperrgebiet um das havarierte Kernkraftwerk Fukushima Daichi besuchen. Weil Herr Nakasato aus dem im Sperrgebiet liegenden Städtchen Futaba stammt – dort hat er, so drückt er das aus, das Leben eingeatmet, dort ist er also in die Welt gekommen – darf er diese Zone betreten. Ich komme mit als sein Gast, in Namie hat mir ein Beamter einen Passierschein ausgestellt.

Ich fahre los mit der Ahnung, dass mich diese Tour nicht unberührt lassen wird. Dass es in der Sperrzone derart erschütternd ist, wird mir erst allmählich klar. Es ist, als würde die leise radioaktive Strahlung, die mit der surrealen Schönheit dieser Menschenleere einhergeht, auch eine Traurigkeit in Mikrodosen abgeben, die sinkt einem langsam in die Knochen, bis man ganz krank wird davon, bis man nur noch abhauen will aus dieser schrecklichen Wunderlandschaft; wie jedenfalls Herr Nakasato, der regelmäßig diese verlorene Heimat besucht, die tiefe Tristesse des Ortes noch ertragen kann, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft.

Politik: Land der untergehenden Sonne

Wir fahren auf der Bundesstraße 6 los, die wie eine Schneise durch die Verwüstung in das Herz des Sperrgebiets hineinführt. Links und rechts der Straße Felder und bald die ersten verlassenen Häuser. Sie gehören zu einer Zone, die für die Öffentlichkeit zwar nicht off limits ist, allerdings auch noch nicht wieder besiedelt werden darf. Ich will jetzt schreiben, dass diese Gegend im Grunde unbeschreiblich ist, aber für diesen Text tun wir einmal so, als sei ich gerade nicht von solch beruflichem Defätismus befallen. Was man aus dem fahrenden Auto also sieht, ist eine Welt, in der es alles gibt, das wir aus unserem Alltag kennen, nur ist es seit Jahren nicht berührt, nicht gestutzt, gestrichen, gewaschen, bewegt worden, es ist eine Welt, in der das menschliche Bedürfnis, die Hand an die Dinge zu legen, aus dem Bild gerutscht ist. Wir fahren vorbei an Tankstellen, Baustellen, Supermärkten, Parkplätzen, Autohäusern, Friseurgeschäften, an Restaurants, Siedlungen und Reisebüros, und auf den ersten Blick verrät nur der Pflanzenwuchs, dass hier etwas fundamental nicht stimmt. Überall ist Grün, Gras und Gestrüpp platzen aus dem Asphalt, Schlingpflanzen ziehen sich am Arm eines verlassenen Baggers hoch und an den zahllosen Werbetafeln, die verschwundene Konsumenten zum Konsum bewegen wollen, Schlingpflanzen bedecken die Mauern um einen Sportplatz, kriechen durch offengelassene Fenster, die gehegten Vorgärten haben sich in kleine Urwälder verwandelt. Die Felder liegen brach und sind von Gras und Wildblumen bedeckt. Auf manchen reihen sich auch wie Heuballen große schwarze Plastiksäcke aneinander – gefüllt mit nuklear verstrahltem Abraum, den Subunternehmer des massiv am Unglück schuldigen Energiekonzerns Tepco fortschaffen sollen, angeblich ein Geschäft für die japanische Mafia, die für diese Drecksarbeit ungeschulte Arbeiter unter sklavenartigen Bedingungen schuften lässt. Subtiler und merkwürdiger wirkt allerdings eben die Verlassenheit der Gegend – man ist ja gewohnt, manchmal leere Straßen zu sehen, es ist ja nicht immer jemand auf dem Bürgersteig unterwegs, vor dem Supermarkt mit Einkaufswagen, im Garten mit der Heckenschere zu sehen. Aber irgendwie registriert das Hirn das nach einer Weile dann doch, dass hier keiner ist außer Niemand, und das verursacht langsam aber sicher eine fundamentale Beunruhigung, die unter dem wachen Bewusstsein zu rumoren beginnt und sich in so etwas wie einer leisen Übelkeit der Betrachtung bemerkbar macht.

Herr Nakasato und ich erreichen nach zwanzig Minuten einen Checkpoint, an dem er seinen Anwohnerschein und meine Registrierung als Besucher vorzeigen muss, die honigsüßen Tepco-Sicherheitsleute reichen uns im Gegenzug Sicherheitskleidung, die wir unausgepackt in den Kofferraum werfen, und kleine Strahlenmessgeräte, die wir uns um den Hals hängen – am Ende fangen wir uns jeder zwei Mikrosievert ein, das ist ein Fünftel dessen, was man bei einem Flug nach Mallorca an Strahlung abbekommt, diese Tour ist also absolut im Rahmen des Vernünftigen.

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Die erste Station im Sperrgebiet ist ein kleiner buddhistischer Friedhof, auf dem die Ahnen von Herrn Nakasato bestattet liegen, auch sein Vater. Als am 11. März 2011 gegen 14.30 Uhr die Erde bebte, fielen die meisten Grabsteine hier um. Herr Nakasato ist dankbar für den Wildwuchs, der sich inzwischen über diese Zerstörung gelegt hat, denn vorher sah es viel trauriger aus, sagt er. Er stellt Blumen in die Vase vor dem Grab seines Vaters, gießt Wasser aus einer PET-Flasche hinein, steht eine Weile ratlos davor und sagt dann, wir könnten nun weiter. Im Auto erzählt er, dass seine Mutter, die mittlerweile im 200 Kilometer entfernten Saitama lebt, nichts sehnlicher wünscht, als bald zu sterben und neben dem Vater beerdigt zu werden. Herr Nakasato sagt, so eine Bestattung werde vorerst allerdings nicht erlaubt sein, man werde die Asche erst einmal in Saitama lassen müssen. Seine Kinder würden sie vielleicht eines Tages umbetten können, jedenfalls gebe sich niemand, der hier gelebt hätte, der Illusion hin, hier auch unter die Erde zu kommen. Auch die Toten müssen vor der Strahlung geschützt werden. Im 200 Kilometer entfernten Saitama leben übrigens auch Frau und Kinder des Herrn Nakasato, die sind vor der Strahlung geflohen und haben dann beschlossen, nicht mehr ins Strahlenland zurückzukehren. Herr Nakasato hingegen ist 58, er muss noch sieben Jahre arbeiten, bevor er zu ihnen ziehen kann, sein Arbeitgeber ist aus dem Sperrgebiet nämlich in ein naheliegendes Städtchen gezogen, ebenfalls noch Präfektur Fukushima, wobei die Geschäfte dort leider wesentlich schlechter gehen, will sagen defizitär. All diese Dinge sagt Herr Nakasato immer sehr ruhig und gefasst, als würde er von etwas sprechen, das ihn nicht persönlich betrifft. Vielleicht, weil er sonst gar nicht mehr klarkommen würde, aber es kostet vermutlich sehr viel Kraft.

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Wir gelangen dann zu seinem Haus und ich bin beeindruckt. Es ist, glaube ich, wirklich das schönste Privathaus, das ich bislang in Japan gesehen habe. Sein Urgroßvater, ein reicher Bauer, hat es vor über 100 Jahren gebaut. Ein mächtiger, langgestreckter Holzbau, wie eine Arche sieht das Haus aus schweren schwarzen Balken und hohen Fenstern aus; es ist umstanden von Schuppen und Nebenhäuschen und hohen alten Bäumen, von der Straße kann man es gar nicht sehen. Auch dieses Anwesen erobert sich die Natur langsam zurück, der Hof ist übersät mit Löwenzahn und Gänseblümchen, Fahrräder, Geräte und seltsam banale Gegenstände wie Regenschirme, Baseballschläger, Hausschuhe oder Plastiktüten liegen, langsam im Grün versinkend, überall verstreut. Als ich an ein Fenster herantrete, höre ich aus dem Haus das Ticken einer Uhr. »Sie geht immer noch«, sagt Herr Nakasato. »Dieses Geräusch macht mich sehr nostalgisch.« Er blickt über den Hof und sagt dann mit einem Lächeln, das keines sein kann: »Ich liebe dieses Haus wirklich sehr.« Er bittet mich hinein. »Leider riecht es nicht gut«, warnt er mich. Im Haus schlägt mir der Geruch von Moder und Schimmel entgegen. Beim Erdbeben ist das Dach undicht geworden, es hat an vielen Stellen reingeregnet, der Fußboden ist morsch, das aufgeweichte Dämmmaterial platzt durch Wände und Decken, die vom Beben umgeworfenen Einrichtungsgegenstände sind von einer dicken Staub- und Pilzschicht bedeckt, die Rücken und Seiten der Bücher, mit denen Herr Nakasato, ein Geschäftsmann und leidlich bekannter Dichter, sein Haus gefüllt hat, haben einen grünlich schimmernden Pelz übergegezogen. Wir gehen in das alte Wohnzimmer, wo unter Schutt und Staub noch alles so angeordnet liegt, wie es 2011 verlassen wurde, die Glotze, die Fernbedienung, das aufgeschlagene Programmheft. »Guck mal, die Hautcreme«, sagt Herr Nakasato, und zeigt auf ein geöffnetes Tiegelchen, das auf dem Couchtisch steht. »Die haben die Ratten gefressen. Die haben sich hier überall eingenistet.« Er zuckt mit den Schultern.

Herr Nakasato erzählt, dass die ganze Familie – er, seine Frau, die drei Kinder, seine Mutter – in der Nacht nach dem Beben in diesem Wohnzimmer übernachtet hätte. Alle gemeinsam, nach dem Schock dieser Erderschütterung, die so viel heftiger gewesen war als alle anderen in allen erinnerten Leben zuvor. Am nächsten Morgen seien sie aufgestanden und hätten im Lokalfernseher ihren Bürgermeister gesehen, der für Herrn Nakasato ein Held ist, weil er seinen Bürgern sagte, sie sollten das Weite suchen, während der Generalsekretär der japanischen Regierung, der ruhmreiche Herr Edano, den Menschen noch tagelang predigte, es sei alles in Ordnung und nichts zu befürchten. Und so verschwanden die Nakasatos am 12. März 2011 um sieben Uhr früh aus ihrem Haus, und dass sie nie wieder hier leben würden, dürften sie damals nicht gewusst haben; nicht gewusst, dass sie zunächst in eine benachbarte Stadt in der Präfektur, dann in eine Arena in Saitama, dann in mehrere Wohnungen und schließlich in ein neues, fremdes Haus in einem neuen, fremden Leben ziehen würden.

Man steht so neben dem Herrn Nakasato und will ihm sagen, das tut mir alles furchtbar Leid und ich fühle deinen Schmerz, aber zum Glück bringt man das nicht über die Lippen, denn was kann er sich davon schon kaufen. Stattdessen sagt man ihm, dass man bitte gerne ein Foto von ihm hätte vor seiner Hütte. Er stellt sich auf und fragt, wie er gucken soll. »Wie du dich fühlst«, sage ich, und meine eigentlich: wie es dir gefällt; Nakasato sagt jedenfalls: »Ich weiß nicht, wie ich gucken soll.«

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Wir müssen die Sperrzone verlassen, Sperrstunde in Sperrzone, um 16 Uhr alle bitte raus, sonst wird man gesucht. Ich bin perverserweise ein bisschen enttäuscht, weil ich mir noch mehr Zerstörung reinziehen will, bin aber bald getröstet, denn wie gesagt, das offene, aber nicht zur Besiedlung freigegebene Gebiet ist genauso krank pittoresk. Wir fahren an eine Kreuzung, über der auf einem Triumphbogen der preisgekrönte Spruch eines Grundschülers schwebt, dessen Kinderglauben wurde ein paar Jahre vor der Katastrophe in einem von Tepco gesponserten Wettbewerb durch diese Verewigung ausgezeichnet: »Atomenergie bedeutet eine leuchtende Energie für die Zukunft.« Der Schüler sei mittlerweile erwachsen und völlig fertig wegen dieses Spruches, sagt Herr Nakasato. Als hätte das Kind wissen können, dass die leuchtende Zukunft in etwa 200.000 Menschen resultieren würde, die ihre Heimat verlieren würden. Hinter dem Triumphbogen liegt verlassen eine kleine Einkaufsstraße, verrückterweise blinken die Ampeln noch, ein Haus, das beim Erdbeben umgefallen ist, hat sich über einem Zebrastreifen langgemacht, stehengelassene Autos versinken im hohen Gras, Apotheken lassen in ihren Regalen die Medikamente ablaufen, vom Dach einer Schule beginnt ein Lautsprecher zu rülpsen, Dingdangdong, bitte nicht in die abgesperrten Häuser hinein weil sonst sehr viel Mikrosievert. Ein Wiesel läuft über die Straße, hält und starrt mich lange an, den menschlichen Eindringling. Vögel zwitschern in den Bäumen. Das ist, glaube ich, der Moment, bei dem bei mir alles umzukippen anfängt und ich das alles nicht mehr berauschend, sondern bedrückend zu finden beginne.

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Herr Nakasato zeigt mir das Geschäft, das er geleitet hat. Er nennt es einen Supermarkt, es ist aber mehr eine ganze Mall, mit McDonald’s und allem, was es braucht. Da war Herr Nakasato auch am 11. März 2011, er zeigt mir die Treppe, die er von seinem Büro aus hinuntergestürzt ist, um sich zu retten vor dem Twerken der Erdkrusten, runter auf den Parkplatz, auf dem er früher zufrieden die Autos der Kunden gezählt hatte, und auf dem die Kunden nun kauerten auf allen vieren, weil die Erde so wackelte, dass er sich gefühlt hätte wie auf einem Schiff auf dem offenen Meer. Er erzählt mir auch, wie da hinten die Mauer umgekippt sei, und er habe hinrennen wollen, um zu gucken, ob da Menschen drunter liegen geblieben seien, und habe sich dabei ordentlich auf die Schnauze gelegt, weil man auf einem wogenden Ozean eben leicht das Gleichgewicht verliert. An dem Tag kam übrigens in dieser Gegend ziemlich sogleich eine Warnung vor einem Tsunami, und eine Kollegin, deren Eltern am Meer wohnten, sei deswegen trotz schrecklicher Sorge nicht hingefahren, und ein anderer Kollege, der da ein Haus hatte, sei trotzdem hingefahren, und das sei denn auch das letzte Mal gewesen, dass man den gesehen habe. Einige Leichen, sagt Herr Nakasato, hätte man 50 Kilometer von der Küste entfernt wiedergefunden.

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Wir fahren dann auch in die Gegend, über die sich das Meer gelegt hat, die ganzen Boote, sagt Herr Nakasato, die überall hingespült worden seien, bis auf die Wipfel dieser Gehölze, die vom Salzwasser dann ertränkt wurden und nun kahl und horrorfilmmäßig im Grün der im übrigen wuchernden Natur stehen, die ganzen Boote jedenfalls seien inzwischen weggeräumt. Nun liegen nur noch Autos auf den Feldern herum, sie sehen ein bisschen aus, als seien sie aus Papier gemacht, einmal zusammengeknüllt und dann lieblos wieder zurechtgebogen worden, zerknittert, genau wie die Leitplanken, die Laternenpfähle und so weiter. Das Wasser muss mit unglaublicher Gewalt gekommen sein. Die paar Häuser, die das überstanden haben, sehen aus wie von Kindergartenkindern gezeichnet, da ist keine Linie mehr gerade. Wir fahren an die Küste und sehen rechterhand, über den Wipfeln eines an das Meer heranreichenden Kiefernwaldes, die verbogenen Spannmasten des Kernkraftwerks Fukushima Daichi. Kennt man aus dem Fernsehen, nur diese hier sind halt echt. Es ist unglaublich creepy und bedrückend.

Wir fahren dann zurück. Ich versuche Herrn Nakasato von den Sümpfen der Traurigkeit zu erzählen in der Unendlichen Geschichte, wo man nicht zu lange verweilen darf, weil man sonst nicht mehr die Kraft findet, sie zu verlassen. So fühlt sich das für mich an, diese Gegend, und ich schäme mich ein bisschen dafür, weil das ja nicht einmal meine Gegend ist, sondern eine Gegend sehr weit weg von meiner Heimat, im Pazifik. Die Geschichte funktioniert natürlich nicht für Herrn Nakasato, ich hätte sie für mich behalten sollen.

Später sitze ich mit ihm in einem Restaurant in Koriyama, wohin das Schicksal ihn verschlagen hat. Wir trinken viele Biere und reden über Haikus, Samurais und ISIS, gar nicht mehr über seine Heimat, die man vergessen kann.

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