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Freizeit »Es gibt so viel sinnlose Ablenkung im Netz. Und ich verstehe den Reiz.«

Freizeit: »Es gibt so viel sinnlose Ablenkung im Netz. Und ich verstehe den Reiz.«
Den Giraffen hat John Green seinen größten Internet-Hit zu verdanken. Besser gesagt dem Giraffen-Sex. Über 42,5 Millionen Klicks haben die drei Giraffen-Videos, die John auf dem YouTube-Kanal »Vlogbrothers« veröffentlicht hat, den er zusammen mit seinem Bruder Hank betreibt. Danach folgt auf der Popularitätsliste ein Acht-Minüter, in dem John das US-amerikanische Gesundheitssystem erklärt und kritisiert. Das ist die Spannbreite, in der sich John Green – Schriftsteller, Alltagsphilosoph, Internetphänomen – bewegt: zwischen Lustig-Nerdigem und ernsten Themen wie Politik, Liebe, dem Gefühl, nicht verstanden zu werden oder Krankheit und Tod. Sein Roman »Das Schicksal ist ein mieser Verräter«, der sich etwa elf Millionen Mal verkaufte und letztes Jahr verfilmt wurde, erzählt von drei krebskranken Jugendlichen. Jetzt kommt die zweite Romanverfilmung von Green in die Kinos. Wir haben ihn zum Interview getroffen.

Foto: Steve Granitz / Getty Images
Text/Interview: Lisa Goldmann

In »Margos Spuren« sucht ein Teenager nach seiner verschwundene Klassenkameradin Margo und muss dabei feststellen, dass er sie in seiner jugendlichen Verknalltheit völlig verklärt hat. »So habe ich früher auch über Mädchen gedacht«, sagt Green. »Sie waren Projektionsflächen für mich, idealisierte, engelsgleiche Wesen, keine echten Menschen. Erst später habe ich gemerkt, wie zerstörerisch so eine Haltung ist«. So einfach und klug klingen die meisten Sätze von Green. Dafür wird er von Millionen von Jugendlichen geliebt und bekreischt wie ein Popstar. Der New Yorker nennt ihn deswegen »Teen Whisperer«. Green liebt zurück. Wer ihn einmal bei einer Lesung oder einem Video-Chat erlebt hat, weiß, wie sehr er vom Austausch mit seiner Community lebt. Die nennt sich Nerdfighter, ihr Schlachtruf lautet »DFTBA – Don’t forget to be awesome« (Vergiss nicht, großartig zu sein). Im Interview erzählt John Green, dass Jugendliche oft die klügsten Fragen stellen, was Internet und Romane gemeinsam haben und warum er ein Fan von One Direction ist, obwohl er deren Musik noch nie gehört hat. Ach, und den Sinn des Lebens erklärt er auch gleich noch.

Sie haben die Dreharbeiten zu »Margos Spuren“ begleitet, waren am Set dabei. Das Drehbuch haben Sie aber nicht selbst geschrieben. Ist es schwer gefallen, die Geschichte loszulassen?
Ein bisschen. Aber sobald ein Buch erschienen ist, ist es nicht mehr meine Geschichte, sie gehört allen und sie kann ohne mich weiterwachsen, größer und besser werden. Ich glaube, diese Einstellung habe ich auch durch das Internet gelernt, wo immer alles weiterwächst und zur Diskussion steht.

Margo Spiegelmann, die Figur aus Ihrem Roman, hat ja auch einen eigenen Twitter-Account…
Ja, das habe ich auch gesehen! Ich kenne die Person, die dahinter steckt nicht, aber sie gibt eine sehr überzeugende Margo ab.

Margo ist, wie fast alle Ihre Protagonisten und die meisten Ihrer Fans, noch ein Teenager. Sie sind inzwischen 37…
Ich weiß, ich bin alt! Aber im Gegensatz zu vielen anderen Erwachsenen unterschätze ich Jugendliche nicht. Sie sind sehr interessiert und offen und sie stellen die großen, existentiellen Fragen auf so grundsätzliche, leidenschaftliche Art.

Zum Beispiel nach dem Sinn des Lebens… Und?
Ich persönlich glaube, dass aufmerksam sein der Sinn des Lebens ist. Die Fähigkeit, etwas unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken macht uns zu besseren Menschen. Deswegen mag ich Bücher so sehr: Sie zwingen uns, uns zu konzentrieren und zu fokussieren. Wenn ich lese, kann ich nichts anderes machen.

Ist das Internet dann das Gegenteil davon?
Das Internet kann beides sein. Es gibt so viel sinnlose Ablenkung im Netz. Und ich verstehe den Reiz. Es fällt mit nicht leicht, darüber zu sprechen… Ich spüre einen ständigen, tiefen Schmerz in mir. Es ist eine Art körperlich schmerzhafte Langeweile, eine Leere. Sie ist immer da, am Rande meines Bewusstseins, und einen großen Teil meiner Zeit verbringe ich damit, mich von diesem Schmerz abzulenken. Vieles im Netz bietet dafür eine sehr einfache Möglichkeit. Aber es ist letztlich völlig bedeutungslos. Wie gesagt, ich glaube, der Sinn unserer Existenz besteht darin, die Welt um uns bewusst wahrzunehmen. Und ich weiß, dass das Internet mir dabei auch helfen kann… Kennen Sie One Direction?

Die britische Teenie-Band?
Ja. Ich habe deren Musik noch nie gehört, aber sie haben eine tolle Community. Ich liebe deren Fan-Fiction und die Kunst, die sie erschaffen. Sie bringt Menschen zusammen, die sich sonst nie gefunden hätten und sie macht deren Leben größer und schöner und besser. Die Leute machen sich gerne lustig über die One-Direction-Fans, aber ich finde sie großartig! Das Internet ist so ein kollaborativer, offener Ort, darauf möchte ich mich konzentrieren.

Wie bekomme ich im Netz Aufmerksamkeit?
Ganz ehrlich: Wenn mein Bruder und ich unseren Videoblog heute beginnen würden, hätten wir absolut keine Chance. Zwei Typen, die über irgendwelche Dinge reden, die sie gerade interessieren. Lächerlich. Aber als wir im Januar 2007 anfingen, hatte YouTube noch eine relativ kleine, jedoch sehr engagierte Community. Die braucht man, um ein Publikum zu erreichen. Heute würden wir wahrscheinlich zu Periscope gehen. Und man muss durchhalten. Hank und ich haben bestimmt 100 Videos gemacht, bevor wir mehr als 1.000 Zuschauer hatten.

Wissen Sie inzwischen im Vorfeld, welche Reaktionen Sie auf Ihre Videos bekommen werden?
Ich habe eine vage Vorstellung davon, wie viele Menschen ein Video sehen werden. Aber ich bin jedes Mal wieder sehr gespannt und aufgeregt, welche Diskussionen sich daraus entspinnen. Zum Glück haben wir sehr großzügige, rücksichtsvolle und intelligente Zuschauer. Sie haben keine Hemmungen, mir zu sagen, wenn ich falsch liege, aber sie machen das sehr freundlich und bieten ihre Hilfe an.

Ihre Community scheint wirklich eine Insel der Freundlichkeit, es gibt kaum Trolle.
Wir haben uns das über Jahre aufgebaut. Wir versuchen nicht, so viele Menschen wie nur irgendwie möglich zu erreichen, sondern wollen eine langlebige Community aus Gleichgesinnten aufbauen, die Interesse haben sich auszutauschen. Davon gibt es mehr, als man vielleicht denkt. Mein Bruder und ich betreiben zum Beispiel auch »Crash Course«, einen Bildungskanal, auf dem wir über Themen wie Literatur, Geschichte, Chemie sprechen. Die Videos dauern zehn bis 15 Minuten und sind relativ komplex und differenziert. Trotzdem lassen sich viele Menschen darauf ein. Es gab allerdings auch eine Phase, da haben wir es ein bisschen anders gemacht.

Wie denn?
Vor ein paar Jahren, 2009, 2010, haben wir versucht, noch mehr Zuschauer zu bekommen. Wir haben viele Top-Ten-Listen veröffentlicht, »Die zehn unglaublichsten Explosionen der Menschheitsgeschichte«, solche Sachen. Aber wir haben gemerkt, dass die, die das anklicken, nicht bleiben. Also haben wir es wieder gelassen. Das Netz ist auch so schon voll genug mit Superlativen.

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