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Freizeit Der Aufschrei-Moment der Generation Facebook

Freizeit: Der Aufschrei-Moment der Generation Facebook
Die Flüchtlingskrise politisiert auch diejenigen, die mit Politik bisher nichts am Hut hatten – auch das Facebook-Versagen hat daran seinen Anteil.

Foto: Hannibal Hanschke / Reuters

Meine Freundin Sophie sucht einen Deutschkurs für ein syrisches Flüchtlingsmädchen und bittet um Mithilfe des Facebook-Schwarms. Katharina ist mit oranger Warnweste als Freiwillige am Münchner Hauptbahnhof unterwegs. Frank geht auf eine Demo gegen Rechts. Jeden Tag, wenn ich mich auf Facebook einlogge, sehe ich neue Postings, die davon erzählen, wie meine alten Studienfreunde, meine ehemaligen Klassenkameraden, meine Kollegen sich für Flüchtlinge in Deutschland stark machen. Anja Reschkes Kommentar gegen Flüchtlings-Hetze wurde mir so oft in die Timeline gespült, dass ich beim Scrollen tagelang nur Reschkes gelbes Kleid vor dem blauen Tagesthemen-Hintergrund sah.

Auffällig daran ist: Es sind nicht nur die üblichen Verdächtigen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, Hetzer verurteilen. Die Flüchtlingskrise Europas erreicht auch diejenigen, die mit Politik bisher nichts am Hut hatten. Die Lage der Flüchtlinge politisiert gerade eine ganze Generation, die oft als »politikverdrossen«, als »apolitisch« beschrieben wurde. Es war eine bequeme Haltung, ein Zurückgelehntsein im gefühlten »Uns-geht-es-doch-allen-gut«-Deutschland. In dieser Position kann nun niemand mehr verharren.

Fast jede Nacht brennt irgendwo in Deutschland eine Flüchtlingsunterkunft. Genauso wie Gesten des Helfens werden auf Facebook auch menschenverachtende Kommentare veröffentlicht, die tote Kinder verunglimpfen, Flüchtlinge bedrohen und Hilfesuchende und Helfer diffamieren. Das Netzwerk hat das Problem immer noch nicht in den Griff bekommen. Während mit der vollen Härte der Facebook-AGBs ein Kampf gegen jeden Frauennippel geführt wird, schaut Facebook bei Hetze gegen Flüchtlinge noch allzu oft weg.

Das Facebook-Versagen führt immerhin vor Augen, dass ein Teil Deutschlands schon längst eine politische Haltung entwickelt hat: In den Gedanken dieses Teils sind manche Menschen weniger wert, weil sie anderswo herkommen, die deutsche Kultur muss in ihren Augen wie eine bedrohte Tierart geschützt werden. Wer das bisher nicht wahrhaben wollte, bekommt jetzt auch per Facebook die Gegenbeweise geliefert. Das Netzwerk lässt uns einen schmerzhaften Blick werfen auf deutschen Rassismus im Jahr 2015. Wer den Rassisten nicht das Feld überlassen will, der muss, wie auch Anja Reschke es ausdrückte, den Mund aufmachen. Ihr Kommentar wurde auch deswegen zum viralen Hit, weil er diese einleuchtende Tatsache auf den Punkt brachte.

Wir erleben gerade, wie die Deutschen ihren Staat überholen. Wo die Politik von Bürokratie oder schlichtem Unwillen gelähmt ist, tauchen ehrenamtliche Helfer auf, egal ob vor dem Lageso in Berlin oder am Münchner Hauptbahnhof. »Das Boot ist groß«, heißt es in der aktuellen NEON und offenbar sehen es viele junge Deutsche genau so. Jetzt ist der Moment, in dem aus dieser inneren Haltung mehr wird. Engagement. Politisches Handeln. Gegenwehr gegen »Dunkelland«. Es ist höchste Zeit.

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