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Politik Wo stehst du?

Politik: Wo stehst du?
Die Flüchtlingskrise zwingt unsere Generation dazu, endlich Stellung zu den Problemen der Welt zu beziehen. 2015 werden 800 000 Menschen nach Deutschland fliehen. Das Land ist gespalten zwischen Leuten, die mutig die Zukunft gestalten, und denen, die Angst haben. Dabei gibt es dafür gar keinen Grund.

Text: Judith Liere, Fiona Weber-Steinhaus | Illustrationen: Matt Rota

Aus der Distanz betrachtet sieht die Welt friedlich aus und ruhig: eine blau-grüne Kugel schwebt im schwarzen All. Diese Perspektive ist längst nicht nur Astronauten vertraut, sondern jedem Google-Earth-Nutzer, der den Planeten Erde mit dem Maus-Cursor anfassen und drehen kann ein Doppelkick beamt uns dann an jeden beliebigen Ort. Was man auf dem Pixelglobus nicht sieht, sind die Flüchtlingsboote im Mittelmeer und die Zeltlager, die in deutschen Städten entstehen. Denn so aktuell sind die Bilder nicht.

Google Earth symbolisiert den unbegrenzten Zugriff, den wir auf die Welt haben. Wir sind die Generation ohne Grenzen. Wir waren zum Auslandssemester in Barcelona und zum Backpacken in Kambodscha. Grenzen haben für uns keine Bedeutung: Innerhalb der EU ziehen wir den Personalausweis nicht mal mehr aus der Tasche. Außerhalb Europas öffnet der deutsche Reisepass wie eine VIP-Keycard fast alle Schranken. Globalisierung bislang haben wir davon nur profitiert. Doch die Probleme der Welt halten sich inzwischen auch nicht mehr an Grenzen, sind nicht länger hinter Mauern und in totalitären Systemen abgeschottet. Internet gibt es auch im Irak und im Iran, in Albanien und Afghanistan. Auf Youtube, Facebook und Twitter sehen viele Menschen, dass man an anderen Orten besser und friedlicher leben kann. Und auch der Weg zu diesen Orten ist in der vernetzten Gegenwart einfacher geworden, dank Whatsapp-Chat und GPS-Karte auf dem Smartphone. Die Welt auszublenden, ist für uns keine Option mehr. »Wer in Hamburg aus der Tür tritt und einen Kilometer geht, wird auf eine Flüchtlingsunterkunft treffen«, sagte der Hamburger Sozialsenator Detlef Scheele im Sommer. Sechzig Millionen Menschen sind auf der Flucht, die höchste Zahl seit dem zweiten Weltkrieg. In vielen deutschen Städten werden Zelte aufgebaut und Container aufeinandergestapelt, um Flüchtlinge unterzubringen. 2015 werden hierzulande wohl 800 000 Asylanträge gestellt. Auf tausend Einwohner kommen dieses Jahr voraussichtlich zehn Flüchtlinge.

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Natürlich gibt es zynische Politiker wie Horst Seehofer, die Angst vor »Asylmissbrauch« schüren, um Wählerstimmen zu sammeln, und bösartige Schlagzeilen. Bis Juni wurde 2015 an jedem Tag in Deutschland ein Flüchtlingsheim beschmiert oder angezündet rechnerisch gesehen. 202 Übergriffe in sechs Monaten; 2012 waren es 24 Anschläge. Aber auch Menschen, die nicht zu Brandbeschleuniger und Spraydose greifen, schimpfen in Bürgersprechstunden: »Die passen nicht hierher.« Oder hetzen auf Facebook: »Gleich vergasen, das Dreckspack.« Was viele nicht verstehen: das Abendland geht nicht unter, wenn Menschen nach Deutschland kommen, die eine andere Religion oder Hautfarbe haben. Der Untergang des Abendlandes wäre es, wenn menschenverachtende Meinungen gesellschaftsfähig würden. Deutschland teilt sich gerade in Ängstliche und Mutige. Die Ängstlichen sorgen sich, selbst zu kurz zu kommen, fürchten sich vor dem Fremden, wollen sich abschotten. Die Mutigen versuchen, die Situation zu meistern und entwickeln das, was der Philosoph Günther Anders »moralische Phantasie« nannte, ein Denken und Fühlen jenseits der Grenzen unserer privilegierten Realität. Es gibt gute Gründe, mutig zu sein:

1. Wir können uns das leisten: Deutschland ist ein reiches, stabiles Land. Es werde schwieriger, aber die Kommunen seien noch nicht an ihre Grenzen gelangt, urteilte der deutsche Städtetag im Juli. Innenminister Thomas de Maizière, selbst eher ein Hardliner, meint: »Überfordert ist Deutschland mit dieser Entwicklung nicht. Wir kriegen das hin.« 1992 kamen rund 400 000 Menschen, viele davon waren Flüchtlinge aus Jugoslawien.

2. Wir sind weltgewandt genug: Die Flüchtlinge stellen keine bedrohliche Invasion dar, sie wollen dasselbe wie wir: ein gutes Leben führen. So banal es klingt das sind normale Menschen. Manche sind nett, andere sind Idioten. Wozu haben wir die Reisen und die Auslandssemester gemacht, wenn nicht, um eine kosmopolitische Kompetenz zu entwickeln, damit zurechtzukommen?

3. Wir haben keine Wahl. Solange der IS im Irak tötet, in Syrien die Städte zerbombt werden und ein Drittel der Kosovo-Albaner in Armut lebt, gilt: Die Menschen werden kommen. Es ist keine Multikulti-Blauäugigkeit, Flüchtlinge schnell integrieren zu wollen, sondern humaner Pragmatismus. Wenn wir nichts ändern, werden Hunderttausende über Jahre in Unsicherheit und beigefarbenen Zeltstädten leben, als Menschen zweiter Klasse. Dann wird das Szenario wahr, das Populisten gern beschwören: Eine Parallelgesellschaft der frustrierten Minderheiten entsteht. Haben wir dann nicht eine Art Apartheidstaat? Wer Angst hat, ist gelähmt. Nur wer sich was traut und Dinge ausprobiert, kann die Zukunft gestalten. Der sperrige Begriff der Zivilgesellschaft darf nicht nur in Broschüren der Bundesregierung stehen, sondern wir müssen ihn leben. 66 Prozent der Deutschen wollen Asylbewerber unterstützen, ergab eine Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung. Die Mutigen spielen Fußball, lassen Fremde im freien WG-Zimmer wohnen oder erklären Neuankömmlingen, wie man in Deutschland Müll trennt. Für unsere Generation ist die Flüchtlingsdebatte der Moment, wo es gilt, Stellung zu beziehen und sich aus der apolitischen, selbstbezogenen Wohlfühlecke zwischen Foodtrucks und Instagram-Inszenierung zu lösen, in der Marktforscher uns gern verorten. Rund dreißig Prozent der 18- bis 35-Jährigen empfinden es als Beleidigung, »unpolitisch« genannt zu werden, das ergab eine NEON-Studie. es war noch nie so einfach, dem Vorwurf etwas entgegenzusetzen. Um die Eurokrise zu verstehen, braucht man einen Abschluss in Wirtschaftspoltitik. Um gegen das Freihandelsabkommen TTIP zu demonstrieren, muss man sich durch Stapel von EU-Papieren lesen. Die Flüchtlingsdebatte aber ist im Kern Simpel: Will man Menschen in Not helfen oder nicht? Warum zum Beispiel müssen Menschen erst in ein Schlauchboot steigen oder auf Laster springen, um einen Asylantrag zu stellen? Warum müssen sich Arbeitssuchende Albaner in Kleinlastern über die Grenze schmuggeln lassen, anstatt sich von zu Hause aus um Jobs in Deutschland bewerben zu können?

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»Die engagierten Milieus sind geübt darin, große Sätze zu sprechen«, schreibt der Soziologe Armin Nassehi in der neuen Ausgabe des Kursbuchs, »Wohin flüchten?«, was aber genauso nottue, seien »unaufgeregte Formen der Inklusion«, eine schnellere Erteilung von Arbeitserlaubnissen, Deutschkurse, solche Sachen alles ist gesagt und nichts getan.

Asyl wird laut Grundgesetz nur Menschen gewährt, die »politisch verfolgt« werden Armut und Hunger zählen nicht. Im Juni 2015 wurden zwei Drittel der Asylanträge abgelehnt. Aber nur etwa fünfzehn Prozent der ausreisepflichtigen Asylbewerber werden abgeschoben oder verlassen das Land, sie verbleiben stattdessen lange in einem rechtlichen Schwebezustand. In gewisser Weise nehmen sie ihr Menschenrecht auf freie Wahl des Wohnorts, das in der UNO-Charta garantiert wird, längst in Anspruch.

Gut leben heißt nicht, seine Ruhe zu haben. Wir entscheiden, wie unsere Gesellschaft aussehen wird. Auf den nächsten Seiten stellt NEON Menschen vor, die die Zukunft mitgestalten werden. Wir haben unter anderem die Syrerin Shaza Munawwar getroffen, die unter dem Geschrei rechter Demonstranten und linker Gegendemonstranten in ein sächsisches Flüchtlingslager einzog und einen Eindruck von diesem gespaltenen Land bekam. Die Polizisten Theresa S. und Dennis S., die an der deutsch-österreichischen Grenze in Zwölfstundenschichten Flüchtlinge registrieren, erzählen, wie sie damit umgehen. Und Abdoulaye Amadou Nassamou, der vor Jahren selbst nach Deutschland floh, berichtet davon, wie er heute als Talentscout Jobs an Flüchtlinge vermittelt.

Wer mit diesen Menschen spricht, hat Hoffnung, dass die neue Welt, die gerade entsteht, spannend wird und gut funktionieren könnte zumindest, wenn wir nicht aus der Distanz zuschauen, sondern mittendrin aktiv werden.

Wie gehen eigentlich die Flüchtlinge selbst, Polizisten, Helfer und Politiker vor Ort mit der Flüchtlingskrise um?Wir haben einige von ihnen getroffen und zu Wort kommen lassen.

»Ich will jetzt einfach leben«
Shaza Munawwar, 24, aus Damaskus, Syrien, lebt in der Asylbewerberunterkunft im sächsischen Freital. Als sie dort einzog, demonstrierten wütende Flüchtlingsgegner auf der einen Seite und wütende Flüchtlingsunterstützer auf der anderen. Sie lässt sich davon nicht beeindrucken.
»Die Nerven liegen blank«
Kilian Kleinschmidt, 53, ist Entwicklungshelfer. er leitete in Zaatari an der jordanisch-syrischen Grenze lange eines der größten Flüchtlingscamps der Welt. er hat dort gelernt: Viele Konflikte lassen sich vermeiden, wenn die Bewohner möglichst selbstbestimmt leben dürfen.
»Where are you from?«
Die Rosenheimer Polizisten Theresa S., 19, und Dennis S., 35, registrieren jeden Tag hunderte Flüchtlinge – wie geht es ihnen damit?
»Ich dachte, hier geht alles geordnet zu«
Bani Almhamid, 26, Medizintechnikstudent aus Daraa, Syrien, wohnt seit Januar 2014 in Deutschland. er reiste mit einem Studentenvisum ein und möchte hier weiterstudieren. Zusammen mit anderen Flüchtlingen demonstriert er für schnellere Asylverfahren.
»Wir reden nicht über Asylgesetze«
Christina Jungbauer, 28, Unternehmensberaterin aus Hamburg, ist seit drei Monaten Vormund der irakischen Teenager Sami, 14, Rashid, 15, und Shaker, 15. Es ist das erste Mal, dass sie sich ehrenamtlich engagiert. Sie findet: Das sollten noch mehr Leute machen.
»Erst dachte ich: Oh, bitte nicht«
Klaus Pleil, 51, ist Bürgermeister von Fürstenfeldbruck. In der bayrischen 35 000-Einwohner-Gemeinde leben mehr als 1600 Flüchtlinge. wegen der schlechten Lebensbedingungen in den Heimen legte sich Pleil bereits mit der Regierung in München an.«

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