Anzeige

Freizeit »Die Jungen verbindet mehr, als sie trennt«

Freizeit: »Die Jungen verbindet mehr, als sie trennt«
Das Fotoprojekt »Sea Change« schickt 13 Fotografen auf die Suche nach einer gemeinsamen Verbindung von Europas Jugendlichen. Der preisgekrönte britische Fotograf Jocelyn Bain Hogg, Initiator der Fotoserie, spricht im Interview über Europas Krise, britische Besonderheiten und Fotografie als Form der Umweltbeobachtung.

Foto: Maciek Nabrdalik

»Sea Change« hat eine Fotodokumentation aus der Zeit der Großen Depression als historisches Vorbild. Steht es wirklich so schlimm um Europa?

Nein. Heute leben wir zwar auch in einer Krisenzeit, aber ich will das nicht vergleichen. Das dokumentarische Vorgehen der Fotografen damals, das ist unsere Inspiration gewesen. Die Bilder hängen heute noch im US-Kongress, weil man viel von ihnen lernen kann über das damalige Alltagsleben der Menschen.

Was bedeutet die jetzige Krise für die junge Generation?

Die jungen Leute in meinem Land haben definitiv nicht mehr die Vorteile, die Menschen aus meiner Generation in ihrem Alter hatten: Die Ausbildung kostet ein Vermögen, es gibt keine Jobs, die Kluft wird größer. Trotzdem werden sie wie alle Generationen vor ihnen einen Weg finden. Sie starten aber aus einer benachteiligten Position heraus.

Was passiert als nächstes?

Das, was wir bisher gesehen haben, ist noch gar nichts. Es wird eine sehr spannende Zeit werden in Großbritannien, wenn sich diese Probleme entladen werden, wenn die jungen Leute vom College abgehen und merken, dass sie keine Miete bezahlen können, geschweige denn sich ein Haus leisten können.

Sie haben mehr als drei Jahre an dem Projekt gearbeitet. Was haben Sie in der Zeit über Europas Jugend gelernt?

Zusammen mit meinem Art Director musste ich Tausende Fotos sichten. Was ich nicht erwartet hatte und mich sehr fasziniert hat, war, wie ähnlich sich doch die Jugendlichen aus den verschiedenen Ländern sind. Die Jungen verbindet mehr, als sie trennt. Allein vom Betrachten der Fotos kann man nicht auf das Land schließen. Junge Griechen feiern genauso wie die Isländer. Und der reiche Vorort-Snob aus London und der arbeitslose Typ aus Barcelona haben die gleichen Sorgen, bei beiden geht es um Jobs und Wohnen.

Auch in der Einleitung des Fotobands steht, dass alle Jugendlichen Europas sich den gleichen Fragen und Problemen stellen müssen. Stimmt das? Griechenland ist doch in einer ganz anderen Situation als Deutschland.

»Sea Change« ist ein fotografisches Projekt, nicht investigativer Journalismus. Der Sinn von »Sea Change« ist es, genau solche Fragen zu provozieren, die Menschen zum Nachdenken zu bringen. Ich bin kein Soziologe oder Schreiber. Ich bin Fotograf. Ich will mit eigenen Augen sehen, was gerade um mich herum passiert. Und das ist der tiefere Sinn hinter »Sea Change«, dieses visuelle Zeigen, wie Leben hier und jetzt in Europa gelebt werden. Die Fragen, die sich daraus ergeben, kann ich nicht abschließend beantworten.

Rauchen, Trinken, Ausbüxen, Feiern: Zeigt das Projekt auch einen »Universalcode der Jugend«, der sich nie verändert?

Ich denke, ja. Alle von uns haben laut Musik gehört und sind auf Parties gegangen. Das ändert sich nicht. Es gibt ein Foto, das für mich stellvertretend für das gesamte Projekt steht. Es ist der irische Graffiti-Sprayer, der von der Polizei festgesetzt wurde und total verloren dreinschaut. Das Bild könnte überall aufgenommen worden sein.

Sie haben Großbritannien, ihre Heimat, gecovert. Worauf haben Sie geachtet beim Fotografieren?

Klasse ist das zentrale trennende Element der britischen Gesellschaft, das uns von allen anderen Ländern unterscheidet. Mit meinen Bildern will ich die Klassenunterschiede verdeutlichen und wie komplex und vielschichtig die Gesellschaft ist.

Mit welchen Mitteln?

Wer durch das Buch blättert, sieht zum Beispiel auf einer Doppelseite links einen 22-Jährigen aus einer Sozialsiedlung. Und die rechte Seite zeigt einen Studenten während eines Balls, dem gerade die Fliege gerichtet wird. In einer anderen Welt könnten sie Brüder sein, sie sehen sich sogar ähnlich. Aber die Klasse trennt sie. Der 22-Jährige ist aber jetzt schon vom Leben gezeichnet, er sieht im Gegensatz zu dem Ballbesucher aus wie 40. Damit will ich die massiven Kontraste innerhalb der britischen Gesellschaft verdeutlichen.

Welche Begegnung, welcher Mensch, ist ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Es gibt so viele. Für mich als halben Schotten war es besonders aufwühlend, in Glasgow Jugendliche zu fotografieren, die vor den geschlossenen Jugendzentren saßen. Da bricht mir das Herz. Jedem wird beim Betrachten der Bilder klar, dass hier dringend etwas passieren muss. Eine Porträtierte habe ich erst letzte Woche in »Big Brother« wiedergesehen. Sie ist dort jetzt Kandidatin, ich glaube aber, dass sie schon wieder rausgewählt worden ist. Das Streben nach Ruhm ist auch etwas, was uns Briten sehr stark ausmacht. Für mich stand die junge Frau beispielhaft für dieses Streben. Ihre Augen hatten aber schon damals etwas Trauriges.

Das Projekt »Sea Change«
»Sea Change« ist ein dokumentarisches Fotoprojekt über junge Europäer, an dem 13 Fotografen aus unterschiedlichen Ländern über mehrere Jahre hinweg gearbeitet haben. Initiator und Photo Director des Projekts ist der britische Fotograf Jocelyn Bain Hogg. Fotografiert wurde in Norwegen, Spanien, Deutschland, Rumänien, Griechenland, Großbritannien, Lettland, Portugal, Irland, der Tschechischen Republik, Island, Polen und Malta. Der Titel »Sea Change« beruft sich auf ein Shakespeare-Zitat. Im Englischen steht der Begriff außerdem für einen tiefgreifenden Wandel – des Wetters, aber auch einer Person. Ein Fotoband stellt das Projekt vor.

Hat »Sea Change« sie zu einem Europaskeptiker gemacht oder zu einem Optimisten?

(Lacht) Die Menschen machen das Beste aus dem, was da ist, und das ist das Einzige, was wir tun können, oder? Ich bin nicht so dumm, zu sagen: »Es wird einfach für Europa«. Wir alle lesen die Nachrichten und hören von den Problemen. Ich habe das komische Gefühl: Bevor sich die Dinge zum Besseren ändern, muss es erst einmal noch schlimmer werden.

Apropos: In ihrer Heimat wird eine Abstimmung darüber stattfinden, ob man überhaupt noch in der EU bleiben will.

Ja, schrecklich. Gott hilf uns.

»Sea Change« soll Fragen und Debatten provozieren, haben Sie gesagt. Wie soll ein Bildband das schaffen?

»Sea Change« endet nicht, sondern steht am Start. Wir haben klein angefangen, mit vier Ländern. Dann ist das Projekt gewachsen auf 13. Alle Länder Europas haben einfach nicht ins Buch gepasst, aber wir wollen noch viel mehr Länder einschließen. Es gibt noch viel zu tun. Wir bieten auch in ganz Europa Workshops an. Seit Veröffentlichung des Buchs haben wir vier Workshops in Norwegen, Deutschland und Großbritannien veranstaltet. Ein fünfter findet bald in Wien statt.

Was passiert auf den Workshops?

Wir schicken die jungen Leute mit einer Kamera los. Die Ergebnisse sind faszinierend. Wir leben im Zeitalter des Selfies und es ist gar nicht so leicht, die Jugend dazu zu bewegen, die Kamera in die andere Richtung zu drehen, ihre Umwelt wahrzunehmen und zu beobachten. In jedem Workshop sind Fotografen des Projekts anwesend und die Teilnehmer bekommen am Ende ihr eigenes »Sea Change«-Buch, nur mit ihren eigenen Bildern. Der Workshop bringt die jungen Leute dazu, sich die Welt, in der sie leben, genauer anzuschauen – und Fotografie ist ein großartiges Mittel, das zu tun.

VG-Wort Pixel