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Wissen »Wir brauchen dringend Bewertungen«

Wissen: »Wir brauchen dringend Bewertungen«
In der aktuellen Titelgeschichte erklären wir unter anderem, warum Sternchen- und Punkte-Bewertungen zwar alles so nett vereinfachen – aber manchmal eben zu sehr vereinfachen. Deswegen: Wenn ihr die Geschichte im Heft gelesen habt, freuen wir uns über eure Bewertungen hier in den Kommentaren. Ohne Punkte, ohne Sternchen, ohne Note – aber dafür mit Argumenten und Begründungen!

Was macht das eigentlich mit uns, wenn wir den ganzen Tag nur noch Sternchen vergeben? Das Bewerten im Netz ist uns zur zweiten Natur geworden: Wir bewerten das Café um die Ecke, den Handwerker, der unsere Heizung repariert, und den Dating-Vorschlag, den unsere Single-Börse uns präsentiert. Leben wir in einer Bewertungsgesellschaft? Das haben wir den Soziologen Grant Blank gefragt. Er forscht am Internet Institute der Universität Oxford und beschäftigt sich schon lange mit Bewertungssystemen.

Herr Blank, für Ihre Studie »Critics, Ratings, and Society: The Sociology Of Reviews« haben sie sich mit klassischen Bewertungssystemen beschäftigt: Theaterkritiken und Restaurantführer. Inzwischen leben wir in einer Welt, in der jeder bewertet – auf Yelp oder anderen Plattformen. Was treibt so viele Leute dazu, alles im Internet bewerten zu wollen?

Laien nutzen bei ihren Bewertungen eigentlich die selben Standards wie die Profis. Zu dem Ergebnis bin ich in meinem Buch gekommen, als ich Profi-Restaurantbewertungen mit denen der User auf dem amerikanischen Portal Zagat verglichen habe – dort kann jeder ein Restaurant bewerten. Die Motivation dafür, im Netz Bewertungen abzugeben, kommt teilweise aus dem Gefühl, dass man mit so einer Kritik Einfluss auf andere hat und sich dadurch einen Statusgewinn verspricht. Außerdem fühlt es sich gut an, als Experte betrachtet zu werden – und große Unternehmen in dieser Form zu kommentieren ist auch eine Art, seine eigene Individualität angesichts so riesiger Organisationen unter Beweis zu stellen.

Internet-Bewertungen werden meist in der Form von Sternchen oder Punkten abgegeben. Diese strenge Formalisierung – limitiert das nicht unsere Möglichkeit, einen Gegenstand kritisch zu erfassen?

Meistens stehen die Sterne ja neben einem narrativen, individuellen Text und jeder der sich für Nuancen interessiert, kann den Text lesen. Sterne-Bewertungssysteme wie “Das ist ein Drei-Sterne-Restaurant” neigen tatsächlich dazu, nur eine oberflächliche Vergleichsmöglichkeit zu bieten. Aber Sterne sind auch sehr wertvoll, denn sie schaffen eine Hierarchie und vereinfachen damit extrem komplexe Entscheidungen: nicht nur, in welches Restaurant man geht, sondern auch auf welches College. Ohne Sterne-Bewertungen wäre es viel schwieriger, überhaupt eine Entscheidung zu treffen.

Inzwischen bewerten wir nicht nur Produkte, sondern auch gleich die dienstleistende Person, den Mensch selbst – wie bei neuen Taxi-Apps, bei denen ich Sternchen für den Fahrer vergebe.

Ja, solche Bewertungen werden von den Fahrern sicher oft als unfair wahrgenommen. Allein, weil komplexe Interaktionen in diesem einfachen Sternchen-System wiedergegeben werden.

Haben Sie den Eindruck, dass wir in einer Bewertungsgesellschaft leben? Weil wir ständig Bewertungen abgeben, online, in Apps?

Diese Bewertungen sind eine Antwort auf ein großes Problem: dass wir uns zwischen so vielen Optionen entscheiden müssen. Durch die Digitalisierung sind diese Wahlmöglichkeiten noch einmal mehr geworden. Gleichzeitig kam aber die Bewertung dazu, Auswahl und Bewertung gehen da Hand in Hand. Weil wir so eine überwältigende Zahl von Möglichkeiten haben, brauchen wir ganz dringend Bewertungen, um den Entscheidungsprozess zu vereinfachen. In diesem Sinne leben wir in einer Bewertungsgesellschaft, ja.

Könnte es eines Tages so etwas passieren wie ein Bewertungs-Burnout»Bewertungs-Burnout«?Dass wir uns so sehr damit beschäftigt haben, ständig unseren Taxifahrer und unser neues Gadgets mit Sternchen zu bewerten, sodass wir irgendwann keine Lust mehr auf Bewertungen haben?

Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Denn die Situationen, in denen wir Entscheidungen fällen müssen, sind genau wie die Auswahlmöglichkeiten viel zu viele. Bewertungen werden deswegen in der Zukunft eher noch wichtiger werden.

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