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Politik »Wir sind wie Tiere, die um ihr Leben kämpfen«


Vincent, Mitarbeiter der NEON France, war am Freitagabend mit seiner Freundin im Bataclan in Paris. Um den Terroristen zu entkommen, versteckt er sich drei Stunden lang in einer Zwischendecke über den Toiletten. Er hat seine Erlebnisse der Nacht in diesem Bericht aufgeschrieben.

Protokoll von Vincent Thobel, Dienstag, 17. November 2015 | Übersetzung des Originaltextes: Claudia Hammermüller

Scheiße …
Normalerweise sehen wir am Freitag den 13. Leute im Lotto verlieren, nicht ihr Leben.

Freitag ging ich ins Bataclan, um meine Lieblingsband zu sehen: die Eagles Of Death Metal. Der Auftakt war Wahnsinn. Meine Freundin und ich, wir ärgerten uns ein bisschen, dass wir zu spät waren. Wir hatten uns entschieden, den ersten Teil sausen zu lassen und im Restaurant in der Rue Jean-Pierre Timbaud essen zu gehen. Das Filet war an diesem Abend ganz besonders gut und der Wein süffig. Wir blieben deswegen länger als geplant.

Als wir in den Saal gehen, höre ich die Band spielen. Es sind so viele Leute da, dass wir nichts sehen, weder die Bühne, noch die Bar. Deshalb gehen wir auf den Rang. Nachdem ich mir die jungen Mädchen und die Rockerpärchen um mich herum angesehen habe, entscheide ich, runterzugehen und ein Bier zu holen. Es ist heiß.

Ein Umweg zu den Toiletten und ich gehe zur Bar. Zwei Minuten vorher grölte der Sänger ins Mikro »Can I have an Amen«, Gospelstyle. Er schmettert die Parolen aus »Save a prayer«, gefolgt von »Kiss the Devil«. Als ich an der Bar ankomme, sammelt sich vor mir eine Menschenmenge. Zuerst denke ich an eine Schlägerei unter den Gästen, wie gewöhnlich. Doch dann steigt der Barkeeper aus der Bar und Schüsse fallen.

Ich realisiere nicht viel. Bis die ersten Leute um mich herum wie Fliegen fallen. Scheiße, das sind Kugeln.

Das Licht geht an. Die Musik hört auf. Die ersten Schreie. Ich renne zu den Stufen, ich steige hoch, um meine Freundin zu suchen. Wir kauern mit anderen Leuten hinter den schweren roten Sesseln. Neben uns ein Kind und seine Mutter. Mit mir ist der Geruch von Schießpulver nach oben gezogen. Seit zwei Minuten hallt der Lärm der Kugeln zwischen den Mauern. Wir organisieren uns schnell. Wir wissen, dass die Typen hoch kommen werden. Hintereinander rücken wir in Richtung einer Tür rechts neben uns vor. Dabei schieben wir die gefütterten Sessel vor uns her. Wir kommen voran, unter Kommando. Wir erreichen die Tür und sehen uns vor zwei Wegen: rechts oder links?

Das Leben hängt wirklich daran? Rechts oder links?

Wir gehen nach links und stoßen auf andere Leute, die sich verstecken und versuchen, den Eingang mit einem Sofa zu blockieren. Wir sind ungefähr 50 in diesem kleinen Raum. Im hinteren Teil: eine Tür. Als wir sie öffnen wird uns klar, dass es nur Toilettenräume sind. Wir sind eingesperrt.

Scheiße, das ist irre: rechts oder links.

Am Ende ist es nicht wirklich Angst, wir sind wie Tiere, die um ihr Leben kämpfen. Plötzlich enorm scharfsinnig. Wir müssen eine Lösung finden. Wir brechen den Zwischenboden der Toiletten auf. Einer nach dem anderen zwängen wir uns in das winzige Rattenloch, Kind und Mutter zuerst. Scheiße, der arme Kleine.

Wir hören die Typen hochkommen, die Granaten im Saal unten. Menschen, die um Hilfe schreien. Wir verbarrikadieren die Tür weiterhin mit der Couch, während die Leute in die Zwischendecke klettern.

Einmal oben, durch das kleine Loch gezwängt, befinde ich mich in einem absolut winzigen Raum. Ist es wirklich eine gute Idee, in diesem Ding zu sein?

Ich gehe voraus. Zwischen den Metallbalken wird der Blick frei. Wir sind zwischen Dach und Konzertsaal. Der Staub und die Glaswolle kratzen uns fies in der Nase und den Lungen, aber wir müssen einen Ausgang finden. Während wir die Überdachung durchkämmen, wird uns klar, dass es ihn nicht gibt. Dass wir auf diesem Dachboden eingesperrt sind, während wir darauf warten, dass man uns findet. Wir hören die Männer hochkommen. Wir wissen nicht wie viele, aber sie sind da.

Es fallen weitere Schüsse, Holzsplitter treffen mich. Sie feuern auf die Zwischendecke.

Dort sind wir, zusammen mit meiner Freundin ein Dutzend, im Dunkeln versteckt hören wir jedes Geräusch, jeden Schall einer Stimme und jede Detonation, die ihren Weg verfolgt. Wir haben keine Angst, aber wir wissen, dass sie kommen, wir sind wie Tiere in einer Falle. Wir sind Beute.

Außer den Leuten direkt neben uns, mit denen wir uns austauschen, wissen wir nicht wirklich, wer bei uns ist. Die ganze Zeit über erhalten wir Nachrichten über WhatsApp, während unser sinkender Akkustand es verbietet, jeden Anruf unserer Nächsten anzunehmen. Manchmal leuchten in der Dunkelheit Gesichter im blauen Licht der Telefone auf. Es bestärkt uns, wir sind nicht allein. Wir schwören uns eine Sache: Wir bewegen uns nicht viel, um nicht auf uns aufmerksam zu machen, zumindest solange wir uns nicht sicher sein können, dass die Polizei da ist.

Während wir warten, beten wir alle, dass es so schnell wie möglich passiert. Für uns ist es nur eine Frage der Zeit. In der Stille auf diesem Dachboden hallen plötzlich Stimmen. Die Terroristen sind in dem Raum mit dem Sofa, genau unter uns. Zumindest haben wir den Eindruck. Sie versuchen zu verhandeln, sie wollen eine Million Euro.

Schreie, Schüsse. Ein Mädchen schreit um ihr Leben, sie bittet um Gnade. Sie weint, sie weint so krass. »Gnade.«

Wir befinden uns in unserem Versteck und warten. Alles wird schwarz, unsere Telefone schalten sich aus. Wir wollen nicht aufgeben, wir wollen kämpfen. »Was können wir tun um uns zu verteidigen?« Wir sind umgeben von Kabeln, die Typen sind am Ende des Lüftungsschachts und die Zwischendecke scheint unter unserem Gewicht nachzugeben. Es gibt nichts, das wir tun können, außer zu warten.

Auf der Straße ertönen Sirenen. Die Polizei ist da. Aber wo? Wir hören von einer Geiselnahme. Explosionen im Stade de France. Man sagt uns, dass das Bataclan evakuiert wird. Aber wir sind immer noch drinnen. Ich sage »wir«, weil wir alle zusammen sind, bereit für alles. Eine Gruppenarbeit, mit Männern und Frauen.

Und wenn wir springen müssen? Die Frage, die wir uns immer wieder stellen: Was ist mit den Bomben? Wir hören Schritte auf dem Dach. Polizisten? Terroristen? Der Lärm über uns, und unter uns. Und die Leute nebenan, die sich bewegen, husten, auf den Boden pinkeln… Bei der kleinsten Bewegung fragen wir uns, ob wir uns verraten. Das Warten nimmt kein Ende. Das ist das Schlimmste, das Warten. Die Verzweiflung der Geiseln zu hören und nicht zu wissen, wo die Kugeln landen.

Wir hören die Polizei, und dann: eine Explosion. Die Wände wackeln, der Krach ist dumpf. Es folgt ein Kugelhagel und noch eine neue Explosion. Dann eine dritte. Rauchbomben? Nein.

Die Typen über uns sind gesprungen. Und die Geiseln?

Noch mehr Lärm und überall Walkie-Talkies. Leute, die schreien. Aber ist das wirklich die Polizei? Wir sind uns über nichts sicher. Das sind vielleicht Selbstmordattentäter, die einen allerletzten Versuch starten, ein letztes Blutbad anzurichten.

Es sind jetzt fast drei Stunden. Menschen in Panik denken, sie hätten Kugeln abbekommen. Andere haben es wirklich. Wir sind am Ende dieses Lochs, um darauf zu warten, dass eine weitere Bombe unter uns hochgeht oder die Kugeln unsere Haut durchlöchern, nachdem sie durch die Zwischendecke gegangen sind. Zum Glück hat sie eine Isolierschicht. Zum Glück.

Zum Glück haben meine Freundin und ich im Restaurant gegessen, zum Glück sind wir zu spät gekommen, zum Glück ging ich vor der Bar auf die Toilette und zum Glück entschieden wir uns für links. Der Zufall war da, überall, wo wir waren. Aber wir sind scharfsinnig geblieben, wir behielten die Beherrschung. Wir durften hier nicht sterben.

Endlich kommt die Polizei. Über Metallstreben hinweg, gehen wir ins Innere des Bataclan. Wir zeigen unsere Oberkörper und Rücken um zu bezeugen, dass wir Geiseln sind. Das Wort, das wir zehn Minuten lang schreien, als wir die Sondereinheit BRI sehen. Wir müssen nochmal durch den Saal. Über den Balkon, die Stufen, die Bar um endlich zum Ausgang zu gelangen.

Ich sehe den Barkeeper wieder. Er liegt dort, am Boden. Leblos.

Draußen bedeckt Blut den Müll und Asphalt. Wir sind draußen.

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