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Freizeit »Ausrasten als Neuling kommt nicht so gut – außer die Performance stimmt«

Freizeit: © Tim Bruening
© Tim Bruening
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Der Schauspieler Philipp Hochmair rastet gerne aus. Nicht, weil er cholerisch ist oder eine selbsternannte Drama Queen. Aber viele der Charaktere, die er spielt – wie etwa in seinen Soloprojekten »Werther!« oder »Jedermann« – verlieren sich im Wahn oder flippen aus. Hochmair war Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater und am Thalia Theater in Hamburg.In der Serie »Vorstadtweiber« spielt er den intriganten Politiker Joachim Schnitzler. In zweieinhalb Stunden wird sich Philipp Hochmair auf der Bühne als Goethes Werther in seine Liebe zu Lotte reinsteigern, er wird schreien, Salat ins Publikum schmeißen, sich winden und, am Ende, umbringen. Davor sitzt er entspannt in Clogs und mit verwuschelten Haaren in der Kantine des Theaters in Lausanne und erklärt, warum Ausflippen auf der Bühne die Seele reinigt und Eklats am Theater früher normal waren.

Wann hat das letzte Mal jemand wegen Ihnen auf der Theatertoilette geweint?

Wegen mir? Ich selbst habe einmal auf der Theatertoilette geweint, als ich bei einer Probe von »Die Brüder Karamasow« plötzlich ausgerastet bin, fünf Tage vor der Premiere. Das passiert aber nicht einfach so, da muss man mich schon sehr reizen.

Was ist damals passiert?

Der Regisseur des Stückes, Nicolas Stemann, hat die Angewohnheit, Stücke zu dekonstruieren und danach neu zusammenzubauen. Fünf Tage vor der Premiere stand noch nichts fest, die Nerven lagen blank und plötzlich ist ein Bühnenteil auf die Bühne gestürzt. Nur durch ein Wunder wurde keiner verletzt. Dann hat mich noch ein Kollege aus dem Nichts heraus beleidigt. Da sind mir die Sicherungen durchgebrannt. Ich hab zu brüllen begonnen und sieben Stunden durchgeheult.

Aber wegen Ihnen hat keiner geweint?

Die Ankleider haben sich nicht zu mir gewagt. Ich war angeblich türkis vor Zorn. Vielleicht war deren Schreck so groß, weil ich eigentlich nie so bin.

Warum wird am Theater dem Klischee nach so oft ausgerastet?

Die Arbeit ist sehr körperlich, sehr emotional, fast wahnhaft. Wie im Bergwerk geht man morgens in der Früh hin und spät zurück. Das Premierenfieber pumpt. Das ist kein normaler Beruf, es geht immer um deinen Körper und dein Gesicht. Deine Identität ist immer Thema, man muss sich immer wieder aufs Neue finden und erfinden.

Viele Schauspieler gelten oft als egozentrisch und schwierig. Warum?

Man muss sich im Theater ständig verteidigen. Gegen die Ordnung, gegen den Regisseur, gegen die Kollegen. Da ist viel Druck auf dem System. Es gibt zum einen das Chaos und Feuer beim Schaffensprozess und dann zum anderen die Hausordnung des Theaters. Man ist da so etwas wie ein Leibeigener. Dass immer alle täglich um 20 Uhr auf der Bühne stehen, ist schon ein kleines Wunder.

Was muss passieren, damit Sie sauer werden?

Wenn ich das Gefühl habe, ungerecht behandelt zu werden. Oder wenn ich Angst habe, meine kreative Freiheit zu verlieren. Diese negative Energie versuche ich in Dynamik, in einen positiven Wahn umzuwandeln. Diesen Wahn brauche ich, um spielen zu können, um morgens aufzustehen. Dafür muss ich bestimmte Knöpfe drücken.

Welche denn?

Ich nenne es Konzentration, aber das ist wahrscheinlich nur ein Überbegriff für diese Suche nach dieser Manie, die mich schiebt. Als Kind habe ich mich – wenn ich ein Thema hatte – auch fast wahnhaft damit beschäftigt. Diese Schubkraft formt für mich den Bühnencharakter.

Viele der Charaktere, die Sie spielen, verlieren sich im Wahn oder rasten aus. Wie kommen Sie diesen Rollen nah?

Für mich gibt es keine Rolle, es gibt nur mich selbst im Kontext zum Text. Ich will am Probenanfang von dem neuen Stück erst mal gar nichts wissen. So habe ich das zum Beispiel bei dem Stück »Werther!« mit dem Regisseur Nicolas Stemann gemacht. Am Anfang liest der Schauspieler auf der Bühne zur Orientierung im Werther-Reclamheft, tastet sich mit dem Zuschauer an das Thema heran, bis ein gemeinsames Terrain entsteht. Dann kann die Rakete starten.

Sie haben am Burgtheater in Wien gearbeitet, in Zürich, Hannover, die vergangenen sechs Jahre waren Sie Ensemble-Mitglied am Thalia Theater in Hamburg. Fördern bestimmte Häuser das Ausrasten?

Das hat weniger mit dem Haus oder dem Ensemble zu tun als mit einem Lebensgefühl. Früher waren Eklats normaler: Da wurde mehr gesoffen, da sind auch mal Aschenbecher durch die Luft geflogen. Heute gelten Ausraster als Fehler.

Wie war das an der Schauspielschule?

Ich bin ja Brandauer-Schüler. Da wurde im Unterricht getrunken und viel geraucht, das war ganz normal. Und als wir dann unsere ersten eigenen Stücke gemacht haben, haben wir als Erstes eine Kiste Bier und Zigaretten gekauft, um loslegen zu können. Aber das war einfach nicht unser Modus – die Zigaretten haben wir stehen gelassen und das erste Bier nur halb ausgetrunken. Wir sind eher eine Yogageneration, die mit Thermoskanne auf die Probe und joggen geht.

Das klingt langweilig.

Unsere Väter haben sich mit Drugs & Rock´n´ Roll von der Kriegsgeneration abgegrenzt. Wir haben uns mit Yoga und Tee von unseren Vätern gelöst. Wahrscheinlich habe ich mich deswegen geschämt, wenn ich mal ausgerastet bin.

Warum?

Ich glaube, weil ich es verachtet habe, wenn in unserer Familie so unsachlich über Probleme gesprochen wurde. Wenn man ausrastet, wird es schnell unsachlich. Eigentlich will man das Problem – wie bei der Faust-Probe – sachlich lösen.

Viele scheinen sich nach unverfälschten Reaktionen geradezu zu sehnen. Als der Außenminister Frank-Walter Steinmeier vergangenes Jahr bei einer Wahlkampfveranstaltung als Kriegstreiber beschimpft wurde, schrie er zurück – und wurde dafür gefeiert.

Stimmt. Man will die Emotionalität. John, Gewinner der ersten Big-Brother-Staffel im Jahre 2000 hat wahrscheinlich nur gewonnen, weil er geweint hat. Er war der stillste, der unscheinbarste. Belohnt wurde er nur für diesen einen emotionalen Ausbruch.

Woran liegt das?

Unsere Gesellschaft wird immer mehr einem Kontrollwahn unterworfen. Im Theater etwa wird intern nicht über emotionale Leistung gesprochen, sondern über Verkaufszahlen.

Aber die »Diesmal schlag ich dir in die Fresse«-Videos des Schauspielers Klaus Kinski während des »Fitzcarraldo«-Filmdrehs werden auch 33 Jahre später bei Youtube angeklickt.

Der Kinski hat einen Indio fast umgebracht, als er mit seinem Schwert auf dessen Helm geschlagen hat. Ich finde die Fernseh-Interviews, in denen er ausrastet, viel interessanter. Mir gefällt sein Mut, Probleme zu machen und nicht wie andere Schauspieler bei Journalisten brav ihre Statements aufzusagen.

Gilt der Satz: Wer am lautesten röhrt, wird am besten gehört?

Am Theater gilt schon: »Dezenz ist Schwäche. Mehr ist immer mehr!«

Kann ein Ausraster denn positiv sein?

Klar! Vier Jahre nach Brüder Kramasow, wieder mit Nicolas Stemann, haben wir für die Salzburger Festspiele eine neunstündige Faust 1&2-Inszenierung geprobt. Wieder gab es Chaos kurz vor der Premiere. So eine abgekämpfte Mannschaft ist wie ein Pulverfass. Da genügt ein Funken und es explodiert. Auf der Suche nach Mephisto war ich dafür besonders bereit, »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Ich habe aus Verzweiflung einen Tisch umgetreten, mit Kaffee und Handys drauf. Aber – ich war wie ein Blitzableiter für das ganze Ensemble. Mein Ausbruch hat dazu geführt, dass sich das Verhältnis zwischen Faust und Mephisto zum ersten Mal real angefühlt hat. Damit ist erst das Stück so richtig in Fahrt gekommen.

In dem Moment haben Sie ja wahrscheinlich eher geflucht als gedacht: »Toll, dass ich die Rolle gefunden habe«.

Gar nichts habe ich gedacht, ich war völlig aus dem Leben.

Regisseure sollen ihre Schauspieler oft so lange nerven, bis diese die richtigen Emotionen zeigen.

Bei dem Film »Der Glanz des Tages« haben mich die beiden Regisseure ins offene Messer laufen lassen. Die einzige Anweisung war: Sei du selbst. Ich wusste gar nicht, was das bedeuten soll. Das kann man einem Laien sagen, der ja nur sich selbst zur Verfügung hat. Aber einem Schauspieler zu sagen: »Spiele Dich selbst« ist fast eine Provokation.

Hatten die beiden Regisseure denn ein Bild, wie Sie privat sind?

Ich glaube nicht. Vielleicht dachten sie, Schauspieler sind generell verrückt.

Was haben Sie über sich herausgefunden, als Sie den Film gesehen haben?

Ich war schon erstaunt, wie mein Leben von außen ausschauen kann; auf was ich alles verzichte, um diese Leistung im Beruf bringen zu können. Wenn man meine kleine Sankt-Pauli Butze sieht, wie ich von einer Probe zur nächsten hetze, immer atemlos, wie ein gequältes Tier.

Haben Sie daraufhin Ihr Leben hinterfragt oder etwas bereut?

Ich habe mir vorgenommen besser auf mich acht zu geben, aber ich bereue nichts. Wobei auch klar ist: Um in diesem Beruf zu bestehen, muss man sich voll und ganz hingeben. Das hat seinen Preis.

Welche Momente im privaten Leben machen Sie wütend?

Sehr viel macht mich dauernd wütend. Ich versuche, das nur im Spiel rauszulassen und mich im Leben nicht provozieren zu lassen, mir diese Energie aufzusparen. Etwa, wenn ich den Taxifahrer auf dem Weg zum Theater bitte, das Radio auszuschalten, weil mich das in meiner Konzentration stört. Manche Fahrer ignorieren das, weil sie es als Provokation meinerseits sehen. Ich kann mir nicht leisten, mich darüber aufzuregen, wenn ich in zehn Minuten einen Auftritt habe. Da halte ich mir lieber die Ohren zu.

Wie oft am Tag schalten Sie diesen Ignoriermodus an?

Leider sehr oft. Generell ist schon viel Schwarzpulver in meiner Seele. Das darf am Abend auf der Bühne gezündet werden.

Wo kommt das her?

Ich glaube aus der Kindheit. Das Verhältnis zu den Eltern, mein Unwohlsein im Rudel.

Ihr Vater ist Ingenieur, Ihre Mutter Ärztin. Gab es noch andere Kreative in Ihrer Familie?

Da ist niemand, der nur ansatzweise etwas in die Richtung gemacht hat. Mein Andersdenken zu spüren, die Antennen fürs Absurde, die ich aber unterdrücken musste. Diesen Mangel zu spüren, schafft Wut und Gestaltungswillen.

Was war Ihr Ventil, um diese Explosivität rauszulassen?

Erst habe ich gemalt. Dieses weiße Quadrat war meine Welt, da konnte ich die Regeln selbst bestimmen. Außerhalb dieses weißen Papiers musste man sich an Verkehrsregeln halten.

Waren Sie ein wütendes Kind?

Ja, aber ich durfte es nicht rauslassen. Weil der Vater, das Alphatier, lauter war und kräftiger. Die Launen dieses Alphatiers waren wichtiger. Darum gibt es für mich die Kunst, wo es Jahrzehnte lang weiter explodieren darf.

Muss man sich Ausraster leisten können?

Ja und Nein. Aber wenn einen die Verzweiflung treibt, kann man es sowieso nicht verhindern. Und wenn es dann sogar einen kreativen Wert hat – umso besser.

Und wie kommt es an, wenn man als Neuling ausrastet?

Das kommt nicht so gut – außer die Performance stimmt. Eine japanische Kollegin von mir hatte mal ein Vorsprechen bei dem Regisseur Christoph Schlingensief. Er sagte da zu ihr: Zerstören sie mein Büro. Das hat sie gemacht. Dann hat er sie engagiert.

Philipp Hochmair, 42, wuchs in Wien auf. Er studierte Schauspiel in Wien und Paris, unter anderem bei dem Schauspieler und Regisseur Klaus Maria Brandauer. Hochmair war Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater und am Thalia Theater in Hamburg. Im Fernsehen ist er unter anderem in Filmen wie »Männertreu« oder in Serien wie »Polizeiruf« und »Blochin« zu sehen. In der Serie »Vorstadtweiber« spielt er den Politiker Joachim Schnitzler. Die zweite Staffel läuft ab März im ORF. Der Film »Kater« kommt 2016 in die Kinos.

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