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Wissen Die Smartgun, die Leben rettet

Millionen von Waffen: Statistisch gesehen besitzt fast jeder US-Bürger eine Pistole oder ein Gewehr
Millionen von Waffen: Statistisch gesehen besitzt fast jeder US-Bürger eine Pistole oder ein Gewehr
Wie Forscher versuchen, eine Pistole zu erfinden, die Leben rettet – Die Smartgun

Text: Juliane Schiemenz | Fotos: Scott Houston, Polaris, laif

Rabbi Joel Mosbacher, 45 Jahre, aus Mahwah, New Jersey, ein sanfter Mann mit braunen Augen und feingliedrigen Händen, mit denen er in der Synagoge für die Kinder Gitarre spielt. Rabbi Joel Mosbacher, der geschworen hatte, nie eine Waffe in die Hand zu nehmen, nachdem sein Vater 1999 in Chicago erschossen wurde, drückt den Abzug der Shotgun und feuert auf die Frau im Supermarkt.

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Die Frau klebt natürlich nur als lebensgroßes Foto auf einer Pappwand in der Schießübungsanlage des Polizeipräsidiums von New Rochelle, einer amerikanischen Durchschnittsstadt mit knapp 80.000 Einwohnern, dreißig Kilometer entfernt von New York City. Die Fotofrau hat eine Pistole gezückt und zielt auf den Betrachter. Eine völlig alltägliche Situation so suggeriert es das Plakat: Jederzeit kann in jedem Supermarkt dieser Welt eine absolut harmlos aussehende Frau eine Knarre aus der Tasche ziehen und auf dich schießen! Du hast also besser deine Shotgun dabei!

iGun, die intelligente Waffe

Neben Joel steht Jonathan Mossberg, der Entwickler der iGun. Hinter den beiden haben sich zehn Männer und Frauen versammelt. Mossberg bedeutet ihnen, die Ohrenschützer abzunehmen, und beginnt zu sprechen: »Und hier drin« er hält einen Silberring mit Edelstein in die Luft »befindet sich der Chip, der mit der Waffe korrespondiert. Die Waffe funktioniert also nur in der Hand des Menschen, der den Ring trägt! Eine intelligente Waffe.«

Ausgerechnet Joel Mosbacher, der Rabbi und Waffengegner, hat die Waffenmesse in New Rochelle organisiert, auf der fünf Entwickler ihre Smartgun-Prototypen präsentieren. Etwa hundert Besucher sind gekommen. Joel will die Entwickler mit Politikern, Polizisten und potenziellen Investoren ins Gespräch bringen. »Gun Safety Expo« steht über dem Eingang, damit niemand auf die Idee kommt, hier gehe es ums Geld oder darum, die Amerikaner weiter zu bewaffnen. Joel will Tausende Leben retten. Jedes Jahr.

Entwicklungen für mehr Sicherheit 

Smartguns sind nicht intelligent, weil sie eine höhere Zielgenauigkeit garantieren, sondern weil sie es erschweren sollen, dass jeder sie einfach so einsetzen kann. Sie funktionieren nur in der Hand ihres Besitzers, weil dieser ein Armband oder eine Uhr mit einem Chip trägt, der von der Waffe erkannt wird. Die Smartgun ist also weniger schlau als treu. Auch an der Identifizierung des Waffenbesitzers mittels Fingerabdrücken wird gearbeitet. Eine Idee, die viele Menschen aus dem James-Bond-Film »Skyfall« kennen.

Hektisch arbeiten Ingenieure und Programmierer weltweit an der ersten intelligenten Waffe, die den Namen verdient: einer Smartgun, die technisch ausgereift ist, die funktioniert und nicht gehackt werden kann. Eine solche Waffe würde den illegalen Waffenhandel unterbinden; denn mit der Smartgun könnte nur der registrierte Käufer schießen. Die Anhänger der Technik glauben aber auch, dass durch Smartguns verheerende Amokläufe, die in den USA fast an der Tagesordnung sind, verhindert werden könnten, weil frustrierte Jugendliche nicht einfach den Waffenschrank der Eltern plündern und ein Massaker an ihrer Schule anrichten könnten. Auch würden sich wohl weniger Kinder mit den Waffen ihrer Eltern verletzen oder töten. Rund zwei Millionen amerikanische Kinder leben in Haushalten, in denen es ungesicherte Waffen gibt. Mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche werden jedes Jahr durch Schusswaffen verletzt oder getötet. Auf 100.000 US-Einwohner kommen pro Jahr zehn Schusswaffenopfer (in Deutschland sind es neunzig Prozent weniger). Etwa sechzig Prozent der Todesfälle durch Schusswaffen in den USA sind Selbstmorde. Und da diese oft impulsiv geschehen, weil gerade eine Waffe »zur Hand« ist, könnten Smartguns ein entscheidender Faktor sein.

Wissen: Rund zwei Millionen amerikanische Kinder leben in Haushalten, in denen es ungesicherte Waffen gibt können Smartguns die Zahl der Unfälle senken?
Rund zwei Millionen amerikanische Kinder leben in Haushalten, in denen es ungesicherte Waffen gibt können Smartguns die Zahl der Unfälle senken?

Waffenreform bleibt Wunschdenken

Joel ist Mitglied in der Industrial Areas Foundation, kurz: IAF, dem Dachverband der Bürgerorganisationen. Er würde nichts lieber sehen als eine Welt ohne Waffen. Denn vor sechzehn Jahren wurde sein Vater Lester Mosbacher in Chicago brutal ermordet, der Täter schoss mit einer Waffe, die nicht ihm gehörte. Weil Joel aber weiß, dass eine tief greifende Reform der laxen Waffengesetze Wunschdenken bleibt, solange Politiker wie der republikanische Präsidentschaftskandidat Ted Cruz sich in Werbespots zeigen, wie sie Speck auf dem erhitzten Lauf eines Gewehrs braten, setzt er auf pragmatische Lösungen wie die Smartgun. Aber kann Technologie ein Problem lösen, bei dem sich der Gesetzgeber für nicht zuständig erklärt?

Joel händigt Jonathan Mossberg die leer geschossene Shotgun aus. iGun, das klingt wie iPhone oder iPad und lässt sich gut vermarkten. Am Schießstand stehen ein paar Polizisten des Reviers von New Rochelle und haben Fragen an Jonathan Mossberg: »Weiß nicht jeder, der den Ring an meiner Hand sieht, dass ich eine Waffe trage? Wie ist die Reichweite? Wenn jemand mir die Waffe entreißt kann der trotzdem damit schießen? Was ist bei Hitze und Nässe?« Mossberg ist es gewohnt, dass die Sicherheit seiner Technologie angezweifelt wird, und hat auf jede Frage eine plausible Antwort. Das hier ist seine Chance, bei potenziellen Abnehmern Werbung zu machen.

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Verschiedene Smartgun-Modelle

Die Smartgun-Entwickler sind ein bunter Haufen. Da ist Robert McNamara, stämmige Figur, kurze dunkle Haare, spitze, schwarze Lederschuhe, Jeans und ein himmelblaues Karohemd, Typ: Weltenbummler, Selfmademan. McNamara legt hier nur einen kurzen Zwischenstopp ein, bevor er nach Dubai jettet. Er hat eine Technologie namens Triggersmart entwickelt: Ein Chip-Lesegerät wird im Schaft einer Waffe installiert und kann dann ohne Berührung einen zugehörigen RFID-Chip identifizieren, der beispielsweise an einem Armband getragen wird. Sonst ist der Abzug blockiert.

Neben McNamara steht Donald Sebastian, Professor am New Jersey Institute of Technology, seriöser Typ im Nadelstreifenanzug. Sebastian hat eine Waffe mit Dynamic Grip Recognition entwickelt: Sie hat 32 Drucksensoren, die erkennen, welche Hand sie hält. »Jeder feuert eine Waffe auf seine eigene Art ab«, sagt er. »Der individuelle Handabdruck ermöglicht es, dass die Waffe nur bei der autorisierten Person funktioniert.«

»Amerikaner kaufen keine Waffen, um sie wegzuschließen«

Ein paar Meter weiter schiebt Will Murphy gerade einen Sicherheitsverschluss über den Abzug eines Gewehrs und sagt zu einem Polizisten: »Sehen Sie: Und schon ist Ihr Kind sicher.« Murphy und sein Kompagnon Robert Harvey haben die Firma Gun Guardian gegründet. Ihr Messestand ist von Polizisten umringt, was auch daran liegt, dass Murphy und Harvey ehemalige Polizisten sind. Die beiden tragen schwarze Shirts mit »Gun Guardian«-Schriftzug, sandfarbene Cargohosen und Stiefel. Sie könnten als Polizisten durchgehen. Der Gun Guardian ist eine Art Aufsatz, der über den Abzug einer Waffe gebaut wird. Nur wer den richtigen Code eingibt, kann ihn zur Seite schieben und die Waffe benutzen.

»Aber könnte man sein Kind nicht auch schützen, indem man die Waffe in einen Safe packt?«, fragt ein Zuschauer flüsternd. Die Antwort: »Amerikaner kaufen keine Waffen, um sie wegzuschließen. Man will sie rausholen und mit sich herumtragen.«

Ein Schieberegler mit einem PIN-Code. Okay. Aber das ist keine futuristische James-Bond-Technologie. Für diesen Part ist Kai Kloepfer hier, ein schlaksiger 18-Jähriger, der als Wunderkind der Branche gilt. Kloepfer hat eine Handfeuerwaffe entwickelt, die mit Fingerabdruck entsichert wird. Damit hat er einen Silicon-Valley-Forschungswettbewerb gewonnen und 50 000 Dollar kassiert. Er trägt ein graues Sakko, das braune Haar zurückgegelt, sagt: »Ich stamme aus Boulder, Colorado, was nur knapp eine Stunde Fahrt entfernt ist von Aurora, wo es 2012 den Amoklauf in einem Kino gab. Das brachte mich dazu, über sichere Waffen nachzudenken.«

Forschung aus Deutschland

Viele Aktivisten der Szene sind schon einmal in Kontakt mit dem Waffenwahnsinn gekommen und wollen deshalb etwas dagegen tun. Aber auch im vergleichsweise sicheren Deutschland wird geforscht. Als eines der interessantesten Unternehmen gilt Armatix aus Unterföhring bei München. Die Firma hat die iP1 entwickelt, eine Kaliber-.22-Handfeuerwaffe, die mit einem Armband korrespondiert. »The highest-tech gun«, lobte die Startup- Bibel »Wired«. Armatix ist trotz Einladung nicht in New Rochelle dabei.

Wer als Erster mit einer funktionierenden Smartgun auf dem Markt ist und sich für eine Weile das Monopol sichert, der kann verdammt viel Geld verdienen.

Widerstand in den USA

Zugleich gibt es in den USA aber auch großen Widerstand gegen die Technologie. Waffenladenbesitzer, die ankündigen, Smartguns verkaufen zu wollen, erhalten per Telefon und E-Mail Morddrohungen. Wer hinter diesen Aktionen steckt, lässt sich schwer ermitteln. Waffennarren, Mitglieder der National Rifle Association (NRA), der einflussreichen Waffenlobby der USA, oder Verschwörungstheoretiker, die fürchten, dass die Regierung eines Tages, wenn nur noch Smartguns im Umlauf sind, auf einen Knopf drückt und alle Waffen per Fernbedienung abschaltet und die Bevölkerung wehrlos macht.

Viele Waffenfreaks haben Angst, dass jemand das Second Amendment ändert, den zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung, der es der Regierung ihrer Auslegung nach verbietet, das Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen einzuschränken. Bislang machen Amerikaner von diesem Grundrecht rege Gebrauch. Auf fast jeden US-Bürger kommt statistisch eine Waffe.

Verhindern Smartguns Amokläufe?

»Smartguns retten Leben. Wo bleiben sie?«, fragte kürzlich die »New York Times«. Bislang haben die sogenannten Mass Shootings, die Amerika und den Rest der Welt in regelmäßigen Abständen schockieren, die Entwicklung rund um das Thema Smartguns jedoch nicht beschleunigt. Auch nach dem Massaker von San Bernardino debattierte Amerika wieder über Waffengewalt. Aber viele Amokläufe werden mit legal erworbenen Waffen begangen, auch in Europa. Der Norweger Anders Breivik, der 2011 in Utøya 69 Menschen erschoss, benutzte Waffen, die er sich legal beschafft hatte. Beim Schulmassaker in Erfurt 2002 schoss der Täter ebenfalls mit Waffen, die er selbst gekauft hatte. Diese Morde hätten Smartguns nicht verhindern können.

Aber es gibt auch andere Beispiele: Die Attentäter in der Columbine High School 1999 griffen zu Waffen, die von Freunden der Mörder gekauft worden waren. In Winnenden entwendete der Täter die Waffen seinem Vater. In manchen Fällen hätten personalisierte Waffen, die etwa mit einem Fingerabdrucksensor ausgestattet sind, die Horrortaten womöglich verhindert.

Waffen sind leichter zu ändern als Menschen

Die Opfer von Amokläufern, so einschneidend diese Ereignisse auch sein mögen, stellen nur einen geringen Anteil an den Schusswaffentoten insgesamt. Die Smartgun-Technologie allein wird keine Lösung sein für Probleme, die durch härtere Waffengesetze und strenge Background-Checks beim Waffenkauf bekämpft werden müssten. Erst wenn sich etwas im Denken und Verhalten der Amerikaner verändert, wird ihr Land wirklich sicherer werden. Joel und seine Mitstreiter sind jedoch der Auffassung, dass man Waffen leichter ändern kann als Menschen. Bis es härtere Waffengesetze gibt, könnten Smartguns eine Übergangslösung sein, ein erster Schritt.

In New Jersey wird bereits versucht, den Verkauf von Smartguns gesetzlich festzulegen. Das sogenannte Childproof Handgun Law legt Folgendes fest: Ab dem Zeitpunkt, da irgendwo in den Vereinigten Staaten die erste funktionstüchtige Smartgun frei im Handel erhältlich ist, tickt die Uhr, drei Jahre später darf jeder Waffenladen in New Jersey nur noch Smartgun-Modelle im Angebot haben.

Wie leicht ist eine Waffe zu bekommen?

Joel Mosbacher sitzt ein paar Tage nach der Messe in seinem Büro in der Synagoge in New Jersey an seinem Schreibtisch, vor sich ein A4-Blatt: »Antrag auf Ausstellung eines Waffenscheins«. Draußen vor dem Fenster spielt sein Heimatort Mahwah amerikanische Bilderbuchkleinstadt: grüne Vorgärten, helle Holzhäuser, freundliche Nachbarn. Auf Joels Schreibtisch steht eine kleine Moses-Actionfigur aus Plastik, an der Wand hängt ein Wanderstock aus Israel, den er bei Theateraufführungen in der Synagoge benutzt, wenn er als Moses mal wieder das Rote Meer teilt. Gegenüber von Joels Schreibtisch, sodass er immer darauf schaut, hängt ein Foto, das seinen Vater Lester zeigt, der seinen damals einjährigen Enkel auf den Schultern trägt.

»Ich will wissen, wie leicht es ist, in New Jersey an eine Waffe zu kommen«, sagt Joel, während er den Antrag ausfüllt. Waffenbesitzer, mit denen er spricht, behaupten immer wieder, es sei so schwierig, einen Waffenschein zu bekommen. Stimmt das?

Joel probiert die Dinge lieber selbst aus, statt nur darüber zu theoretisieren; und er ist davon überzeugt, dass die Menschen sich an Smartguns gewöhnen würden: »Die Leute haben sich damals auch gegen die Einführung von Sicherheitsgurten im Auto gewehrt«, sagt er. In einer idealen Welt würden einfach alle vorsichtig fahren. Aber Joel Mosbacher lebt nicht in einer idealen Welt. Nach den Sicherheitsgurten kamen dann ABS-Technik und Spurassistenten und andere Technologien, die Leben retten. Gibt es die Möglichkeit, dass auch Smartguns den Menschen vor sich selbst schützen? Dass sie immer schlauer werden? Intelligente Waffen, die diesen Namen verdienen, erkennen nicht nur ihren Besitzer, sondern scannen vielleicht auch, welche Lebewesen und Objekte im Schussfeld liegen und verweigern den Feuerbefehl. Mit einer Waffe, die nur für die Fuchsjagd zugelassen ist, könnte man keine Menschen im Einkaufszentrum erschießen. Aber das ist Zukunftsmusik.

»Waffen wird es weiterhin geben«

Joel ist ein Realist. »Ich kann die Waffen nicht abschaffen. Ich kann einfach nur tun, was möglich ist, in einer Welt, in der es auch weiterhin Waffen geben wird«, sagt der Rabbi. »Diese Smartgun-Entwickler und ich wir sind ungleiche Verbündete.« Dass er die Shotgun trotz seines Widerwillens abgefeuert habe, sei eine »vertrauensbildende Maßnahme« für Jonathan Mossberg gewesen. »Es war ihm wichtig, dass ich sein Produkt teste.«

Joel geht in den Gebetsraum, will sich auf den Gottesdienst vorbereiten. Er schließt den hölzernen Schrein auf, schiebt einen Vorhang aus schwerem Stoff beiseite und nimmt eine der vier prunkvoll mit Silberschmuck verzierten alten Thorarollen heraus. Er entrollt sie ganz vorsichtig auf seinem hölzernen Stehpult. Joels zarte Hände streifen über die Schrift, seine feinen Finger, die so gut Gitarre spielen und auch schon den Abzug einer Shotgun gedrückt haben. »Es ist seltsam, eine Waffe abzufeuern«, murmelt Joel. »Es ist furchteinflößend. Aber vielleicht stürze ich mich in diese Sachen hinein, damit ich mit der Vergangenheit abschließen kann.«

Vom Rückschlag der Shotgun sei kein blauer Fleck an seiner Schulter geblieben, sagt Joel. Aber er habe noch lange danach spüren können, wo genau ihn der Gewehrkolben traf.

Dieser Text ist in der Ausgabe 02/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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