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Liebe Der Heimatlose

Albinismus in Afrika: Abdul Coulibaly von hinten
Abdul Coulibaly ist aus Afrika geflohen. Menschen mit Albinismus leben dort in ständiger Gefahr.
© Jen Osborne/Christopher Pilz
Menschen mit Albinismus werden in Afrika getötet und verstümmelt. Abdul gelang die Flucht. Jetzt geht er zurück, weil er sich nie wieder als Opfer fühlen will.

Die Angst ist da, wieder und immer noch. Abdul Coulibaly steigt aus der Boeing, Flug TK 603. Die schwülheiße Luft Tansanias umweht ihn, auch jetzt, spät in der Nacht, drei Uhr. Er geht über die Gangway, schaut Richtung Startbahn. Tiefdunkel liegt Daressalam vor ihm, die ostafrikanische Millionenmetropole am indischen Ozean.

In dem Moment denkt Abdul an seine Kindheit. Die Gerüche, die Wärme, all das spült Erinnerungen hoch. Fetzen von Gedanken an ein Leben, das er lange hinter sich gelassen hat. An Demütigungen. Angst. Und an die Hände, die an ihm zogen, ihn in einen Jeep zerren, ihn entführen wollten. Ein Sonntag war das, spätabends, und auch damals lag die Stadt tiefdunkel vor ihm.

Meist versucht Abdul, wie jetzt, einfach weiterzugehen. Die Angst zu ignorieren.

Keine Gnade für Menschen mit Albinismus

Vor seinem Abflug hat Abdul im Internet Artikel gelesen über Tansania. Über die Faszination der Serengeti, die Schönheit Sansibars. Über die Politik. Und auch über die grässlichen Überfälle, die brutalen Morde. Abgehackte Arme. Kinder, wehrlos verblutet. Er las von den Opfern und sah sich selbst. Die Opfer waren wie er. Menschen mit Albinismus.

Es war eine digitale Reise in eine Vergangenheit, die er kannte aus Mali, seiner Heimat, aus der er fliehen konnte. Vor sechs Jahren war das, und Abdul ist überzeugt, dass er nur deshalb noch am Leben ist. Doch er wollte es: zurück nach Afrika.

Liebe: In Europa, wie hier in ­ Madrid, fühlt sich Abdul wohl. Hier könne er Mensch sein.
In Europa, wie hier in ­ Madrid, fühlt sich Abdul wohl. Hier könne er Mensch sein.

Seine Freunde hatten ihn vor der Reise gewarnt, ihn gefragt: »Bist du dir sicher?

«Seine Mutter hatte ihn gefragt: »Warum, Abdul, warum die Gefahr?«

Er sagte, er muss. Er habe so viele Fragen, und er finde die Antworten nur hier, auf dem Kontinent seiner Geburt. Es ist der Antrieb eines Menschen, der immer ein Außenseiter war. Der nie dazugehörte. Und sich doch nichts sehnlicher wünscht.

Es ist die Geschichte eines Menschen, der sich gegen die Ungerechtigkeit wehrt, von Geburt an verurteilt zu sein.

Eine Albinismuskonferenz in Tansania

Zum ersten Mal treffen sie sich. 150 Menschen mit Albinismus aus 29 afrikanischen Ländern reisen nach Daressalam; ein Treffen, wie es der Kontinent noch nicht gesehen hat. Die erste afrikanische Albinismuskonferenz überhaupt, ausgerechnet hier. In Tansania, dem weltweit gefährlichsten Land für Menschen mit dieser Stoffwechselerkrankung. Nach Angaben der Hilfsorganisation »Under the Same Sun« gab es bis 2015 142 Opfer von Attacken, die Hälfte von ihnen starb. Lange Zeit schwieg die Politik dazu. Es gab keine offiziellen Statistiken, Ermittlungen verliefen erfolglos. Hunderte Täter wurden nie gefasst.

In Afrika kursieren seit Jahrhunderten Mysterien um Menschen mit Albinismus. Sie hätten übernatürliche Kräfte. Wenn HIV-Infizierte mit einem von ihnen schlafen, genesen sie, heißt es. Fischer, die das weiße Haar in ihre Netze einfädeln, fangen mehr. Albinos dienen als Glücksbringer, vielmehr: ihre Körperteile. Wunderheiler schreiben ihnen magische Wirkung zu und verkaufen sie auf einem Schwarzmarkt, der grässliche Auswüchse annimmt.

Amulette mit der hellen Haut: einige Hundert Dollar.

Finger: tausend Dollar.

Arme oder Beine: 10 000 Dollar.

Für den ganzen Körper werden bis zu 75 000 Dollar gezahlt. Sogar Gräber werden dafür geschändet.

Abdul hofft auf Antworten

Die Zahl der Attacken ist in den letzten Jahren gestiegen. Die Vereinten Nationen registrierten Meldungen aus Malawi, Burundi, Südafrika. Und immer wieder: Tansania.

In der ostafrikanischen Republik leben im Schnitt die meisten Menschen mit Albinismus weltweit, einer von 1400. In Kamerun ist es einer von 8000, in Mali, Abduls Heimat, einer von 4000. In Europa oder Amerika kommt nur jedes 40 000. Neugeborene mit Albinismus zur Welt.

Sollte man deshalb nicht genau hier in Tansania anfangen, gegen den Irrsinn anzukämpfen? Hier, wo es am schlimmsten ist?

Liebe: Der Heimatlose

Abdul hofft, in den kommenden Tagen Antworten zu finden. Woher die dunkelbraunen Punkte auf seiner Haut stammen. Ob sie gefährlich sind. Er will von anderen Teilnehmern hören, wie es ihnen in ihren Ländern ergeht.

Doch eigentlich will Abdul endlich einmal nur eins: dazugehören. Zum ersten Mal in seinem Leben.

Am nächsten Morgen steht Abdul um neun Uhr in der Hotellobby. Die Nacht war kurz, nur vier Stunden, doch Abdul wachte schon vor dem Weckerklingeln auf. Er ist umgeben von Menschen in weiten Gewändern, in bunten Hemden und schwarzen Anzügen. Die meisten von ihnen haben Albinismus.

Die Angst ist an diesen Tagen immer dabei

Wenig später macht sich die Gruppe auf den Weg zum Julius Nyerere International Convention Centre. Durch drei Querstraßen schlängeln sich vier Jeeps und fünf Kleinbusse, 800 Meter fahren die 150 Teilnehmer, mitten durchs Diplomatenviertel. Eine Prozession, die sich in den kommenden Tagen wiederholen wird. Jeden Morgen und jeden Abend fahren die Teilnehmer eine Strecke, für die sie zu Fuß zehn Minuten bräuchten. Als es am dritten Konferenztag einmal durch die Stadt geht, eskortiert sie ein Polizeimotorrad.

Der Konvoi biegt auf das Konferenzgelände. Abdul sieht Sicherheitsleute. Sie stoppen die Busse, prüfen jedes Fahrzeug, schauen mit Spiegeln unter die Wagen. Das habe ihn beeindruckt, sagt Abdul später, dieses Aufgebot. Und beruhigt. Am Eingang gibt es eine weitere Kontrolle, Abdul muss seinen Rucksack öffnen, ein Sicherheitsmann fährt seinen Körper mit einem Metalldetektor ab. Die Angst, sie ist in diesen Tagen immer dabei.

Wenn Abdul redet, ist seine Stimme oft sehr leise. Es wirkt, als versuche er so nicht aufzufallen. Oftmals muss man nachfragen, um ihn zu verstehen. Fragen beantwortet er in wenigen Sätzen. Man merkt, er braucht Zeit, um jemandem vertrauen zu können. Nicht Stunden, sondern Tage. Manche Fragen beantwortet er erst Wochen später.

Sie alle teilen das gleiche Schicksal

Nur jetzt, als Gleicher unter Gleichen, redet Abdul ohne Unterlass. Während einer Pause stehen die Teilnehmer an Tischen, trinken Tee, essen Wassermelone, Ananas, Mandazi, ein tansanisches Fettgebäck. Die Klimaanlage pustet kühle Luft durch die Gänge, Gespräche hallen von den hohen Wänden. Eine Stimmung wie auf einem Klassentreffen, auch wenn die meisten Teilnehmer sich noch nie getroffen haben. Und so stehen die Betroffenen auf einmal zusammen, die Opfer.

Bonface Massah, 32, aus Malawi. Immer wieder beschimpften ihn Passanten auf der Straße, riefen: »geplatzte Tomate«, »Weißgesicht«.

Joel Tchombosi, 33, Angola. In der Schule rissen Mitschüler ihm Haare aus, schlugen ihn, bis er blutete. »Sie wollten sehen, welche Farbe mein Blut hat«, sagt er.

Mawunyo Yakor-Dagbah, 32, Ghana. Nach ihrer Geburt sagte die Hebamme zu den Eltern: »Beten Sie das nächste Mal, dann haben Sie vielleicht mehr Glück und kriegen ein richtiges Kind.«

Dickson Konkola, 28, Sambia. Er verlor eine Freundin mit Albinismus. Unbekannte schlugen ihr Arme und Beine ab. Sie verblutete.

Und Abdul Coulibaly, 28. Er erzählt seine Geschichte. Zum ersten Mal hat er sich nicht dafür geschämt, was ihm passiert ist, sagt er später.

»Albino«, »Weißer«, »Unvollendeter«

Abdul wuchs am Rand Bamakos auf. Sein Vater war ein Straßenhändler; er stand jeden Tag auf dem Markt, verkaufte gebrauchte Turnschuhe, Flip-Flops, T-Shirts. Manchmal kam er abends mit wenigen Münzen nach Hause. Oft aber blieb seine Auslage voll.

Als Abduls Mutter ihn nach der Geburt im Arm hielt, schwieg sie lange. Ihr Kind war weiß, komplett weiß. Sie war ratlos. Und hoffte irgendwie, dass es noch dunkler werden würde, wenigstens etwas.

Abdul war oft krank, seine Haut blassrot, er sah schlecht, ein Sorgenkind. Der Arzt half nicht weiter. Er sagte nur: »Kämpfen Sie um Ihr Kind. Mehr kann ich nicht machen.«

Abdul hatte nie richtige Freunde. Er liebte Fußball, doch die Nachbarsjungen ließen ihn nicht in ihre Teams. Sie beleidigten ihn, schrien »Albino«, »Weißer«, »Unvollendeter«. Meist schaffte Abdul es, sie zu überhören. Manchmal schlug er zu, wälzte sich mit ihnen auf dem trockenen Boden.

In der Schule kämpfte Abdul, er konnte die Tafel schlecht erkennen. In der Grundschule achtete die Lehrerin noch auf ihn; sie schrieb in großen Lettern oder notierte auf Extrazetteln, die sie Abdul gab. Später, ab Klasse vier, wechselten die Lehrer. Abdul ging in der Klasse unter, kam mit seinen Abschriften nicht hinterher. In der achten Klasse gab er auf.

Ein Straßenhändler mit Albinismus

Von da an stand Abdul jeden Vormittag an den Straßenkreuzungen, in der Hand eine Box mit Taschentüchern, Handykarten, Kugelschreibern. Er ging zwischen dem Strom der Autos durch. Die Sonne schien. Und seine Haut verbrannte.

Straßenhändler, das sind in Mali meist die Gescheiterten, die Hoffnungslosen. Sie werden behandelt wie Bettler, abgespeist mit Almosen. Ein Straßenhändler mit Albinismus, tiefer ging es kaum. Nur selten kaufte jemand Abdul etwas ab. Manchmal rissen ihm Passanten im Vorbeigehen Haare aus. Einmal warf sich eine Frau vor ihm auf die Knie, sie hielt Geld hin, eine Opfergabe, sagte sie. Wenn er das Geld nehmen würde, würde sie ewig Glück haben. Abdul ging weiter.

Abends, wenn die Jungs aus seinem Viertel sich in Bars trafen, blieb Abdul zu Hause. Sie wollten nicht, dass er dabei war. Er schrecke die Frauen ab, sagten sie.

Fragt man Abdul, was schön war an seiner Jugend, redet er vom Fußball. Sie trafen sich oft bei seinem Cousin. Er hatte einen kleinen Röhrenfernseher, viel zu klein für ein Fußballspiel, viel zu klein für die 30, 40 Männer aus der Nachbarschaft, die sich zusammenrotteten. FC Liverpool, Real Madrid, Paris Saint-Germain; sie kamen, egal wer spielte. Abdul kam immer zwei Stunden vor Anpfiff, um einen vorderen Platz zu ergattern. Damit er etwas sehen konnte.

Abdul entkam dem Tod nur knapp - zweimal

Damals schworen sie sich: Einmal werden wir da sitzen, auf den Rängen, werden Real Madrid spielen sehen, Ronaldo zujubeln, glückstrunken »Hala Madrid« anstimmen, die Hymne von Real. Irgendwann. Sie lachten und flachsten und träumten.

An einem Abend im April 2002 kam Abdul von einem Fußballspiel. Die Straßen waren leerer als sonst, Mali hatte an dem Tag gewählt, viele Leute blieben aus Angst vor Anschlägen zu Hause. Abdul wartete an einer Bushaltestelle, da hielt ein Jeep vor ihm.

Junge, wohin willst du, fahr mit, rief der Fahrer. Wir nehmen dich mit. Komm, Junge. Abdul schüttelte den Kopf.

Sie riefen lauter, Komm, los, spar dir das Geld für den Bus! Abdul drehte sich um, er wollte gehen, da hörte er, wie die Männer ausstiegen. Er spürte, wie sie an seinen Händen zogen. Wie sie ihn Richtung Wagen zerrten.

Abdul schrie, bis zwei Passanten kamen, sie schrien auch. Da ließen die Männer Abdul los und fuhren davon.

Wenige Monate später versuchten sie es erneut. Wieder mit einem Jeep, wieder nachts.

In Europa dachte er, falle er nicht mehr auf

Von diesen Tagen an hielt es Abdul nicht mehr aus in Mali. Egal wo er war, im Bus, auf den überfüllten Straßenkreuzungen mit seinem Bauchladen, in seinem Viertel, nirgends fühlte er sich mehr sicher. Er wusste, er musste weg. Er wollte nicht erst warten, bis sie ihn hatten, ihm die Gliedmaßen abschnitten, ihn töteten. Er wollte leben. Er wollte Glück. Und das Glück würde er hier nicht finden, da war er sich sicher.

Liebe: Der Heimatlose

Abdul hatte immer von Europa geträumt. Da sind die Menschen nicht nur reicher, da sehen sie auch aus wie er, dachte er. In Europa lebten doch viele Albinos. Stefan Effenberg zum Beispiel. Blassweiße Haut, helles Haar. Boris Becker. Bastian Schweinsteiger. Pavel Nedved. In Europa, dachte er, falle er nicht mehr auf. Da könne er Mensch sein.

Sechs Jahre dauerte es, bis er das Geld für seine Flucht zusammenhatte. Er arbeitete als Straßenhändler, als Aushilfe bei einem Eisenwarenhandel. Im Herbst 2008, Abdul war 21 Jahre alt, sagte er zu seinem jüngsten Bruder, er fahre für ein paar Tage ans Meer. Aber das sei ein Geheimnis, niemand sonst in der Familie dürfe es wissen. Unser Geheimnis, verstanden?, fragte er. Dann löste er ein Ticket, sein Ziel: Mauretanien, die Atlantikküste.

Im Gepäck: zwei Hosen, vier Hemden, zwei Caps. Und 50 000 CFA-Franc, rund hundert Euro.

Der Aberglaube sitzt tief

Abdul versuchte, einen Platz auf einem der Flüchtlingsboote zu bekommen, doch für Albinos gebe es keine Plätze, sagten die Schlepper. Kein Flüchtling würde mit einem Albino aufs Boot gehen, nicht mit einem lebenden Albino. Der alte Fluch.

Sieben Monate wartete er. Abdul teilte sich mit Dutzenden Männern einen Raum, schlief auf dem Boden. Heuerte bei einem Fischhändler an, räumte Ladung um Ladung um, bis irgendwann der beißende Fischgeruch nicht mehr von seiner Haut zu waschen war und Europa so fern erschien, dass er kurz davor war, umzukehren. Aufzugeben. Zurück nach Mali.

Doch Ende März 2009 kam ein Schlepper auf ihn zu. Er habe einen Platz, 800 Euro, noch in der Nacht lege das Boot ab, kein Gepäck. D’accord?

Fünf Tage verbrachte Abdul auf dem atlantischen Ozean. Das Meerwasser brannte auf seiner Haut. Als nach drei Tagen der Motor streikte, verfluchten ihn die anderen Passagiere. Sie beleidigten ihn, Männer wollten sich auf ihn stürzen, ihn erst zusammenschlagen und dann über Bord werfen. Der Kapitän beschwichtigte. Abdul schwieg.

»Are you an albino?«

Am Strand von Teneriffa wartete die Guardia Civil auf die Flüchtlinge. Europa, Land der Weißen. Abdul watete die letzten Meter durch das kalte Wasser, er sah die Polizisten, er sah Touristen, Helfer, die auf ihn zueilten, ihm eine Decke um die Schulter legten. Sit down, sit down, sagten sie. Welcome. Sie umarmten ihn. Fassten seine Haut an. Are you an albino?, fragten sie und machten Fotos.

Da verstand Abdul, dass er wahrscheinlich nie unbemerkt bleiben würde.

Auf der Konferenz steht Abdul plötzlich vor Peter Ash. Ash ist Kanadier, er ist selbst mit Albinismus geboren. Er hat »Under The Same Sun« gegründet. Die Hilfsorganisation kämpft für die Rechte betroffener Menschen in Afrika. Sie hilft Opfern, zahlt ihnen Schulgelder, dokumentiert die Attacken.

Im April 2009 schrieb eine Anwältin Ash an. Sie sitze am Asylantrag eines Mannes mit Albinismus aus Mali. Abdul Coulibaly. Um den Antrag durchzubekommen, brauche sie Beweise, Gutachten, die bestätigen, wie gefährlich das Leben für Abdul in Mali sei. Könne er helfen? Ash schrieb ein Gutachten. Abdul durfte bleiben.

In Tansania begegnen sie sich zum ersten Mal. Ash schaut auf Abduls Namensschild. »Hey, wir kennen uns, richtig? Wir haben vor Jahren mal geschrieben. Wie geht es dir jetzt in Spanien?«

Endlich keine Angst mehr

Abdul würde ihm gerne alles erzählen. Wie er von Teneriffa aufs spanische Festland ging, nach Katalonien. Wie er tagsüber Pfirsiche pflückte für zwei Euro die Stunde und sich nachts in Dörfern leer stehende Hütten suchte, in denen er schlafen konnte. Als einmal Zollbeamte die Arbeiter auf der Plantage kontrollierten, flohen die anderen Afrikaner. Abdul blieb stehen, pflückte weiter. Ihn kontrollierte keiner. Er war ja wie sie, weiß. Es war das erste Mal, dass er Glück verspürte, ein Albino zu sein. Und keine Angst mehr haben musste.

Später zog Abdul nach Madrid. Als anerkanntem Flüchtling vermittelte das Arbeitsamt ihm eine Ausbildung zum Koch. Er lernte Paella garen, Tortilla braten, Rindfleisch filetieren. Abdul fand einen Job im Sacha, einem renommierten Restaurant. Dort tragen die Kellner schwarze Westen und Fliege, an der Tür begrüßt der Maître die Gäste mit Handschlag. Oft sind es Spitzenköche, die dort essen. Abdul arbeitete sich hoch, vom Tellerwäscher zum Dessertkoch. Er begann zu joggen, ging in den Mittagspausen ins Fitnessstudio. Und er fand Freunde.

»Gut, ich bin ein Koch.«

»Das klingt super. Weißt du, dass dein Fall Vorbild für Dutzende Menschen mit Albinismus war? Sie haben alle Asyl in Europa bekommen. Toll, dich zu sehen. Genieß es.«

Händeschütteln, auf die Schulter klopfen, schnell noch ein Foto. Dann muss Ash weiter. Abdul bleibt zurück und lächelt. Er, ein Vorbild.

Die Macht der Aufklärung

Am letzten Abend der Konferenz, nach acht Stunden Vorträgen und Diskussionen, sitzt Abdul auf der Dachterrasse des Hotels. Er will etwas Ruhe, die letzten Tage sacken lassen, Erlebtes verarbeiten.

Ein Genetiker hat ihnen die verschiedenen Ausprägungen von Albinismus erklärt, die Unterschiede zwischen OCA1 und OCA2. Die Wirkung von Melanin.

Eine Dermatologin referierte zu Hautkrebs. 98 Prozent aller Menschen mit Albinismus in Tansania sterben, bevor sie das 40. Lebensjahr erreicht haben. Die Sonne brennt sich in ihre Haut, schutzlos zerstören die Strahlen die Zellen, bis der Hautkrebs den Menschen auffrisst.

Ein Menschenrechtler der UN hat erklärt, wie man Übergriffe meldet, wie man Zeugen einfühlsam befragt und Beweise sichert.

Die Teilnehmer brauchen dieses Wissen. Um am Ende in ihre Länder zurückzukehren, ausgerüstet mit der Macht der Aufklärung. Um all dem Aberglauben entgegenzutreten. Das Morden zu beenden, die Angst. Um erklären zu können, warum sie sind, wie sie sind.

Abdul hat viele Visitenkarten gesammelt. Die Präsidentin der Albinismusvereinigung aus Mali will mit ihm in Kontakt bleiben, sie wollen seine Geschichte hören, um anderen helfen zu können. Abdul sagt, er wird noch viele Wochen brauchen, um all das zu ordnen, was er in Tansania gelernt hat. Dann wird er sich überlegen, wie er helfen kann. Abdul braucht Zeit. Einen Plan. So wie er es immer macht.

Abdul ist jetzt Europäer

Im vergangenen Jahr hat Abdul sich um die spanische Staatsbürgerschaft beworben. Er musste Formulare ausfüllen, einen Einbürgerungstest machen. Wie viele Provinzen gibt es in Spanien? Wie heißt die Königin? Wie oft hat Spanien die WM gewonnen? Wie viele Inseln haben die Kanaren? Abdul hatte sich vorbereitet. Er wusste alles. Ende des Jahres wird Abdul den spanischen Pass bekommen. Er will dann die Flagge küssen müssen, einen Eid ablegen, die Nationalhymne hören. Abdul hat auch das schon geplant. Er wird einen neuen Anzug kaufen und Geld zu seiner Familie nach Mali schicken. Sie sollen sich gutes Essen kaufen, neue Kleider, sie sollen so laut feiern, dass die Nachbarn es hören, dass es am Ende alle im Viertel wissen: Abdul ist Europäer. »Von dem Moment an wird niemand mehr über mich lachen«, sagt er.

Auf der Dachterrasse in Daressalam stehen einige Teilnehmer an der Bar, erzählen, lachen. Abdul sitzt wieder nah vor dem Bildschirm, wie damals in Mali. An dem Abend spielt Real Madrid gegen den FC Barcelona. Er erzählt, was er inzwischen geschafft hat: Er war im Stadion Bernabéu. Er hat Cristiano Ronaldo spielen sehen, hat »Hala Madrid« gesungen und dabei hat er für einen kurzen Moment geweint, weil er etwas geschafft hat, was wahrscheinlich keiner der Jungs aus seinem Viertel je schaffen wird. Nur er.

Zur Halbzeit des Fußballspiels steht es 2:0 für Barcelona. Abdul geht in sein Zimmer. Morgen fliegt er zurück, er will noch einmal seine Mutter anrufen, das macht er jede Woche, auch wenn von Tansania aus die Minute drei Dollar kostet. Er wählt. Die Verbindung ist schlecht, sie verstehen sich kaum. Abdul sagt: »Mama, es geht mir gut. Die Konferenz ist toll, es fühlt sich an, als hätte ich eine neue Familie gefunden.«

Dann bricht die Verbindung ab. Er sagt, er hoffe, dass sie das noch gehört habe.

Liebe: »Manchmal vermisse ich Afrika«, sagt Abdul und kauft sich vor dem Abflug noch ein paar traditionelle Hemden.
»Manchmal vermisse ich Afrika«, sagt Abdul und kauft sich vor dem Abflug noch ein paar traditionelle Hemden.

Dieser Text ist in der Ausgabe 04/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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