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Politik Meine Meinung – Sorry für nichts!

Tut mir leid: Eine Illustration von Frank Höhne
Was macht das ständige "Tut mir leid" mit uns?
© Illustration: Frank Höhne
Früher waren Entschuldigungen Akte der Reue, heute benutzt man sie ständig. Sogar dann, wenn man selbst nichts falsch gemacht hat. Der Höflichkeitsterror muss endlich aufhören.

Text: Martina Kix | Illustration: Frank Höhne

Neulich klingelte ich in der Nacht um halb zwei bei einem meiner Nachbarn: »Tut mir leid, aber könntest du die Musik vielleicht ein bisschen leiser drehen?« Er verzog sein Gesicht, als hätte ich ihn nach Crack gefragt, und grummelte: »Wenn dich die Mucke stört, zieh halt nach Eppendorf!« Sorry, ich wollte doch nur schlafen, weil ich morgen früh arbeiten muss. Ich wollte ja auch nicht spießig sein, aber der Boden wackelt von den Bässen. Der Nachbar drehte die Musik leiser. Trotzdem lag ich schlaflos in meinem Bett. Ich war sauer, nicht auf den blöden Nachbarn, sondern auf mich. Ich hatte mich entschuldigt, obwohl ich nichts falsch gemacht hatte. Statt direkt zu sagen: »Das ist Ruhestörung!« und wie Robin Hood für mein Recht zu kämpfen, habe ich mich für meine Spießigkeit geschämt und mich hinter einer Entschuldigung versteckt. Wie paradox.

Viermal die Woche entschuldigen wir uns durchschnittlich bei einem Fremden, einem Kollegen oder dem Freund für Fehler, belegen kanadische Forscher. Allerdings hörte ich in den vergangenen Monaten eigentlich ständig Entschuldigungen: »Sorry, lieber Kellner, an meinem Salat sind noch Erdklumpen.« »Tut mir leid, aber ich mag Tanzfilme.« »Entschuldigung, aber ich möchte gerade ›Ich liebe das Leben‹ von Vicky Leandros hören.«

Was bedeutet "Tut mir leid" eigentlich noch?

Das Problem dieser neuen Kultur liegt darin, dass Entschuldigungen nicht mehr nur Akte der Reue sind, sondern falsche Höflichkeit, Koketterie. Kommunikationsforscher sprechen inzwischen von einem Zeitalter der Entschuldigung. Sie ist der Kitt unserer Gesellschaft. Gefühlt in etwa achtzig Prozent der Fälle, in denen es angebracht ist, um Verzeihung zu bitten, weil jemand einen Fehler begangen hat, geschieht das auch. Das ist wunderbar. Solche Entschuldigungen laufen nach einem ähnlichen Schema ab: Ex-Bundespräsident Christian Wulff entschuldigte sich öffentlich für seinen Schummelkredit, die Firma Tepco leistete demütig Abbitte für die Verstrahlung einer Region. Entschuldigungen sind wichtig, um nach einem Fehler das eigene Ansehen wiederherzustellen und der Gesellschaft die Chance auf ein »Ist schon okay« zu geben. Doch wenn sich das Opfer beim Täter entschuldigt, wird das ganze System sinnlos.

Die Politologin Barbara Kellerman sagt in einem Interview: »Wenn sich jeder für alles entschuldigt, ist die einzelne Entschuldigung nicht mehr besonders wertvoll.« Inflationär betrieben, führt das auch dazu, dass kaum noch Klartext geredet wird und man vor lauter »Sorry« bald gar nicht mehr sagt, was eigentlich los ist. Die eigene Meinung wird zwischen Luftpolsterfolien aus Entschuldigungen gepackt, damit a) kein falsches Bild von einem entsteht und b) der andere auch ja nicht sauer sein kann. Wenn wir so um Verzeihung bitten, stehen wir in einem permanenten Rechtfertigungszwang und das »Sorry« wird zum Terroristen der modernen Kommunikation. Das wollen sich nicht alle gefallen lassen.

Eine App, die das Entschuldigen abgewöhnt

Die New Yorkerin und Entschuldigungsrevolutionärin Tami Reiss, 33, hat eine Lösung programmiert: Die »Just Not Sorry«-App will den Nutzern das Entschuldigen abgewöhnen. Tippt man die Phrasen »actually«, »sorry«, »just«, »I think«, »I’m no expert« oder »Does this make sense?« in eine E-Mail, werden sie wie Rechtschreibfehler rot unterringelt. »Die App schafft Bewusstsein. Sie löscht die Wörter nicht, sie markiert sie«, sagt Reiss in einem Interview. Sie wünscht sich, dass Menschen weniger Angst davor haben, direkt zu sein. Doch Reiss ist nicht allein im Kampf gegen den Entschuldigungswahn.

Auf eine riesige Wand in Williamsburg, dem Viertel der Hipster und Indiemusiknerds, hat der Streamingdienst Spotify eine Entschuldigung gemalt: »Sorry, Not Sorry Williamsburg. Bieber’s hit trended highest in this zip code.« Die doppelte Entschuldigung macht sich über den »Sorry«-Irrsinn lustig und schafft zugleich Fakten, denn auch wenn die Williamsburger so tun, als wäre das nicht so, hören sie gern Pop. Und das muss endlich okay sein. #sorrynotsorry ist ein Zwitter zwischen Höflichkeit und direkten Forderungen. Das ist die selbstbewussteste und provokanteste Art, der Höflichkeit zu trotzen. Wenn ein DJ auf einer Hipsterparty in Brooklyn allerdings wirklich den Justin-Bieber-Song »Sorry« spielt und alle von der Tanzfläche rennen, kann er sich anschließend immer noch entschuldigen, aber bitte: nie wieder vorher.

Unsere Autorin Martina Kix, 30, entschuldigt sich in Zukunft nur noch, wenn sie zufällig eine Naturkatastrophe auslösen, in einen Finanzskandal involviert sein oder Justin Bieber backstage auf den Fuß treten sollte.

Dieser Text ist in der Ausgabe 04/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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