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Politik Möge die Macht mit ihm sein

Politik: Möge die Macht mit ihm sein
Justin Trudeau, 44, ist Millionär, Ex­türsteher, Exkiffer – und der neue ­Premierminister von Kanada. Über einen Politiker, der fast 
zu gut ist, um wahr zu sein.

Text: Guy Lawson | Foto: Mark Peckmezian

An einem Dienstag im Spätherbst, wenige Tage nachdem Justin Trudeau, der Vorsitzende der Liberalen, den Eid als kanadischer Premierminister abgelegt hat, betrete ich sein Büro im dritten Stock des Parlamentsgebäudes in Ottawa. In dem Raum, der mit dunklen Holzpaneelen verkleidet ist, stehen noch die überdimensionalen Möbelstücke des Vormieters herum; Stephen Harper und die Konservativen hatten Kanada fast ein Jahrzehnt lang regiert. Nun herrscht in dem Büro eine Atmosphäre wie in einem Bunker, der überstürzt evakuiert wurde – leere Regale, zugezogene Vorhänge, persönliche Gegenstände wurden offenbar eilig entfernt.

Schon Trudeaus Vater Pierre hatte zwischen 1960 und 1980 insgesamt sechzehn Jahre hier gesessen. Der neue Premierminister will den Schreibtisch seines Vaters so schnell wie möglich in das Büro bringen lassen – und zeigt so deutlich, dass er sich nicht nur dem Erbe seiner Familie und Partei verpflichtet fühlt, sondern auch den Einrichtungs- und Regierungsstil seines Vorgängers ablehnt.

»Wir werden hier einiges verändern«, sagt Trudeau. »Ich stelle einen kleineren Schreibtisch in die Ecke. Ich brauche auch einen Sessel zum Lesen und eine große Couch, damit wir uns hinsetzen und wirklich miteinander reden können.« Während er im Geiste den Raum neu dekoriert, erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht: »Es ist ein ganz anderer Ansatz.«

An diesem Tag ist offensichtlich, dass der klare Wahlsieg am 19. Oktober nicht nur das Land überrascht hat, sondern auch Trudeau selbst und seine Mitarbeiter. Ein kleines, überarbeitetes Wahlkampfteam versucht, die unerwarteten Anforderungen der Regierungsarbeit zu bewältigen. Weil so viele Stellen zu besetzen waren, riefen sie über soziale Medien dazu auf, sich zu bewerben: 22 000 Leute meldeten sich.

Der 44-jährige Trudeau hadert noch mit seinem neuen Titel: »Premierminister«. Jahrelang war er einfach nur »Justin« und so wird er von einigen seiner Mitarbeiter auch immer noch genannt. Trudeaus Sprecherin Kate ­Purchase sagt: »Es ist, als wäre dein kluger Kumpel plötzlich Regierungschef.«

»Die Leute auf der Straße werden mich entweder mit ›Herr Premierminister‹ oder mit ­›Justin‹ ansprechen«, meint Trudeau. »Mal sehen, wie sich das entwickelt. Wenn ich am Rednerpult stehe, bin ich ›Herr Premierminister‹. Aber wenn wir zusammen Bier trinken und man meine Tätowierungen sehen kann, ist es okay, mich beim Vornamen anzusprechen.«

Trudeau ist ein positiver und freundlicher Mensch – eben so nett, wie man es von einem Politiker erwarten sollte, dessen ­Wahlkampfslogan lautete: »Sunny Ways«!

Er ist 1,87 Meter groß und hat einen athletischen Körperbau. Nachdem er jahrelang mit langen Locken und Hipster-Vokuhilas experimentiert hat, trägt er seine Haare nun akkurat geschnitten. Auf den Pomp der Mächtigen verzichtet er – lässt sich von einem Mitarbeiter namens Tommy lediglich ein halbes Thunfisch-Sandwich und einen Becher Nudelsuppe aus der Kantine bringen. Unser Gespräch ist das erste große Magazininterview, das Trudeau nach seinem Triumph gibt, und ich ­habe den Eindruck, dass er immer noch damit beschäftigt ist, herauszufinden, wie er seine neue Rolle spielen soll. Obwohl er sich bemüht, dringt sein wahres Wesen doch immer wieder durch die Maske.

»Es ist schon sehr, sehr cool, wenn einen der US-Präsident anruft. Ich hatte ihn zuvor noch nicht getroffen«, erzählt Trudeau und spricht eine Oktave tiefer, um Barack Obama zu imitieren. »Er sagte zu mir: Justin, ich sehe mich selbst noch als jungen Politiker, ich habe mit der Zeit nur graue Haare bekommen, und diesem Schicksal wirst auch du nicht entgehen. Wenn du mich also ›Sir‹ nennst«, fühle ich mich alt. Nenn mich bitte Barack.« Trudeau schüttelt belustigt den Kopf: »­Daran werde ich mich erst gewöhnen müssen.«

Politik: ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT: Justin Trudeau sitzt an demselben Schreibtisch, von dem aus sein Vater Pierre Kanada lange Zeit regiert hatte.
ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT: Justin Trudeau sitzt an demselben Schreibtisch, von dem aus sein Vater Pierre Kanada lange Zeit regiert hatte.

Kurz nach unserem Treffen sollte es zum ersten direkten Austausch zwischen Trudeau und Obama kommen. Die Vereinigten Staaten spotten gern über Kanada, aber das Land ist sehr wichtig für die Weltmacht. Neben China ist Kanada der wichtigste Handelspartner der USA, ein friedlicher, stabiler Nachbarstaat und traditionell ein wichtiger Verbündeter. In den vergangenen Jahren waren die Beziehungen allerdings schlecht, denn der konservative Harper war sich mit ­Obama selten ­einig: Egal ob es um die Atomverhandlungen mit dem Iran ging, den syrischen Bürgerkrieg oder den Klimawandel. Nach Trudeaus Wahlsieg dürften die Unstimmigkeiten abgeklungen sein, wenngleich Kanada sich nun vermutlich nicht an Luftschlägen gegen den IS im Mittleren Osten beteiligen wird.

Das Gespräch zwischen den Politikpopstars verlief freundlich und entspannt. Trudeau hat vieles mit dem US-Präsidenten gemein. In seinem Wahlkampfteam arbeiteten auch Veteranen der legendären Obama-­Kampagne. Und sein überraschender Sieg hat weltweit Begeisterung aus­gelöst – genau wie Obamas Triumph im Jahr 2008.

Obama riet Trudeau, möglichst früh die Initiative zu ergreifen und den himmelhohen Erwartungen mit einem langfristigen Plan für die Regierungsarbeit zu begegnen. Er teilte ihm auch seine Einschätzung der Staats- und Regierungschefs mit: auf wen man sich verlassen könne – und wem man lieber fern bleiben sollte. Dann lud Obama ihn und seine Ehefrau nach Washington ein. »Obama bot sich als Mentor an, ­ohne auf Trudeau herabzublicken«, meinte Ben Rhodes, ein hochrangiger Berater Obamas. »Trudeau wird eine lange Zeit auf der politischen Bühne stehen. Er hat jede Menge Talent.«

»Es war gut, zu sehen, dass wir tatsächlich ganz ähnlich über viele Dinge denken«, erzählt mir Trudeau später. »Obama sagte mir, dass ihn die TV-Bilder, die mich nach der Wahl mit meiner jungen Familie zeigen, an seine Situation im Jahr 2008 erinnerten. Ich freue mich darauf, ein Bier mit ihm zu trinken.«

Der Wahlkampf letzten Herbst war nicht weniger als ein existenzielles Ringen um die kanadische Identität. Auf der einen Seite stand Stephen Harper mit seiner Vision eines Landes im Zeitalter des Terrors, auf der anderen Seite Trudeau mit seiner linksliberalen Weltsicht, der zufolge wir nicht in einem gewaltigen Kampf der Kulturen stecken – und die soziale, religiöse und sprachliche Vielfalt und Offenheit Kanadas die größte Stärke des Landes ist.

»Wenn ich am Rednerpult stehe, bin ich ›Herr Premierminister‹. Aber wenn wir zusammen Bier trinken und man meine Tätowierungen sehen kann, ist es okay, mich beim Vornamen anzusprechen.«

Und immer ging es auch um den Vater von Justin Trudeau: Pierre Trudeau regierte Kanada in den 1960er und 1970er Jahren, als das Land die Verbindungen zur alten Kolonialmacht Großbritannien kappte und sich seine eigene Identität schuf. Kanada ersetzte den Union Jack durch das Maple Leaf und führte eine Nationalhymne ein. Viele kanadische Grundsätze – die allgemeine Krankenversicherung, der zweisprachige Föderalstaat, der Fokus auf UNO und Friedens- und Entwicklungspolitik – entstanden in dieser Zeit. Eine der ersten Initiativen Pierre ­Trudeaus war die Entkriminalisierung der Homosexualität: »Der Staat hat in den Schlafzimmern des Landes nichts verloren.« In schneller Folge lega­lisierte er die Abtreibung, erhöhte das Kulturbudget und vertrat eine Einwanderungspolitik, die sich nicht um die Frage nach der ethnischen Her­kunft kümmerte: Die kosmopolitischen Metropolen des modernen Kanada wären ohne ihn nicht denkbar.

In den vergangenen Jahren hat Stephen Harper alles getan, um das Erbe des älteren Trudeau zu zerstören – politisch wie symbolisch. Er inszenierte sich als Verteidiger des alten, weißen Kanada, redete die Vereinten Nationen schlecht, machte das Kopftuch muslimischer Frauen zum Streitthema und trat einer imaginären Allianz zur Verteidigung der westlichen Zivilisation bei. Hätte er den Sohn von Pierre Trudeau an der Wahlurne bezwungen, wäre das eine metaphysische Rechtfertigung seiner Politik gewesen. Aber es kam anders.

Ich bin Kanadier und lebe seit Jahren im Ausland. Die symbolische Bedeutung der Wahl verstand ich deshalb erst, als im September die Leiche eines kleinen Flüchtlingsjungen an der türkischen Küste angeschwemmt wurde. Der Junge hatte Verwandte in Kanada gehabt, die versucht hatten, der Familie bei der Einreise zu helfen. Aber die Harper-­Regierung vertrat eine überaus harte Haltung gegenüber den syrischen Flüchtlingen und betonte, dass die nationale Sicherheit wichtiger sei als humanitäre Hilfe. Auch nach dem Tod des Jungen, der aufgrund eines ikonischen Fotos weltweit Aufsehen erregte, schimpfte die Harper-­Regierung weiter auf muslimische »Dschihad-Einwanderer«, was nicht nur mir irgendwie unkanadisch vorkam – aber sie wollten ja nicht weniger als das Selbstbild des Landes verändern.

Jahrelang hatte Harper sich dank kluger Strategie, erfolgreicher Wirtschaftspolitik und sinkenden Kriminalitätsraten an der Macht ­gehalten – aber auch die Unfähigkeit der Opposition spielte eine Rolle. In dieser Zeit verteilten sich die Stimmen progressiver Wähler auf Liberale und die weiter links stehenden Neuen Demokraten. Aber nach der Kontroverse um den toten Flüchtlingsjungen und den starken Auftritten von Justin Trudeau in den fünf Fernsehdebatten versammelten sich die Wähler auf seiner Seite. »Die Bürger entschieden sich, denjenigen zu unterstützen, der Harper besiegen konnte«, meint Trudeau. »Ich hatte immer den Eindruck, dass es zwar gewisse Unsicherheiten darüber gab, ob ich geeignet war, die Wirtschaft des Landes zu managen. Aber die Leute wussten, dass meine Partei genug Kompetenz und eine große Tradition besitzt, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das erlaubte es mir, das Establishment herauszufordern.«

Seine Gegener warfen Trudeau vor, seine einzige Qualifikation für den Job sei sein berühmter Name

Im Wahlkampf bezeichnete Harper seinen jungen Gegner als ahnungslosen Abkömmling eines früheren Premierministers, der die Steuern erhöhen werde und dessen einzige Qualifikation für das Amt sein Nachname sei. Dass ausgerechnet der Sohn von Pierre Trudeau dann Harper besiegte, hat die epischen Dimensionen eines griechischen Dramas – nicht nur wurde der Familienname rehabilitiert, sondern auch Pierres Trudeaus Vision Kanadas. In sein Kabinett berief der jüngere Trudeau Mitglieder verschiedener Ethnien und legte Wert auf eine ausgeglichene Geschlechtervertretung. Fast jedes seiner politischen Projekte – ganz gleich, ob es um die LGBT-Community, die Steuerreform oder die Chinapolitik geht – wirkt wie eine Kritik an der Vorgängerregierung. Wissenschaftler im Dienst der Behörden, die lange Zeit nicht mit der Presse sprechen durften, um Harpers skeptische Haltung gegenüber dem Klimawandel nicht zu widerlegen, dürfen nun ihre Forschungs­ergebnisse mit Reportern teilen – und reagieren fast ungläubig auf die neue Freiheit. Schon Trudeaus banale Ansage, in Zukunft auch Fragen von Journalisten entgegenzunehmen, enthielt eine tiefere Botschaft. Harper hatte jahrelang keine Pressekonferenz abgehalten.

»Es ist eine neue Welt«, murmelt ein Reporter, als Trudeau die ersten Fragen beantwortet, »ich weiß gar nicht, was ich denken soll.«

Es gibt keinen Politiker, der in Kanada stärkere Emotionen hervorruft als Pierre Trudeau. Je nachdem, mit wem man spricht, war Justins Vater entweder der Inbegriff des belesenen, modernen Kanadiers oder ein sozialistischer, verschwenderischer Wüstling. Pierres Vater verdiente in den 1930er Jahren ein Vermögen mit Tankstellen, weshalb sich der Sohn nie um ein Auskommen sorgen musste (und auch Justin ist ein sehr reicher Mann). Als junger Erwachsener reiste Pierre Trudeau nach Afrika und Asien, studierte in Harvard und an der London School of Economics und freundete sich in Paris mit Jean-Paul Sartre und ­Simone de Beauvoir an. Während seiner Regierungszeit (1968 bis 1979, 1980 bis 1984) war der Großstädter aus Montreal zwar im ländlichen Westkanada und bei den Separatisten in Quebec verhasst. Aber er war in vieler­lei Hinsicht auch ein Visionär. Damals konnte die kanadische Verfassung nur verändert werden, wenn auch das britische Parlament zustimmte – ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit. Trudeau schaffte ­diese Regel 1982 ab – und wurde so zu einer Art Gründer Kanadas.

Dank seinem Vater hatte Justin Trudeau einen der besten Plätze im Geschichtsunterricht. In seiner Kindheit traf er Margaret Thatcher und Ronald Reagan; Richard Nixon prophezeite ihm schon im Kleinkindalter, er würde mal Premierminister werden. Mit seinem Vater, so erzählt es Justin Trudeau, sprach er jedoch erst kurz vor dessen Tod über eine mögliche Politikkarriere. »Er war auf wichtige Gesprächsthemen fokussiert. Machtfantasien gehörten da eher nicht dazu.«

Politik: Möge die Macht mit ihm sein

Justin Trudeau hat zwar mehrere geisteswissenschaftliche Universitätsabschlüsse, lebte als junger Mann aber für seine Herkunft und sein Erbe auffällig unauffällig. Er reiste durch die Welt, fuhr viel Snowboard, rauchte Gras und arbeitete als Türsteher – am Ende war er Highschoollehrer in Vancouver. Es liegt auf der Hand, dass ihn dieser Lebenslauf nicht unbedingt für den Job als Premierminister qualifiziert – seiner Ansicht nach hat er jedoch eine ganz besondere Ausbildung genossen. ­Justin Trudeau betont gerne, dass er mehr als hundert Länder besucht hat – oft begleitete er seinen Vater zu Gipfeltreffen und bekam auf ­diese Weise einen intimen Einblick in die Staatskunst. Auf den Reisen entwickelte er auch Empathie für die Menschen auf der Welt, die es weniger gut getroffen haben als er selbst. In seiner Autobiografie »Common Ground« beschreibt Trudeau zum Beispiel einen Moment, den er als kleines Kind in Bangladesch erlebte, wohin er seinen Vater begleitet hatte. Aus dem Limousinenkonvoi heraus, der durch Dhaka raste, beobachtete er einen alten, armen Mann mit einem Fahrrad, der geduldig wartete, bis die schweren Autos endlich verschwunden waren. Plötzlich, schreibt Trudeau, sei er von Mitgefühl für den Mann überwältigt worden und habe realisiert, dass es Milliarden Menschen auf der Welt gebe; ein jeder ein einzigartiges Individuum, ein jeder mit seiner ganz eigenen Geschichte. »Das hat meinen Blick auf mein Leben und meine Lebensumstände für immer verändert.«

Die Trudeaus sind die Kennedys von Kanada – und fesseln die Fantasie der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten. Justins Mutter Margaret war erst 22, als sie Pierre im Jahr 1971 heiratete – er war damals Premierminister und ein begehrter Junggeselle, er war aber auch ein Workaholic und berüchtigter Geizhals. Die schöne, junge Frau, die in den ­Medien »Maggie T.« genannt wurde, gebar in schneller Folge drei Jungs und begann dann, ihren eigenen Weg zu suchen. Sie rauchte Gras, während sie von Mountie-Polizisten bewacht wurde, konsumierte Peyote, bevor sie eine offizielle Ansprache in Venezuela hielt, und schlich sich davon, um im New Yorker Studio 54 zu feiern. Ihren eigenen Angaben ­zufolge hatte sie Affären mit Ted Kennedy, Ryan O’Neal und mindestens einem Rolling Stone.

Die Geschichte der Trudeaus handelt von Glamour und Reichtum – und einer großen Tragödie. 1998 wurde Justins jüngerer Bruder Michel bei einer Skitour in British Columbia im Alter von 23 Jahren durch eine Lawine getötet. In der Folge begann der tiefreligiöse Pierre, an seinem Glauben zu zweifeln, Margaret wurde gar in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Das öffentliche Leben von Justin Trudeau begann mit dem Tod ­seines Vaters im Jahr 2000. Auf der Beerdigung sollte der damals 29-Jährige als ältester Sohn die Trauerrede für einen der Giganten der kanadischen Geschichte halten. »Je t’aime, Papa«, sagte er und legte seinen Kopf auf den schweren Sarg – eine spontane Geste, die die Trauer eines ganzen Landes ausdrückte.

Acht Jahre später startete er seine politische Karriere und bewarb sich im Montrealer Arbeiterviertel Papineau um ein Abgeordnetenmandat. Er beeindruckte durch seine Arbeitsmoral und sein Gefallen an der politischen Kärrnerarbeit. Sein Vater hatte für das Ritual des Händeschüttelns wenig übriggehabt, Justins größtes Pfund ist hingegen womöglich gerade seine Bodenständigkeit und Zugänglichkeit. Er gewann mit großem Vorsprung und tauchte erstmals als Politiker in den Abendnachrich­ten auf – was weniger mit der Bedeutung seines Amts zu tun hatte als mit seinem berühmten Namen und der Sehnsucht der Zuschauer nach der guten alten Zeit.

Trudeau wuchs mit Limousinen und Gipfeltreffen auf. Mit seinem Vater bereiste er über hundert Länder

Der Weg, der den jüngeren Trudeau ins Büro des Premierministers führen sollte, begann aber an einem Samstag im Jahr 2012 in einem Boxring in Ottawa. Zu dieser Zeit waren die Liberalen führungslos, und sie hatten 2011 nur zehn Prozent der Mandate gewinnen können. ­Trudeau war bereit, alles zu riskieren, um die politische Dynamik zu ver­ändern. Zunächst wirkte es wie ein PR-Stunt, als er einen 37-jährigen konservativen Senator namens Patrick Brazeau zu einem Boxkampf herausforderte, um Geld für einen wohltätigen Zweck zu sammeln. ­Alle erwarteten, dass Trudeau eine Tracht Prügel kassieren würde. Denn ­Brazeau, den man »Schlagring« ruft, hat einen schwarzen Gürtel in Karate und ist Army-Veteran. Am Abend des Kampfes schaltete das ganze Land den Nachrichtensender ein, der den Event übertrug. Zunächst bekam Trudeau – dieses »hübsche Pony«, wie der konservative Mode­rator verächtlich sagte, der den Kampf kommentierte – einige schwere Treffer ab. Dann passierte etwas Unerwartetes. Trudeau kam besser in den Kampf und platzierte immer wieder präzise, harte Schläge. Der toughe Brazeau begann aus der Nase zu bluten, war verwirrt und bald zu erschöpft, um auf seine Deckung zu achten. Er entging nur knapp einer K.-o.-Niederlage. Der Kommentator erkannte die höhere Bedeutung des Moments und seufzte: »Ich kann die Sprechchöre schon hören: ›Trudeau ist unser neuer Anführer.‹«

An einem Spätherbsttag treffe ich Trudeau erneut in Ottawa und begleite ihn in einem Limousinenkonvoi der besonderen Art: Die schwarzen SUVs fahren ohne Polizeieskorte, beachten das Tempolimit und halten an Ampeln. Das Ganze wirkt wie ein Sketch, der sich über die übertriebene Höflichkeit der Kanadier lustig machen will. Wir sind auf dem Weg zu einem Stadion, in dem Trudeau vor 16 000 Jugendlichen sprechen wird, die sich für die NGO Free the Children engagieren. In einem symbolischen Akt hat sich Trudeau selbst zum Jugendminister ernannt, um den Posten aufzuwerten.

War der Boxkampf nur PR? Trudeau sagt: »Ich wollte zeigen, dass ich bereit bin, hart zu arbeiten.«

Ich frage den Premierminister, ob der Kampf gegen »Schlagring« Brazeau Teil eines größeren Plans war. Trudeau blickt aus dem Fenster, denkt einen Moment lang nach, dreht sich zu mir um und deutet ein Nicken und schlaues Lächeln an – er kennt die Macht von Symbolen. »Ein bisschen«, sagt er, »ich wollte den Leuten zeigen, dass ich bereit bin, hart zu arbeiten, wenn ich etwas erreichen will, und dass man mich nicht unterschätzen sollte – das tun sie nämlich oft.«

Ein Jahr nach dem Kampf wählten ihn die Liberalen zum Parteivorsitzenden, weitere zwei Jahre später wählten ihn die Kanadier zum Premierminister. Schon in den ersten Wochen zeigte sich, dass er eine ambitionierte Agenda verfolgt: Er kündigt große Infrastrukturprojekte an, um das Wirtschaftswachstum zu fördern, er will die Kinderarmut bekämpfen, Marihuana legalisieren und den Klimawandel aufhalten. Wenn man ihn fragt, wie seine politischen Prioritäten aussehen, betont er, dass er die Steuern für das reichste Prozent der Bevölkerung erhöhen und die Mittelschicht entlasten wolle, auch wenn dies in Kombination mit den teuren Infrastrukturprojekten bedeute, dass er neue Schulden machen müsse – was in Kanada, in dem finanzpolitische Redlichkeit als große Tugend gilt, ziemlich mutig ist. Aber er scheint überzeugt, dass es nur so weitergehen könne. »Selbstbewusste Länder müssen in die Zukunft investieren.«

Angesichts des Leidens in Syrien kündigte Trudeau an, Zehntausende Flüchtlinge in Kanada aufzunehmen – und holte die ersten Ankömmlinge persönlich am Flughafen ab. Diese Politik hat er auch nach den IS-Attentaten von Paris nicht geändert. Aber klar ist auch: Hätten islamische Terroristen vor der Wahl in Montreal oder Winnipeg zugeschlagen, wäre alles wohl ganz anders gekommen – was zeigt, wie fragil die demokratischen Institutionen im Zeitalter des Terrors sind. »In Kanada ist kein Platz für eine Politik der Angst«, sagt Trudeau und erzählt eine Geschichte: »Vor einiger Zeit wurde eine Moschee im Städtchen Cold Lake im Bundesstaat Alberta mit Graffiti beschmiert. Es gibt kaum eine konservativere Region in Kanada. Aber am Tag darauf kam die ­gesamte Gemeinde zusammen und hat geholfen, die Schmierereien zu ent­fernen.« Und weiter: »Länder, in denen eine Sprache, Religion oder Kul­tur die vorherrschende ist, haben Probleme, Menschen mit anderem Hintergrund zu integrieren. In Europa gibt es immer noch typische und untypische Bürger. In Kanada ist das anders.« Trudeaus radikalste Idee ist vielleicht, dass Kanada eine neue Art von Staat sei, da es sich weniger durch seine europäische Geschichte definiere als durch seine multi­ethnische Gegenwart: »In Kanada gibt es keine Leitkultur und keinen Mainstream«, behauptet er. »Es gibt nur geteilte Werte wie Offenheit, Respekt, Solidarität, Gerechtigkeitssinn, Empathie und Arbeitsmoral. Wir sind der erste postnationale Staat.«

Justin Trudeau ist mit Limousinenkonvois und prächtigen Büros aufgewachsen – aber erst jetzt steht er selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er steigt aus dem schwarzen SUV aus und freut sich sichtlich auf das Bad in der jugendlichen Menge. Er wirkt aber auch wie ein Mann, der gerade erst am Beginn einer großen, aufregenden Reise steht, ­deren Ausgang ungewiss ist. »Es ist toll, dass ich jetzt auf der weltpolitischen Bühne angekommen bin«, sagt er, »ich glaube, die Menschen realisieren langsam, dass ich wirklich bereit bin für den Job.«

Dieser Text ist in derAusgabe 03/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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