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Wissen Sei bitte nicht du selbst

Illustration von Johanna Noack zum Thema "Intrige"
Gute Intrigen kennen wir eigentlich nur noch aus Hollywood-Filmen
© Illustration: Johanna Noack
Lange träumten wir von einem Job, in dem wir authentisch sein können. Aber das hat nur dazu geführt, dass wir ausgenutzt wurden. Ein Plädoyer für mehr Intrigen und Verstellung im Büro.

Text: Lars Weisbrod | Illustrationen: Johanna Noack

Es gibt Beleidigungen, auf die wartet man sehnsüchtig sein ganzes Leben. Mich hat zum Beispiel noch nie jemand intrigant genannt. Wenn es darum geht, in Hinterzimmern fiese Komplotte zu schmieden und meine Kollegen und Bekannten gegeneinander auszuspielen, bin ich schrecklich ungeschickt. Dabei fände ich es toll, wenn mir mal jemand »mieses Intrigantentum« unterstellen würde. Intrige – was für ein Wort das schon ist, mit diesem aristokratischen Duft eines vergangenen Jahrhunderts, so stilvoll und böse klingt es.

Dabei ist die Intrige eigentlich nur die überspitzte, dunkle Variante des klugen, taktischen Verhaltens. Und wenn wir ehrlich sind, dann lie­ben wir es auch, Frank Underwood in »House of Cards« dabei zuzuschauen, wie er ganz Washington manipuliert und sich ins Oval Office lügt. Und wir bewundern Ryan Gosling, der in dem oscarnominierten Film »The Big Short« den skrupellosen und schmierigen Investmentbanker Jared Vennett spielt, der – der Plot basiert übrigens auf einer wahren Begebenheit – vor der Finanzkrise 2008 das Unmögliche schafft: Er verdient gleichzeitig an den Spekulationen auf die Immobilienblase und wettet selbst dagegen. Ohne mit der Wimper zu zucken, erzählt er dem einen Investor, dass der Crash niemals kommen werde – und berät den anderen Investor darin, wie er mit dem sicher zu erwartenden Zusammenbruch des Finanzmarkts möglichst viel Geld macht. Gosling als ­Vennett, Kevin Spacey als Underwood, sie beide sprechen in die Kamera, während sie ihr dop­peltes Spiel spielen, und weihen das Publikum in ihre Machenschaften ein. Weil Hollywood weiß, wie aufregend es sich anfühlt, Teil einer gewieften Intrige zu sein.

Die Intrige gehört für uns in den Film

Wenn wir mit unseren Freunden bei einem Cappuccino zusammensitzen und uns über un­sere Jobs unterhalten, kämen wir jedoch nie auf die Idee, jemanden dafür zu loben, wie listig und taktisch klug er vorgeht. Wenn der neue Praktikant gespielt unbeholfen, verführerisch-charmant und zielgenau die Eitelkeiten des Chefs auszunutzen weiß, um an einen Auftrag zu kom­­men, den ein Praktikant eigentlich nicht kriegt – dann finden wir das nicht klug oder mutig, sondern stillos und falsch. Wir haben wenig ge­mein mit den Underwoods und ­Vennetts – nicht zufällig entstammen diese Figuren aus einer anderen Generation. Wir bewundern zwar, wie sie ihre Konkurrenten ausspielen und wie sie es nicht nur schaffen, deren Schwachstellen zu kennen, sondern auch noch Kapital aus diesem Wissen schlagen. In Wirklichkeit, betonen die meisten von uns, verbiete sich so etwas aber natürlich: dieses diabolische, strategische Planen, das kühle und durchkalkulierte Handeln. Weil wir das irgendwie unmoralisch finden und uns auch das Talent dazu fehlt. Das höchste der Gefühle: Mal die ­E-Mails der Kollegen lesen, wenn der Computer eh gerade an ist. Aber wir wissen nicht, wie man die so gewonnenen Informationen nutzt.

Woher kommt es, dass wir zu den Taktiken der Verstellung so ein zwiespältiges Verhältnis entwickelt haben? Und ist uns damit vielleicht ­sogar etwas verloren gegangen? Eigentlich ist daran ja nichts Schlechtes: Mal bewusst Begeisterung heucheln für ein Projekt, das man nicht mag, das einem langfristig aber nützt. Oder den blöden Kollegen aus dem Marketing auflaufen lassen und ihn nicht vorher warnen, dass sein Vor­schlag beim Abteilungsleiter über­haupt nicht gut ankommen wird.

Wissen: Sei bitte nicht du selbst

Unser gestörtes Verhältnis zur großen In­trige und zur kleinen taktischen Spielerei sagt viel darüber aus, wie wir mit dem Thema Ar­beit an sich umgehen. Eine Strategie kann man nämlich meist nur umsetzen, wenn man in der Lage ist, sich im richtigen Moment zu verstellen, sich anders zu geben, als man ist. Der Autor Adam Soboczynksi hat das in dem Buch »Die schonende Abwehr verliebter Frauen«, einer zeitgenössischen Anleitung für das soziale und professionelle Intrigantentum, schön beschrieben. Man müsse, heißt es da, unter anderem folgende Techniken beherrschen, um ge­plant vorzugehen: seine Leidenschaften verbergen, interessiert blicken, nicht zu perfekt schei­nen, auch mal verletzt wirken, moralische Entrüstung bekunden, über Bande spielen. All das setzt jedoch voraus, dass wir unsere Wirkung kontrollieren können, weil »wir uns immerzu inszenieren, inszenieren müssen, um Wünsche, Gedanken, Sehnsüchte auszudrücken«, wie Soboczynski schreibt, weil »wir uns immerzu verstellen«.

Authentizität ist ein falscher Freund

Leider ist die bewusste Verstellung das kras­se Gegenteil des Dogmas, das in unseren Köpfen steckt und auch im Bücherregal und auf Kaffeetassen auftaucht: Sei du selbst! Wir wollen unbedingt echt bleiben, unverstellt, sind authentizitätssüchtig. Nicht nur in der Liebe möchten wir dafür begehrt werden, wer wir wirklich sind, auch im Job wollen wir uns mit jeder unserer Aufgaben zu hundert Prozent iden­tifizieren können und immer für die Skills und die Sensibilität, die unser ureigenes Ich ausmachen, gelobt und geschätzt werden. Das ist der Grund, warum wir auch vor der kleinsten Intrige zurückschrecken. »Das bin nicht ich«, heißt es dann. Was für ein Quatsch.

Wenn man genau hinsieht, ist unser blindes Vertrauen in die Idee der Authentizität nicht ge­rechtfertigt. Was hat sie uns schon gebracht? Nicht allzu viel. Immer öfter merken wir, wie wir über sie stolpern, wie wir uns selbst zu Fall bringen mit dem Wunsch, echt zu bleiben und unsere rohen Leidenschaften ungefiltert in die Welt hinauszuposten. Oder eher: Wir merken, wie jemand unseren Wunsch nach Authentizität gegen uns verwendet und uns manipuliert. Aber wenn man eine Intrige bemerkt, ist es meis­tens zu spät. Das ist die große Kunst.

1999 veröffentlichten die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello das Buch »Der neue Geist des Kapitalismus«, für das sie zahlreiche Managementratgeber analysiert hatten. Die beiden Autoren entdeckten einen Mechanismus, der noch heute wirksam ist: Waren Kategorien wie Kreativität und Authentizität einmal Mittel gewesen, die klassische Erwerbsarbeit im Kapitalismus zu kritisieren (als falsch und unecht), hatte sich das kapitalistische System dagegen im Laufe der Zeit immunisiert: Plötzlich taten Firmen so, als würden sie ihren Mitarbeitern kreative und ­au­thentische Aufgaben überlassen. Es wurden Un­ternehmensphilosophien und Wertekataloge ver­öffentlicht, die ähnlich edel klangen wie die Menschenrechtscharta der UNO und mit denen man sich gerne identifizierte. Die Firmen hatten davon einen großen Vorteil: Wenn man uns bei unserem Glauben an die echte Leidenschaft packt, dann gehen wir völlig in unserem Job auf, machen uns selbst so viel Druck, dass der Arbeitgeber uns gar nicht mehr zu mehr Leistung antreiben muss. Wer wirklich daran glaubt, dass er im Callcenter so freundlich zu den Anrufern ist, weil ihm das Kommunikationstalent in die Wiege gelegt wurde, weil das seinem ech­ten Selbst entspricht, ist ein sehr pflegeleichter Hotlineagent.

Wir machen uns passend für den Job

Wir sollten die Idee, immer und unbedingt wir selbst zu sein, hinterfragen oder am besten gleich aufgeben. Die Authentizitätssucht hat doch paradoxerweise nur dazu geführt, dass wir nie wir selbst sind. Wir passen uns an, wie die Arbeitsmarktsituation es von uns verlangt, wollen dabei aber trotz aller Verrenkungen unbedingt echt sein. Damit stellen wir die Welt auf den Kopf: Statt einen Job zu haben, der zu uns passt, machen wir uns passend für den Job. Als würde ein Chamäleon, wenn es von einem Ast auf ein Blatt wandert und seine Farbe an den neuen Hintergrund anpasst, sich zwanghaft selbst erzählen, dass es sich plötzlich »so grün« fühlt. Das ist zu viel verlangt. Das macht uns verrückt und unglücklich. Dauernd unser ganzes Ich, unsere ganze Person auf den Spieltisch zu werfen, wie Jetons beim Roulette. Un­ser Ich gehört uns. Einen Teil davon sollten wir in der Hinterhand behalten.

Vielleicht müssen wir es mal mit dem Ge­genteil der Authentizität versuchen: der funktionalen Verstellung. Der Reiz an Meistern der Intrige wie Frank Underwood hat auch mit ei­nem psychologischen Phänomen zu tun, das man Selbstwirksamkeitserwartung nennt. Der Begriff stammt von dem kanadischen Psychologen Albert Bandura, der damit den subjektiven Glau­ben an »die eigene Fähigkeit, seine Handlungen so zu organisieren und auszuführen, dass man seine Ziele erreicht« beschreibt. Es ist wichtig, eine gesunde Selbstwirksamkeitserwartung zu haben – ein Mangel dieser Überzeugung kann beispielsweise Symptom einer Depression sein. Das Problem ist nur: Wir alle wissen, dass unsere Wirksamkeit eben nicht nur von uns selbst, unserem Talent und Einsatz­wil­len abhängt, sondern von externen Faktoren, den Ressourcen, die wir haben, den gesellschaft­lichen Kontakten unserer Eltern etwa, oder, noch schlimmer, vom Zufall. Aber gerade weil es so schwer ist, daran zu glauben, man habe die Dinge im Griff, sollten wir uns ein Beispiel am Verstellungskünstler nehmen: Er ist selbstwirksam aufgrund seiner geschickten Täuschungen. Das bedeutet: Wer an die Kraft der Täuschung glaubt, hat bessere Chancen, ein zufriedener Mensch zu sein.

Manchmal sollten wir uns selbst verleugnen

Drehen wir den Spieß um. Die Unternehmen nutzen unseren Wunsch aus, unverstellt zu leben – im Gegenzug verstellen wir uns, täuschen und tricksen. Ja, wir passen uns an – an der Oberfläche. Wir behalten unsere echten Zie­le und Leidenschaften zwar im Auge, wählen aber die Mittel, um sie zu erlangen, taktisch klug aus – egal ob sie zu uns »passen«.

»Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne«, fordert der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in einem Gedicht. Es ist genau diese Pragmatik, die uns fehlt. Deshalb sollten wir keine Ratgeber mit Titeln wie »Reiseführer zum Selbst« lesen, sondern lieber Niccolò Machiavelli, den Philosophen, Politiker und gro­ßen Strategen der italienischen Renaissance. Sein Name steht noch heute für besonders gewieftes Machtdenken. Er forderte, dieeigene Gesinnung nach dem »Wind des Glücks und dem Wechsel der Umstände zu drehen«. Wie der Fürst, an den diese Ratschläge gerichtet waren, sollte jeder Arbeitnehmer »ein großer Lügner und Heuchler sein«. Dass eine Strategie zum Scheitern verurteilt ist, wenn man sich nicht zuweilen selbst verleugnet, lernt man bei dem chinesischen Gelehrten Sunzi, der im fünften Jahrhundert vor Christus »Die Kunst des Krieges« schrieb – die auch von modernen Militärs und Managern gerne gelesen wird. »Je­de Kriegsführung gründet auf Täuschung«, schreibt Sunzi. Keine Schlacht, auch keine im Büro, lässt sich gewinnen, wenn der Gegner weiß, wo man steht und was man vorhat. Wir müssen uns taktisch weiterbilden. Unser Ding zu machen, das hat nicht funktioniert, wir haben dann nur das Ding der anderen gemacht.

Wer intrigiert, ist nicht gleich egoistisch

Klingt alles sehr düster? So wollen wir nicht sein? Hemmungslose Egoisten, völlig entsolidarisiert, jeder im Kampf gegen jeden? Es ist vielleicht der größte Fehler, wenn wir die Kunst der Verstellung mit Egoismus verwechseln. Der Philosoph Charles Fourier war in der Zeit der Französischen Revolution einer der fortschrittlichsten Denker des Landes, früh hatte er den Kapitalismus kritisiert, und er gilt heute als einer der ersten Sozialisten. Fourier war aber auch ein großer Bewunderer der In­tri­ge. Eine Kabale nannte man das damals – ein schönes, edles Wort. »Die Kabale«, schrieb Fourier, befruchte die »feinsten Entwicklungen der menschlichen Fähigkeiten«. Charles Fourier wusste, dass die Kräfte der Kabale nicht notwendigerweise dem Egoismus dienen müssen. Manchmal kann es sogar moralisch geboten sein, ein doppeltes Spiel zu spielen. Warum sollte man zum Beispiel seinem inkompetenten Kollegen immer wieder den Arsch retten und so ein dysfunktionales Verhalten unterstützen? Viel besser ist es doch, wenn man cool dabei zusieht, wie er sich vor dem Vorstand bla­miert. Vielleicht streut man auch ein kleines, feines Gerücht. Das ist fies, gleichzeitig aber ist doch allen geholfen, wenn der unfähige Kollege endlich weg und das Wohl der Firma gesichert ist.

Auch wer ungerechte Verhältnisse abschaffen oder überkommene Werte verändern will, sollte sich im taktischen Denken schulen. Oder anders gesagt: Jedem Akt der Solidarität geht eine Intrige voraus. Es ist Zeit, unser wahres Gesicht nicht zu zeigen.

Dieser Text ist in der Ausgabe 03/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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