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Freizeit Familie Okawara macht weiter

Freizeit: Familie Okawara macht weiter
Erdbeben, Tsunami, Super-GAU vor fünf Jahren wurde Fukushima zum Katastrophengebiet. Dort Gemüse anzubauen, an sich undenkbar. Viele Bauern gaben auf, ein Biohof nicht.

Text: Marco Maurer | Fotos: Enno Kapitza

Und plötzlich ist da dieser giftige Gedanke, von dem hier auf diesen Feldern fast jeder Mensch befallen wird. »Esst nicht davon, rührt’s auch nicht an, dass ihr nicht sterbt«, flüstert es tief in einem drin, als der 1,60 Meter große Bauer Shin Okawara den Apfel vom Baum schraubt und einem in die Hände drückt – dabei lächelt der 60-Jährige freundlich, seine Wangen sind von der Feldarbeit apfelrötlich gefärbt. Der Bauer bemerkt den Moment des Zögerns nicht, er widmet sich wieder der Morgenernte, das telefongroße Transistorradio, das er an der Hüfte trägt, spielt Mozarts Requiem in d-Moll. Es ist auch gut so, dass er den giftigen Gedanken, der sich im Kopf des Besuchers einnistet, nicht wahrnimmt, denn das könnte die bis dato positive Beziehung belasten. Aber so ist das hier, jeder muss sich irgendwann entscheiden zwischen Vertrauen und Abweisung. Dann blickt man auf die kräftig gewachsenen Apfelbäume, in denen zwei Dutzend Spinnennetze im Morgenlicht glitzern, spürt die schwere Frucht in der Hand, sieht den Tau darauf, beißt zu.

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Der Apfel schmeckt nicht nach Supermarktnichts, sondern sauer, erdig und nach frischer Luft. Herrliches Bio-Obst. Auch die Tomaten, der Reis und die Kürbisse schmecken wunderbar. Man sieht es nicht, man schmeckt es nicht, doch die Bioprodukte der Okawaras sind befallen, von Zweifel und Angst, aber vielleicht auch von etwas Tödlichem.

Die Okawaras leben in einem 1000-Einwohner-Dorf in Westjapan. Seit sechs Generationen bewirtschaften sie ihr Land, das archengleiche Bauernhaus ist 145 Jahre alt. Anfang der 1980er Jahre, Shin war damals Mitte zwanzig, stieg er gemeinsam mit seiner ein Jahr älteren Frau Tatsuko auf biologische Landwirtschaft um. Um gute Biolebensmittel zu ernten, sagen sie, müsse man dem Boden seine Seele lassen und ihn Tag für Tag bearbeiten und pflegen, jahrzehntelang, man müsse eins werden mit den Feldern. Shin und Tatsuko Okawara haben drei Töchter und zwei Söhne, aber eigentlich haben sie noch ein weiteres Kind: ihren Hof.

Die Region, in der sie ihre Felder bestellen, galt lange Zeit als Reis- und Gemüsekammer Japans. Die dort angebauten Lebensmittel wurden nicht nur auf den Märkten im drei Stunden entfernten Tokio verkauft, sondern auch in China, Taiwan und auf den Philippinen. Der gute Ruf der Region reichte von der nördlichsten Präfektur Japans, Hokkaido, bis nach Okinawa im Süden und garantierte den Landwirten ein gutes Auskommen. Auch heute kennt man den Namen der Region in der ganzen Welt. Das Problem ist nur, dass die Menschen seit dem 11. März 2011 nicht mehr an Reis, Shiitakepilze und Kürbisse denken, wenn sie hören:

Made in Fukushima

Hergestellt in Fukushima

福島産

An einem Freitag um 14.46 Uhr veränderte sich die Gegend um Fukushima für immer. Als die Erde anfing zu beben, schlug Shin gerade Holz in einem kleinen Waldstück. Erst knirschte es, dann bewegten sich die Bäume, als würden sie versuchen, zu flüchten, dann hörte Shin ein lautes Krachen. Er lief auf eine Lichtung, um nicht von herabstürzenden Ästen erschlagen zu werden. Ein paar Kilometer entfernt schaukelte das Auto von Tatsuko wie ein Boot auf hoher See, die Straße zerbrach in drei Teile, rund drei Minuten lang wurde sie durchgeschüttelt. Dann kurvte sie den Wagen zwischen umgefallenen Bäumen und aufgeplatzten Straßenteilen hindurch zurück zum Hof. Um kurz nach 15 Uhr trafen sich die Eheleute dort das Erdbeben war vorbei, nun dachten sie beide zum ersten Mal an das 39 Kilometer entfernte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi.

Das AKW in der Nähe ihres Hofs hatte die Familie schon immer beunruhigt. Als 1986 das sowjetische Atomkraftwerk in Tschernobyl explodierte, hatte Tatsuko einen Geigerzähler gekauft, der nun, fast dreißig Jahre später, zum wertvollsten Werkzeug wurde. Sie stellten das kleine Gerät auf den Fernseher, der Tag und Nacht lief und die Nachricht verbreitete, dass ein Erdbeben zum Tsunami und ein Tsunami zu einer der schlimmsten atomaren Katastrophen der Geschichte geworden war: Ein Super-GAU, der größte anzunehmende Unfall, war eingetreten. Vier Tage blieb der Zähler still, dann schrillte plötzlich der Alarm. Das Display zeigte eine radioaktive Belastung von neun Millisievert pro Stunde an, der Normalwert liegt zwischen 0,03 bis 0,08 Millisievert. Eine radioaktive Wolke näherte sich dem Hof. Die Okawaras packten Shins 84-jährige Mutter, Kleidung und Lebensmittel in ihr Auto und fuhren in die nächstgelegene größere Stadt, Koriyama City. Dort waren die Strahlenwerte niedriger. Ein langjähriger Kunde nahm sie bei sich auf, die ganze Nacht diskutierten sie, was zu tun sei. Shin sorgte sich um seine Kühe, schlief keine Sekunde. Tags drauf fuhren sie zurück und blieben, nur wenige Kilometer von der Sperrzone entfernt.

Man kann erahnen, wie sehr diese Tage im März das Leben der Okawaras erschütterten, wenn man weiß, dass sich die Bauern sicher sind, am Geschmack eines Reiskorns erkennen zu können, ob es von einer Maschine oder von Hand geerntet wurde. Sie glauben daran, dass alles auf der Welt eine Seele besitzt und das natürliche Gleichgewicht bewahrt werden muss. »Die Landschaft«, sagt Shin, »war im Lot, war ruhig und wunderschön. Aber von der einen auf die andere Sekunde änderte sich alles.«

Der japanische Ausdruck für den Horrortag lautet »San Ichi Ichi«: 3/11, der 11. März. In den Nachrichten sah man Bilder wie aus einem Katastrophenfilm, eine riesige Welle, die ganze Städte fortschwemmt, die explodierenden Reaktorblöcke, panisch flüchtende Menschenmassen, zerstörte Gebäude und Brücken, Straßen und Autos. Die Welt lag in Trümmern und die Arbeiter des Atomkraftwerks riskierten ihr Leben, um die ausweichende Radioaktivität einzudämmen. Vorübergehend schien gar eine Evakuierung von Tokio, der größten Stadt der Welt, notwendig. Ganze Landstriche und Städte wurden auf Jahrzehnte verstrahlt. Die Schreckensbilanz: 16 000 Tote, rund 3000 Vermisste und rund 200 000 Menschen, die ihr Obdach verloren hatten. Was ihnen und den Okawaras blieb: ein unruhiger Schlaf und stets die Frage, wie das Leben nur weitergehen soll.

Heute, fünf Jahre später, gilt Fukushima nicht mehr als Reiskammer Japans. Stattdessen streicht das Kreativteam der Videospielreihe »Fallout« durch die Gegend, um sich für die neueste Folge der Endzeitsimulation inspirieren zu lassen. Die Okawaras sind immer noch da, weil sie ihren Hof, ihr Kind, nicht im Stich lassen konnten. Ein Biobauernhof in der Nähe der atomaren Sperrzone.

Um die Folgen der Katastrophe zu verstehen, muss man sich dem AKW Fukushima nicht nähern, es reicht, einen Blick auf die Kundenlisten der Okawaras zu werfen. Vor dem 11. März 2011 ließen sich 48 Kunden jede Woche eine Gemüsekiste nach Hause schicken, heute sind es sechzehn. Der Gewinn ist von 45 Millionen Yen pro Jahr auf 25 Millionen gesunken es fehlen vierzig Prozent, etwa 18 000 Euro. In den ersten Jahren füllte der Energiekonzern Tepco noch die Kasse auf. Doch die Entschädigungszahlen sinken, derzeit zahlt Tepco ihnen 5000 Euro jährlich.

Freizeit: WENIG GRUND FÜR GUTE LAUNE: In der Stadt Tamura leben 40 000 Menschen. Der Pausenhof der Grundschule ist trotzdem verwaist.
WENIG GRUND FÜR GUTE LAUNE: In der Stadt Tamura leben 40 000 Menschen. Der Pausenhof der Grundschule ist trotzdem verwaist.

In der Präfektur Fukushima bedeckte der radioaktive Fallout jedoch nicht nur Dächer, Wälder und Felder, reicherte sich in Auberginen und Reiskörnern an, sondern legte sich auch auf die Beziehungen und die Gefühle der Menschen. Wo einst Vertrauen war, ist plötzlich nur noch Angst. Giftige Gedanken. Eine soziale Kernspaltung. »Gibst du deinen Kindern noch immer Reis von diesem Hof zu essen?«, wurde Tatsuko ein Jahr nach San Ichi Ichi von einer Freundin gefragt. Die Bäuerin hörte keine besorgte Nachfrage, sondern eine fundamentale Kritik an ihrer Existenz. Die Freundschaft zerbrach. Ein Kunde schrieb den Okawaras: »Biogemüse? Auf diesem Hof? Sind Sie sich sicher, dass Sie hier noch etwas Gesundes produzieren? Ist es nicht eher Gift?«

Eine Karotte kann mehr Cäsium 137 als Carotin enthalten und würde in Deutschland noch ein Biosiegel bekommen. Denn: Anders als der Verzicht auf Gentechnik und bestimmte Pestizide ist die radioaktive Belastung einer Karotte nicht Teil des Kriterienkatalogs. Nach dem Super- GAU gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Biobauern und konventioneller Landwirtschaft alle Lebensmittel können töten.

Bei dem Reaktorunglück in Fukushima wurden große Mengen Cäsium 137 freigesetzt, das sich in Wasser, Böden und auch Biokarotten ansammelt. Würde man eine verstrahlte Karotte essen, würden sich die Cäsium-Isotope in Muskel-, Nieren-, Leber-, Knochenzellen und sogar im Blut anlagern. Je nach Schwere der Verstrahlung können Menschen innerhalb weniger Tage sterben oder sie erliegen Jahrzehnte später einer schweren Krankheit; Frauen und Männer können unfruchtbar werden, die Zahl von Fehlgeburten steigt. Cäsium 137 hat eine Halbwertszeit von dreißig Jahren. In bayerischen Wäldern wachsen noch heute radioaktiv belastete Pilze. Die Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl sind auch nach Jahrzehnten noch messbar.

Freizeit: Der Alltag in Fukushima hat sich für immer verändert. Darf man seine Wäsche noch im Freien trocknen? Ist es gefährlich, Holz aus der Region auf der Feuerstelle zu verbrennen?
Der Alltag in Fukushima hat sich für immer verändert. Darf man seine Wäsche noch im Freien trocknen? Ist es gefährlich, Holz aus der Region auf der Feuerstelle zu verbrennen?

Der moderne Mensch muss sich nicht mehr vor Dürreperioden und Raubtieren fürchten, sondern vor dem Fallout seiner eigenen Ideen. Die Radioaktivität, unsichtbar und so gefährlich, zeigt uns, dass wir unsere Technik nicht zu hundert Prozent kontrollieren können. Japan ist eigentlich eine technikgläubige und zukunftsorientierte Gesellschaft. Hier hatte es, anders als in Deutschland, nie eine breite Anti-AKWBewegung gegeben trotz oder womöglich sogar wegen der Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki. Die Angst vor Verstrahlung und der Zerstörungskraft der Nuklearenergie wurde in Japan verdrängt. Zwar wurden nach Fukushima alle AKWs abgeschaltet. Doch seit vergangenem Sommer sind die ersten wieder in Betrieb, für gut zwanzig weitere Reaktoren haben die Betreiber die Wiederzulassung beantragt obwohl das sechzig Prozent der Japaner ablehnen.

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Eigentlich dürfte auf den Feldern der Okawaras keine Landwirtschaft mehr möglich sein aber sie hatten einen Beschützer. Fünf Kilometer vom Hof entfernt ragt der Berg Kuroishiyama empor, der mit einer anderen Bergkette nach San Ichi Ichi einen Schutzwall bildete und die radioaktiven Wolken aufhielt. Der Wind, der damals aus Nordwesten wehte, blies die giftige Luft weiter, in Richtung des Dorfes Iitate etwa, einem Ort, der weiter entfernt von den Reaktoren ist als die Heimat der Okawaras und doch viel stärker verstrahlt wurde. Entgegen den Protesten von Forschern will die japanische Regierung Iitate ab 2017 wieder besiedeln. Der Anbau von Lebensmitteln aber soll verboten bleiben.

Knapp einen Monat nach der Kernschmelze erschienen vier Wesen in weißen Ganzkörperanzügen auf dem Hof. Die Greenpeace-Wissenschaftler schützten sich durch akkurat sitzende Atemmasken und doppelt übereinandergezogene Handschuhe gegen eine mögliche Gefahr. »Unser Land ist jetzt Tschernobyl«, dachte Tatsuko. Die weißen Wesen untersuchten Spinatblätter und nahmen Bodenproben, nach vierzig Minuten waren sie verschwunden. Elf unerträglich lange Tage begannen, während derer sich die Okawaras wie zwei liebende Eltern fühlten, die nicht wissen, ob ihr Kind eine schwere Krankheit überleben wird. Dann klingelte das Telefon. Eine Frauenstimme sagte Tatsuko, sie hätten Glück gehabt, die Werte ihrer Felder seien gut. Die Stimme sagte: »Das hat uns überrascht.«

Das Überleben des Hofs schien wieder möglich. Drei Monate später, im Juli, packten die Okawaras ihr Auto randvoll mit ihrer ersten Ernte, fuhren in das Zentrum von Fukushima City und ließen das Gemüse testen.

Tomaten: zwölf Becquerel pro Kilo Zwiebeln: sieben Karotten: vier. Gute Werte.

Die radioaktive Belastung von Lebensmitteln wird in Becquerel angegeben. In Deutschland sind 600 Becquerel pro Kilogramm erlaubt, bei Säuglingsnahrung ist der Höchstwert bei 370 Becquerel festgesetzt. In Japan liegt die Grenze wesentlich niedriger: hundert Becquerel.

Die Okawaras entschieden sich, transparent mit diesen Informationen umzugehen. Doch am Ende kaufen nicht Forscher bei ihnen ein, die sich auf Statistiken und Messwerte verlassen, sondern Menschen, die auf ihr Bauchgefühl hören. Und das Bauchgefühl sagt: Obst aus Fukushima? Nein danke! Es traf die Biobauern hart, als sie realisierten, dass »福島産« »Made in Fukushima« vom Qualitätsmerkmal zum Stigma geworden war. Seit 2011 haben viele Bauern aufgegeben, sind in andere Präfekturen gezogen oder arbeiten in Fabriken. Stillgelegte Bauernhöfe gibt es viele. Vor allem Shiitakebauern haben es schwer. Die industrielle Landwirtschaft setzt in der Region Fukushima seither auf Salatköpfe, die in Reinräumen angepflanzt werden. Kurz nach sechs Uhr morgens auf dem Hof der Okawaras: Shin setzt eine Baseballmütze auf und schlüpft in seine schwarzen Gummistiefel. Dann kümmert er sich um die Reisernte, sticht Karotten aus der Erde, pflückt Tomaten oder dreht, wie heute, Äpfel von den Bäumen, legt sie behutsam in kleine Körbe und trägt sie in den Ernteraum. Die Okawaras machen weiter, ganz vorsichtig: So verzichten sie zum Beispiel auf Gemüsesorten wie Kohl und Spinat, die besonders viel Cäsium anreichern, und bauen nur noch kurze Karottensorten an, weil die längeren tiefer in der Erde stecken und womöglich mehr Cäsium 137 aufnehmen könnten. Sie selbst essen nur noch geschälte Karotten.

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Shin schaut nach den Hühnern, säubert ihr Gehege, gibt ihnen frisches Wasser, grüßt Mochi, den Hund, und geht in den Stall zu den beiden Kühen. Auch hier Routine: Säubern, Füttern, Streicheln, Gatter öffnen, raus auf die Weide! Die eigentliche Arbeit ist getan. Doch seit fünf Jahren stellt sich Shin jeden Morgen an eine Stelle hinter den Gewächshäusern, zückt seine Kamera und fotografiert einen Berg. Kuroishiyama. Shin ehrt den Lebensretter der Familie.

Freizeit: Biobauer Shin Okawara, 60, hat während der morgendlichen Arbeit auf den Feldern und in den Ställen immer ein kleines Radio dabei und hört Klassik.
Biobauer Shin Okawara, 60, hat während der morgendlichen Arbeit auf den Feldern und in den Ställen immer ein kleines Radio dabei und hört Klassik.

Tatsuko bereitet in der Zwischenzeit das Frühstück zu, Miso-Suppe, Fisch, Fleisch, gebratenes Gemüse, viel Reis. In der Küche hilft ihr Shins alte Mutter, die so viele Falten im Gesicht hat, wie es Bäume im Wald gibt. Um sieben Uhr setzen sich alle Familienmitglieder, die auf dem Hof leben, an den Küchentisch. Ein Ritual. Jeder der fünf Okawaras hat seinen festen Platz, sein eigenes Paar Stäbchen und seine Teeschale. Neben der Großmutter, Shin und Tatsuko sitzen auch die 25-jährige Tochter Kokoro und der älteste Sohn am Tisch: Kai, 29 Jahre. Er wird den Hof bald von seinem Vater übernehmen und hat, so erzählt er, nie darüber nachgedacht, aufzugeben. Aber als er das erste Mal nach San Ichi Ichi wieder auf den Hof kam, gibt er dann zu, hat er kurz gezögert, bevor er in eine Karotte biss: »Ich kann nicht sagen, dass ich nichts gedacht habe.«

Kai, der ein bisschen aussieht wie ein unausgeschlafener Kirmesboxer, erhebt sich stets als Erstes vom Tisch und geht in ein Gebäude, dass die Okawaras »Kabocha« Kürbishäuschen nennen. Dort fährt er einen Computer hoch, zieht sich Einweghandschuhe an und presst Reiskörner in einen kleinen Stahlbehälter, den er in ein Gammaspektrometer stellt. Lautlos misst das 13 000 Euro teure Gerät, das die Biobauern von einer NGO bekommen haben, die Verstrahlung der Ernte.

1800 Sekunden zählen auf dem Bildschirm herunter, dann: »Not detected«, keine erhöhten Werte. Kai, ein studierter Agrarwissenschaftler, trägt fein säuberlich das Datum, die Versuchsnummer und das Testergebnis in eine Excel-Tabelle ein. Die Okawaras verkaufen nur Lebensmittel an ihre Kunden, die weniger als zwanzig Becquerel pro Kilo aufweisen. Noch gestern, erzählt Kai, habe er die Walnüsse eines Nachbarn getestet: vierzig Becquerel. Er schüttelt den Kopf. Würden die Okawaras weder verkaufen noch essen.

Nach dem Frühstück arbeiten Tatsuko und Shin im Ernteraum, zählen Tomaten, wiegen Karotten und packen das Gemüse in kleine Säckchen. Dann geht Shin zurück aufs Feld: Die Reisernte wartet. Tatsuko verfrachtet die abgepackte Ware ins Auto und fährt in das knapp zehn Kilometer entfernte Städtchen Miharu. Felder, Hügel, dichte Nadelwälder ziehen am Auto vorbei, mal schlängelt sich ein Bach am Wegesrand, mal ergießt sich ein kleiner Wasserfall von den Hängen.

Ihr Ziel: das Esperi, ein Café und Gemüsegeschäft, das Tatsuko im Sommer 2013 eröffnet hat. In der Kunstsprache Esperanto bedeutet »Esperi«: Hoffnung. Wie schwer es ist, diese manchmal nicht zu verlieren, zeigt die Tatsache, dass Tatsuko zum Kaffeekochen nicht Leitungswasser verwendet, sondern Mineralwasser aus Flaschen, die sie an einer Tankstelle kaufen muss. Einer ihrer Kunden, der für den AKW-Betreiber Tepco arbeitet und lange Zeit für die Strahlenmessung in den Sperrzonen Fukushimas zuständig war, hatte ihr am Tag zuvor verraten, dass das Leitungswasser des Ladens aus einer Quelle stamme, die derzeit stark radioaktiv belastet sei.

Freizeit: TRADITION UND ZUKUNFT: Das Haus der Okawaras ist 135 Jahre alt. Der Berg Kuroishiyama, der im Hintergrund zu sehen ist, hielt die radioaktive Wolke auf.
TRADITION UND ZUKUNFT: Das Haus der Okawaras ist 135 Jahre alt. Der Berg Kuroishiyama, der im Hintergrund zu sehen ist, hielt die radioaktive Wolke auf.

Ein paar Kilometer entfernt sitzt Herr Otomo 54 Jahre alt, grauer Anzug, Brille, dicke silberne Uhr in einem turnhallengroßen Besprechungsraum des Rathauses von Tamura, wo knapp 40 000 Einwohner leben. Das raumschiffgleiche Gebäude ist nagelneu, viel Stahl, Beton und Neonlicht. Herr Otomo ist zuständig für die Entwicklung der Stadt Tamura, zu der fünf Gemeinden und auch der Hof der Okawaras zählen. Herrn Otomos Assistentin schenkt Wasser aus einer lokalen Quelle ein, während ihr Chef schwört, dass seine Heimat eine »ganz gewöhnliche Region« sei. Denn hier werde schließlich jedes einzelne Reiskorn auf Radioaktivität getestet. »Wo gibt es das sonst?« Herr Otomo sieht die Welt ganz ähnlich wie die japanische Regierung: Das AKW habe man unter Kontrolle, die Region Fukushima werde zu alter Blüte finden, alles ist gut oder wird es bald werden. Im Jahr 2020 finden in Tokio die Olympischen Spiele statt, einige Wettbewerbe sollen auch in Fukushima ausgetragen werden. Die größte Fluggesellschaft Japans, All Nippon Airways, serviert auf ihren Flügen Produkte aus Fukushima. Aber auch die beste Imagekampagne hilft nicht bei der Dekontamination. Dass nach wie vor täglich 300 Tonnen verseuchtes Wasser verdünnt in den Pazifik geleitet werden müssen und dass viele Familien um ihr Überleben kämpfen, spielen die Regierung und Herr Otomo jedoch herunter. Das größte Problem in Tamura sei ein anderes: »Früher gab es ein Einkaufszentrum in Futaba. Das war sehr beliebt bei unseren Bürgern. Einkaufen können wir dort leider nicht mehr.«

Die Bundesstraße 288 führt auf direktem Weg von Tamura nach Futaba; eine surreale Fahrt ins Sperrgebiet, die auf apokalyptische Art und Weise schön ist. Überwucherte Felder, wilde Pflanzen, verlassene Erntemaschinen, herumlungernde Füchse. Erst fünf Kilometer vom zerstörten AKW entfernt muss man einen Kontrollpunkt passieren. Die Wachleute sind überraschend höflich. In Futaba: Tankstellen, Fischgeschäfte, Spielplätze, Friseurläden, Straßenzüge aber: keine Menschen. Die ganze Stadt liegt verlassen da und wird von Gestrüpp, Schlingpflanzen und Hunden erobert. Überall liegen schwarze, heuballengroße Plastiksäcke, die mit verstrahlter Erde gefüllt sind. An einem Bauernhaus zeigt das Messgerät 92,68 Millisievert pro Stunde an. Normal sind 0,1 Mikrosievert pro Stunde. Lange sollte man hier nicht bleiben.

Freizeit: Tatsuko (li.) und Shin (re.) mit ihrem Sohn Kai und der 84-jährigen Großmutter. Die Okawaras haben insgesamt fünf Kinder aber die Felder des Biobauernhofs gehören auch zur Familie.
Tatsuko (li.) und Shin (re.) mit ihrem Sohn Kai und der 84-jährigen Großmutter. Die Okawaras haben insgesamt fünf Kinder aber die Felder des Biobauernhofs gehören auch zur Familie.
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Im Esperi riecht es zur Mittagszeit nach Gebratenem. Tatsuko steht hinter der Holztheke und serviert zwei Gästen einen Eintopf aus selbst angebauten Tomaten und Süßkartoffeln. Für den Kaffee verwendet sie das französische Mineralwasser von der Tankstelle. Das Geschäft unterscheidet sich nur wenig von den Bioläden im Prenzlauer Berg, viel Selbstgemachtes, -gestricktes, -bemaltes; Anti-Atomkraft-Bilder, Protestbuttons und hübsch getöpferte Teeschalen. Kleine Kürbisse, mit Krimskrams gefüllte Trögchen und Schälchen. Natürlich aber vor allem Holzkisten und Körbe voller Gemüse. Alle zehn Minuten hält ein Auto vor der Tür. Nachbarn und Künstler kommen vorbei, Wissenschaftler, Ärzte, Aktivisten, Tepco-Arbeiter und natürlich die Landwirte der Region. Auch die ehemalige Shiitake-Bäuerin Frau Munakata ist da, deren 60 000 Holzblöcke, auf denen diese Pilze gedeihen, vernichtet werden mussten. San Ichi Ichi, erzählt sie, sei in der Region lange ein Tabuthema gewesen. Die Menschen sprachen nicht darüber. 2013 wurde sogar ein Gesetz beschlossen. Personen, die sensible Informationen, zum Beispiel über das AKW Fukushima, an die Öffentlichkeit geben, drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Weil sich die Leute im Esperi nicht um solche Gesetze scheren, ist der Ort zu einem inoffiziellen Begegnungs- und Informationszentrum geworden. Während San Ichi Ichi Bindungen zerstörte, hilft das Esperi, welche zu knüpfen. Frau Munakata erfährt gerade von einer Altaktivistin, dass es am AKW ein Rohr geben soll, das so rostig und undicht und gefährlich ist, dass es die Tepco-Arbeiter nur mit Ferngläsern beobachten. Ungläubiges Lachen. Tatsuko hört von Krebserkrankungen in den Dekontaminationsteams und sexuellen Übergriffen der frustrierten AKW-Arbeiter. Eine Übersetzerin erzählt von einem weiteren Selbstmord eines Bauern. Ein AKW-Arbeiter berichtet von vergifteten Quellen. Fakten und Gerüchte lassen sich kaum trennen. Aber das ist den Leuten egal. »Jede Information kann dein Leben retten«, sagt Tatsuko, »man muss zuhören und sich überlegen, ob man sein Verhalten ändern sollte.« Die Angst vor der Kontamination ist überall: Die Leute essen zum Beispiel keinen japanischen Fisch mehr, sondern greifen zur Supermarktware aus Südamerika. Spielplätze werden geschlossen, die Okawaras heizen nur mit importiertem Holz, obwohl sie einen Wald besitzen. Strahlenarmes Holz ist zu teuer, die Feuerstelle bleibt oft kalt.

19 Uhr, langsam wird es dunkel. Tatsuko ist schon müde, aber die Arbeit ist noch nicht getan. Aus einem Tisch und zwei schwarzen Tüchern baut sie eine Bühne für ein Puppentheater auf, eine Leidenschaft, die sie mit Shin teilt. Sie treten in Schulen und in Gemeindezentren auf, auch um ein bisschen Geld zu verdienen. Der Hof und der Laden werfen nicht genug ab. An diesem Tag schauen nur sechs Personen zu.

Tatsuko erweckt zwei hölzerne Puppen mit ihren Händen zum Leben, Shin spielt Gitarre. In fünf Akten erzählt Tatsuko eine Geschichte, die vielen im Publikum bekannt vorkommt. Die Puppen heißen Taro und Hanako, ein Bauer und seine Frau, eine dreißig Jahre währende Liebesgeschichte: der erste Blick, der erste Kuss, das erste Kind, Frieden und Natur, und dann: ein Knall! Fallout. Verzweiflung, Angst und Leere. Zwei der Bauern im Publikum weinen. Tatsukos Stimme bricht während des Stücks kurz weg, sie kennt sich aus mit dunklen Momenten. Im Herbst 2013, wenige Monate nachdem sie das Esperi eröffnet hatte, drückten sie die Schulden, und in der Ehe mit Shin gab es eine Situation, die auch ohne nukleare Katastrophe schwer zu verkraften gewesen wäre. Tatsuko fing daraufhin an zu trinken, um abends einschlafen zu können, dachte: »Zeit, zu gehen, bring dich lieber um.« Radioaktivität, diese unsichtbare Kraft, raubt vielen Menschen den Halt.

Die Geschichte von Taro und Hanako endet tragisch, sie verlieren erst ihre Pilze, dann ihre Träume und Enkel. Ein düsteres Theaterstück. Bei Tatsuko kam es jedoch anders, die vielleicht stärkste Bindung wurde nicht gespalten, die Liebe der Mutter zu ihren Kindern. »Ich wollte nicht, dass sie weinen«, sagt sie. Dieser Gedanke rettete ihr Leben. Auch die Beziehung zwischen Shin und ihr verbesserte sich wieder. Kai, der älteste Sohn, wird in diesem Jahr eine Bioladenbesitzerin heiraten, die achte Generation wird erwartet.

Cäsium 137 hat eine Halbwertszeit von dreißig Jahren. Die Liebe der Okawaras scheint beständiger zu sein.

Dieser Text ist in derAusgabe 03/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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