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Das Gute und das Böse Wir tun alle verbotene Dinge. Wie kriminell bist du wirklich?

Thema: Wie kriminell bist du? Die Nahaufnahme eines Mannes, der seine Hand vor sein Gesicht hält.
Wie kriminell bist du? Jeder von uns hatte wohl schon mehr als einen Grund, sich zu schämen. 
© Ryan Lowry
Wir sind Schwarzfahrer, Verkehrssünder, Kiffer. Immer wieder missachten wir Regeln. Ist das wirklich so schlimm?

Das erste Auto, das ich stahl, war eine rote Corvette. Fiel keinem auf. Ich war damals ein Kleinkind und die Corvette ein Spielzeug von „Hot Wheels“. Es lag auf dem Tresen im Foyer des Kindergartens. Meine Mutter, wenige Meter entfernt, sprach mit der Kindergärtnerin. Sie waren abgelenkt. Die Corvette glänzte. Ich griff zu. Zu Hause gestand ich. Und bereute zum ersten Mal in meinem Leben.

Ein Jahr später bekam ich ein ferngesteuertes Auto geschenkt. Ich nahm es überallhin mit. In den Kindergarten. Auf den Spielplatz. Nur in die Kirche durfte es nicht, musste vor der Kirchentür warten. An einem Sonntag war es weg. Jemand hatte es geklaut. Während ich weinte, erinnerte ich mich an das Glänzen der roten Corvette. Mein erstes geklautes Auto blieb mein einziges. Was als Spielzeug hergestellt worden war, wurde für mich zu einem Mahnmal. Es steht heute dafür, wie ich nicht sein will. Es steht aber auch für den Reiz des Verbotenen.

Regelbrüche definieren unsere Grenzen und Werte

Wenn wir Regeln brechen, loten wir unsere Grenzen aus. Wir lernen etwas über uns selbst. Über Werte, die uns wichtiger, und Werte, die uns egaler sind. Wie wir selbst Moral in einem dichten Geflecht aus Recht und Ethik definieren. Und eben auch darüber, wie wir selbst nicht definiert sein wollen. Vor uns selbst, vor den anderen.

Wir lernen, wie weit der berühmte kategorische Imperativ des Aufklärers Immanuel Kant für uns gehen kann: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Klingt schwierig. Und, um ehrlich zu sein, auch wie ein Satz, der als Vorlage für eine Rebellion gemacht ist. Wer zum Feuerwehrmann erzogen wurde, umgeben von so viel Wasser und Löschgerät, der will vielleicht wissen, wie es sich anfühlt, auch mal Brandstifter zu sein. Will den Geruch des Feuers auch mal atmen, das er sonst nie legen, sondern löschen würde. Ein in jedem Wortsinn reizender Geruch, ein verbotener.

In Extremlagen sehen wir manches klarer

Wenn wir ihn atmen, tauschen wir für einen Augenblick unsere alltägliche Rolle gegen Adrenalin und Angstschweiß. Wir begeben uns in eine Ausnahmesituation, eine Position im Abseits, eine gefühlte Extremlage, von der aus wir unseren Platz in der Welt und unsere Wirkung auf die Welt anders reflektieren. Extremlagen sind manchmal die besten Lebensratgeber.

Wenn ich schwarzfahren würde, wäre ich dann geizig? Würde ich damit gegen zu teure Fahrkarten protestieren? Oder wäre ich nur auf meinen eigenen Vorteil bedacht? Wäre es mir egal, dass ich das System schädige? Wenn ich meinem Partner eine Leiche im Keller verschweige, stelle ich dann unsere Beziehung infrage?

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Oder vereinfache ich unser gemeinsames Leben? Was bedeutet Vertrauen für mich? Und wo endet es? Wenn ich dieses günstige T-Shirt kaufe, unterstütze ich dann den netten Verkäufer? Oder doch eher Kinderarbeit in Bangladesch? Und wenn ich es klauen würde, wäre das dann ein Schlag gegen dieses System? Oder dumm?

Was bedeutet Kriminalität überhaupt?

Dies ist kein Plädoyer für Gewalt oder Ungerechtigkeit. Kein Plädoyer für das Grauen, für das man nur plädieren kann, wenn man irre ist. Es ist ein Plädoyer dafür, dass es ganz guttun kann, sich für kurze Zeit wie ein Kleinkrimineller zu fühlen, um mehr über sich selbst zu lernen.

„Kriminalität“ ist ein großes Wort. Was damit gemeint ist? „Die einfachste Antwort: Das, was im Strafgesetzbuch steht“, sagt der Sozialwissenschaftler Aldo Legnaro vom Hamburger Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung. „Das fällt allerdings nicht vom Himmel wie die zehn Tafeln Mose, sondern wird durch Machtverhältnisse bestimmt.“ Kriminalität ist also nicht naturgegeben. Diesen Gedanken prägte der französische Soziologe Émile Durkheim schon Ende des 19. Jahrhunderts: Wir verurteilen etwas nicht, weil es per se kriminell ist. Etwas ist kriminell, weil wir es verurteilen.

In Berlin werden jeden Tag achtzig Fahrräder gestohlen.

Etwa drei Viertel aller Sachbeschädigungen in Deutschland werden nie aufgeklärt.

2014 waren rund 38.000 Tatverdächtige für Ladendiebstahl zwischen vierzehn und 21 Jahre alt.

Durkheim war es auch, der die sogenannte Normalitätsthese formulierte: „Zunächst ist das Verbrechen deshalb normal, weil eine Gesellschaft, die frei davon wäre, ganz und gar unmöglich ist.“ Viele Menschen begehen bis zum 18. Lebensjahr eine Straftat. Über achtzig Prozent der Jungs, knapp siebzig Prozent der Mädchen. Die Abschaffung der Kriminalität, wie sie von manchen Politikern gefordert wird, ist nicht mehr als eine Utopie. Die Kriminalität ist da, und wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen, wenn wir nicht als Einsiedler den Ein-Mann-Staat ausrufen.

Die Gesellschaft bestimmt, was kriminell ist

Was als kriminell gilt und was nicht, hängt oft vom Zeitgeist ab. Einige, die früher als Vorbilder einer Gesellschaft fungierten, gelten heute als Schwerstverbrecher. Um das zu verstehen, muss man nur ein Geschichtsbuch aufschlagen. Kapitel „Diktatoren des 20. Jahrhunderts“.

Wie relativ der Begriff der Kriminalität ist, zeigt sich daran, dass Bestimmtes heute als kriminell gilt, während Vergleichbares legal ist. Saufen ist erlaubt, Kiffen verboten. Während übermäßiger Alkoholgenuss in zehn Prozent der Fälle sogar zu Psychosen führen kann, trifft dies bei vergleichbarem Missbrauch von Cannabis aber für weniger als ein Promille der Fälle zu.

Thema: Wie kriminell bist du? Die Nahaufnahme eines Mannes, der seine Hand vor sein Gesicht hält.
Eine rote Corvette hat unseren Autor zu seiner ersten Sünde geführt. Jetzt gilt ihm das Spielzeugauto als Mahnmal.
© Scott Webb

Mit dem Joint in der Hand können wir uns fragen, ob wir mit unserem nächsten Zug letztlich die Macht von Drogenkartellen unterstützen oder doch nur das Überleben des Kleinbauern mit Hanfplantage. Darauf gibt es keine klare Antwort. Wer die Grenze des Legalen überschreitet, trifft eben auch auf eine Wirklichkeit, die sich vor einfachen Erklärungen sperrt.

Eine Welt ohne Kriminalität?

Doch nicht jeder stellt sich solche Fragen. Dass Kriminalität als relativ erscheint, liegt auch an Moralvorstellungen, die sich nicht nur von Zeit zu Zeit, von Gesellschaft zu Gesellschaft, sondern auch von Mensch zu Mensch unterscheiden. Kriminalität ist nicht nur ein großes Wort. Sie ist ein monströses Konstrukt. Sinnbild der komplexen, widersprüchlichen Welt, in der wir leben.

Obwohl kaum jemand in seiner Twitter-Bio schreiben würde, er sei ein Verbrecher, zählen Outlaws und Staatsfeinde zu unseren größten Helden. Der Meth kochende Chemielehrer Walter White in „Breaking Bad“. Der über Leichen gehende US-Präsident Frank Underwood in „House of Cards“. Der ständig bekifft oder betrunken Auto fahrende Schriftsteller Hank Moody in „Californication“. Vielleicht schätzen wir diese Antihelden auch dafür, dass sie, trotz ihrer Verfehlungen, Dinge anders machen als der Rest. Dazu braucht es nämlich Mut.

Ohne Kriminalität stirbt die Revolution

Wenn wir Regeln brechen, loten wir nicht nur Grenzen aus. Wir grenzen uns ab. Wir machen etwas anders, als wir sollten. Anders, als es uns von den Generationen vor uns vorgeschrieben wurde. Das muss nicht zwingend destruktiv, sondern kann auch funktional und innovativ für eine Gesellschaft sein, um noch einmal Émile Durkheim zu zitieren: „Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt in dem, was sein wird.“ Ist ein Widerstandskämpfer ein Krimineller?

Wie sähe die Welt aus, wenn gewisse Personen der Geschichte nicht gegen Regeln verstoßen hätten? Sokrates, der nach athenischem Recht ein Verbrecher war, hätte nie die Moralvorstellungen entwickelt, die nicht nur Athen, sondern die gesamte Philosophie voranbrachten. Galileo Galilei, der aus Sicht der Inquisition als Ketzer galt, hätte nie das kopernikanische Weltbild durch seine Forschung bekräftigt. Die Afroamerikanerin Rosa Parks hätte sich nicht auf den Platz im Bus gesetzt, der Schwarzen verboten war, und Martin Luther King hätte es vielleicht nie bis nach Washington geschafft, gefolgt von Hunderttausenden. Steve Jobs hätte nie sein erstes Unternehmen gegründet, das es ermöglichte, kostenfrei zu telefonieren: Illegal. Und vielleicht hätte er danach nie den Mut gehabt, jenes Macbook-Modell auf den Markt zu bringen, an dem dieser Text jetzt entsteht.

Kein Räuber und Gendarm auf dem Spielplatz

„Ohne Fantasie gäbe es keine Verbrecher und keine Dichter“, hat der Schriftsteller Curt Goetz mal geschrieben. Zum Glück ist Fantasie nicht verboten. Dank ihr können wir uns noch besser ausmalen, wie eine schöne neue Welt aussähe, die keinen Regelbruch kennt: Auf dem Spielplatz entfiele Räuber und Gendarm. Im Religionsunterricht würden wir das Alte Testament skippen, weil es ohne Mord und Totschlag auf wenige, aber langatmige Seiten geschrumpft wäre. In Kunst würden wir nicht über Leonardo da Vinci reden, der im gottesfürchtigen Spätmittelalter nie Leichen obduziert hätte, um den Körper besser verstehen und zeichnen zu können.

Thema: Wie kriminell bist du? Die Nahaufnahme eines Mannes, der seine Hand vor sein Gesicht hält.
Kein Räuber und Gendarm: Ohne Regelbrüche gäbe es nicht die Welt wie wir sie kennen.

Kein Banksy an den Wänden. Kein Snowden in den Nachrichten. Kein kinox.to in der Lesezeichenleiste. Auf dem Schulhof wären Tupac, 50 Cent oder Haftbefehl kein Thema. Sie hätten nie mit Drogen gedealt und nur bürgerliche Geschichten zu erzählen, die keiner hören mag, weil sie jeder vom Abendbrot mit den Eltern kennt. Wahrscheinlich wäre HipHop nie entstanden. Punk auch nicht. Die Geschichte der Popkultur ist eben auch eine Geschichte verbotener Früchte. Kein „I Am the Walrus“ von den Beatles, kein „Brown Sugar“ von den Rolling Stones. Und da wäre wohl auch keine „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, der gern unter Einfluss verbotener Substanzen schrieb. Popmusik wäre das Hintergrundgedudel auf Wahlkampfveranstaltungen der CSU. Und Helene Fischer. Die würde nie im „Tatort“ spielen, weil es keinen „Tatort“ gäbe.

Mehr als sechs Prozent aller Deutschen im Alter von achtzehn bis 21 Jahren wurden 2014 einer Straftat verdächtigt.

Rund ein Viertel aller erwachsenen Deutschen hat Erfahrung mit illegalen Drogen.

Über 21.000 Jugendliche in Deutschland wurden 2014 Opfer einer Gewalttat.

Til Schweigers Karriere bestünde vor allem aus Keinohrhasen. Die Wörter „Krimi“, „Hacker“ und „Bong“ („Substantiv, feminin, Wasserpfeife zum Haschischrauchen“) wären aus dem Duden verschwunden. Niemand würde kiffen, aber Alkoholiker gäbe es hinreichend. Wir würden nie jemanden treffen, mit dem man Pferde stehlen kann. Weil wir immer noch an der roten Ampel warten würden oder immer noch keinen Parkplatz gefunden hätten. Wir würden nie mit dem Menschen, den wir lieben, nachts im Freibad schwimmen.

Wichtig ist, sich seine Schuld einzugestehen

Eher noch als die pure Vernunft hätte ein blasser Opportunismus gesiegt. Als würden wir ein Leben lang „Solitär“ spielen. Und nie „Grand Theft Auto“. Am Ende würden wir uns vielleicht fragen: Waren wir überhaupt mal jung? Oder nur Zombies mit milchbärtigen Gesichtern?

Doch nicht jeder Regelbruch ist ein schöner Bruch. Wenn wir Regeln brechen, loten wir nicht nur Grenzen aus. Wir grenzen uns nicht nur ab. Wir stolpern. Wir fallen auf die Schnauze. Und das ist gut so. Wir fühlen uns schlecht. Wir empfinden Schuld. Wir empfinden Reue. Diese Gefühle können gleichermaßen schmerzhaft wie heilsam sein. Weil nicht jeder solche Gefühle hat oder sie zugibt, zeugt es von Größe, Schuld einzugestehen, statt zu versuchen, mit Rechtfertigungen abzulenken.

So elementar das Brechen von Regeln für unsere Jugend ist, so sehr machen uns Vergehen, für die wir uns schämen, die wir zugeben, aus denen wir lernen, auch zu ein bisschen weiseren Wesen. Schrieb er, während die rote Corvette vor ihm glänzte. Als Mahnmal. Und als Reiz.

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Dieser Text ist in der Ausgabe 05/2016 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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