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Freizeit „Ausbrechen. Gegen das Ameisenleben.“

Freizeit: „Ausbrechen. Gegen das Ameisenleben.“
Die Generation der Digital Natives ist erwachsen geworden. In der neuen Interviewkolumne „Neues von den Millennials“ beantworten junge Menschen Lebensfragen über Liebe, Politik und Popkultur – dieses Mal mit: Chelsea.

Interview & Foto: Karina Rozwadowska | documents-on.com

Chelsea Rose von Holst 20 Schauspielerin Ist mit 16 von Zuhause ausgezogen Hatte bereits alle Haarfarben, außer Grün Hat neulich festgestellt, dass sie Techno mag Ist kein Fan von Remakes Liebt Musicals, die Urlaube mit ihrer Mutter und Star Wars (war als Kind in Anakin Skywalker verliebt) Schätzt heute die Ruhe und Natur, die einem das Aufwachsen auf dem Dorf ermöglicht Lieblings-Toten-Hosen-Lied früher: „Nur zu Besuch“

Großstadt oder Kleinstadt?
Beides. Mit fünf sind wir aus Düsseldorf in das 230-Einwohner-Dorf Münk in der Eifel gezogen: ein Dorf, in dem deine Nachbarn Kühe sind und jeder über jeden Bescheid weiß. Wenn unten jemand genießt hat, wusste man oben, dass er eine Lungenentzündung hat und bald sterben wird. Wir hatten noch nicht mal eine Bäckerei, und der nächste Supermarkt war neun Kilometer entfernt.

Wächst man dann mit diesen pappigen Aufback-Brötchen auf?
Wir hatten schon immer frische Brötchen. Ohne Führerschein stirbst du aber.

Wie kommt man zur Schule, wenn man in Münk aufwächst?
Morgens um sieben kommt der Bus. Der braucht dann eine Stunde in die nächste Kleinstadt. Ich habe oft vorgetäuscht, dass ich krank bin und endlos viele Fehltage gesammelt.

Dein Vater ist in Deutschland unter dem Namen „Kuddel“ als Lead-Gitarrist der Toten Hosen bekannt. Viele Jahre war er ein ziemlich wilder Punk. Deine Mutter gehörte zur selben Szene. Wie kann man gegen solche Eltern rebellieren?
Ich glaube, ich wollte gar nicht unbedingt gegen meine Eltern rebellieren. Dafür habe ich die Schule und meine Mitschüler die gesamte Schulzeit über gehasst. Vor Mathe hatte ich irgendwann eine richtige Panik und vor einigen Lehrern auch. Ich hatte nur zwei oder drei Freundinnen. Nur in den zwei Wochen vor „Rock am Ring“ wollten alle auf einmal meine besten Freunde sein und fragten nach Gratis-Karten und Backstage-Pässen. Manche Lehrer waren sogar Hosen-Fans und wollten Autogramme. Ich habe mich in der Schule nie wohl gefühlt. Zweimal bin ich von Zuhause weggelaufen, weil ich Freunde in Kassel treffen wollte.

Wie alt warst du da?
Das erste mal zwölf. Die Freunde kannte ich aus dem Internet. Damals kam es mir gar nicht in den Sinn, dass das eine potenzielle Gefahr sein konnte, fremde Menschen, die man im Internet kennenlernt.

Hast du es nach Kassel geschafft?
Ich habe mir um sechs Uhr morgens, während meine Eltern noch schliefen, ein Taxi bestellt. Damit bin ich dann knapp 70 Kilometer nach Koblenz gefahren, alles von meinem gesparten Taschengeld, ausgeben konnte man das in meinem Dorf ja eh nicht. Die Fahrt hat 76,20 € gekostet. Da steckte ich dann fest, da mir kein Geld mehr für ein Zugticket nach Kassel blieb. Irgendwann kam mein Vater, und wir fuhren wieder nach Hause.

Gab es Hausarrest?
Nein, eher Besorgnis. Meine Eltern taten so, als wären sie sauer, damit ich das nicht noch einmal mache.

Und?
Naja. Einmal musste ich noch Freunde besuchen. Es blieb aber bei den zwei Malen.

Was waren das für Freunde aus dem Internet?
Leute, die wie ich Visual-Kei-Fans waren.

Die was waren?
Visual-Kei. Durchgedrehte japanische Pop-Musik, kombiniert mit einem extrem extravaganten, bunten Kleidungsstil: sehr schrill, bunt, fantasievoll, sehr feminin, sehr auffällig. Ich liebte Pink und Lila, hatte zu der Zeit aber alle möglichen Haarfarben. Außer Grün. Aber das ist ewig her. Heute schäme ich mich eher.

Als Punk-Musiker hatte dein Vater wahrscheinlich eher weniger Probleme mit deinen Haarexperimenten.
Stimmt. Das war nie ein Problem. Meine Eltern waren damit immer sehr ok. Wer das seltsam fand, waren die Leute aus dem Dorf und einige Lehrer in meiner Schule: Die hatten etwas gegen Pink und Lila.

Kann man sagen, dass du in diesem japanischen Plastik-Pop die Antithese zum Punk deines Vaters gesucht hast?
Ich weiß gar nicht, ob Visual-Kei und Punk so weit auseinander liegen. Ich würde sagen, meine Rebellion richtete sich weniger gegen meine Eltern und ihre Musik, sondern vor allem gegen mein unmittelbares soziales Umfeld, gegen die konforme, langweilige Enge der Kleinstadt-Idylle und gegen die Institution Schule. Ich glaube, dass man die Visual-Kei-Szene irgendwie auch mit dem Punk vergleichen kann: anders aussehen, aus dem System ausbrechen, gegen das Ameisenleben.

Hast du selber mal Punk gehört?
Papa wollte immer, dass ich Gitarre lerne, aber ich bin eine schlechte Schülerin – zu ungeduldig. Nichts gegen meinen Vater, aber er ist auch nicht der richtige Lehrer für mich.
Mein Bruder hatte eine Zeitlang wechselnde Punkbands, und die haben jede Woche in unserem Keller geprobt. Es war einfach nur Krach. Dazu Gröl-Gesänge à la „wir wollen mehr Bier“. Ich fand das ganz witzig, aber es hat mich in erster Linie genervt, weil es nur laut war. Es wurde aber auch nie zu einem Streitding bei uns Zuhause.

Magst du die Toten Hosen?
Sie sind nicht gerade mein Musikgeschmack. Aber ich höre sie schon gern, vor allem auf Konzerten. Ansonsten bin ich eher auf der Musical-Schiene hängengeblieben.

Hast du mit deinem Vater so ein gemeinsames Vater-Tochter-Hobby?
Papa fährt einmal im Jahr mit mir für drei Tage nach Disneyland. Ich liebe die Disney-Welt, seit dem ich klein bin. Das ist bis heute unsere gemeinsame Tradition. Ich schleppe ihn dann überall hin, und er macht alles mit.

Merkt man beim Großwerden ständig, dass der Vater berühmt ist?
Ich sehe meinen Vater so überhaupt nicht. Als Rockstar. Ich habe ihn nie betrunken oder high erlebt. Auch habe ich nie Bilder oder Video-Mitschnitte aus dieser Zeit gesehen. Ich google ihn nicht und habe auch die Hosen-Biografie, die letztes Jahr erschienen ist, lieber nicht gelesen. Für mich ist mein Vater dieser sanfte, ruhige Mensch, der mich immer geliebt und behütet hat. Vielleicht klingt das zu groß, aber der Anblick irgendwelcher Fotografien oder so von früher, würde vielleicht das Bild, das ich von ihm habe, zerstören. Ich bin einfach stolz auf ihn. Alles andere ist nicht mehr aktuell. Es liegt in der Vergangenheit.

Hast du dir manchmal gewünscht, einen Automechaniker als Vater zu haben, der nicht wochenlang auf Tournee ist?
Gar nicht. Ich fand das eigentlich immer schön, auf Konzerte zu fahren. Dafür bin ich bis heute dankbar, dass ich so viele Möglichkeiten bekommen habe.

Du hast dich ähnlich wie dein Vater für einen Beruf auf der Bühne entschieden.
Manchmal habe ich mir gewünscht, ich hätte Lehrerin werden wollen. Aber das ist nun mal nichts für mich. Mein Vater war zunächst sehr skeptisch, als er von meinem Wunsch, Schauspielerin zu werden, erfuhr. Er fand es zu unsicher.

Klar. Gitarrist in einer Punkband ist natürlich ein viel sichererer Beruf.
Ja, genau! Aber ich spürte einfach, dass Schauspielerei das Richtige für mich ist und irgendwann lenkte er ein. Der Beruf hat mich in vielerlei Hinsicht von meiner Schüchternheit und Depression befreit.

Was genau meinst du mit Depression? Das ist ja heute ein ziemlich strapaziertes Wort.
Meine Depressionen kommen in Phasen. Ich fange an, alles kaputt zu denken. Mir einzubilden, dass meine Freunde mich alle hassen. Ich verstehe dann auf einmal nicht mehr, warum mein Freund überhaupt mit mir zusammen ist. Was will der eigentlich von mir, denke ich, ich bin doch scheiße. In diesen Gefühlsphasen schotte ich mich von allen ab. Ich weine dann viel und leide vor mich hin.

Wie geht es dir gerade?
Dank der Schauspielerei und auch weil ich endlich etwas gefunden habe, was ich liebe, geht es mir gut. Ich habe gelernt, mich mehr zu öffnen: Schauspielerei und vor allem die Ausbildung ist ja so eine Art Gruppentherapie. Es kommt zwar immer noch vor, dass ich Angst habe, auf Partys zu gehen, weil ich mich dann mit Leuten unterhalten muss. Der ganze Akt der sozialen Interaktion stresst mich immer noch. Aber auf der Bühne fühle ich mich frei. Ich habe gerade irre Lust auf die Arbeit, auf Castings, aufs Singen. Aber ich bin schon auch froh, dass ich noch meinen Therapeuten habe.

Warum magst du gerade die Disney Welt?
Wenn ich dort bin, kann ich abschalten. Es geht mir gut. Alle meine Probleme sind dann weg.

Alle Interviews mit den Millenials findet ihr hier.

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