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Freizeit „Ich halte Victim Blaming in jeder Hinsicht für Schwachsinn“

Freizeit: „Ich halte Victim Blaming in jeder Hinsicht für Schwachsinn“
Die Generation der Digital Natives ist erwachsen geworden. In der neuen Interviewkolumne „Neues von den Millennials“ beantworten junge Menschen Lebensfragen über Liebe, Politik und Popkultur – dieses Mal mit: Lisa Ludwig

Interview & Foto: Karina Rozwadowska | documents-on.com

Lisa Ludwig • 27 • Chefredakteurin von Broadly Deutschland (das Frauen-Online-Magazin von VICE.com) • Hat schon mal mit Jan Böhmermann über Excel-Tabellen diskutiert • Schreibt seit zehn Jahren beruflich • Reitsport-Enthusiastin • Verlässt ihre Wohnung nicht, ohne ein Buch in der Tasche zu haben • Trägt Schuhe so lange, bis sie auseinanderfallen • Gibt die Hoffnung nicht auf, irgendwann Colin Farrell zu heiraten

Warum glaubst du, dass sich gerade an dem Fall Gina-Lisa Lohfink in Deutschland eine so laute Debatte über Sexualität und sexualisierte Gewalt entzündet hat?
Ich glaube, es ist ein Fall, der ganz gut gezeigt hat, wie von Teilen in Gesellschaft und Medien mit Frauen umgegangen wird, die sagen, sie seien vergewaltigt worden. Und wie die Aussagen von Frauen von vornherein angezweifelt werden, wenn diese Frauen einen bestimmten Lebensstil haben – unabhängig davon, ob das jetzt schlussendlich so passiert ist, wie sie sagt, oder nicht.

Also Frauen, die ihre Sexualität offen und ungehemmt ausleben?
Es gibt viele Leute, die glauben, dass eine Frau, die gerne mit ihren Reizen spielt und in der Vergangenheit vielleicht ein Porno-Video gedreht hat, gar nicht vergewaltigt werden kann. Oder noch einen Schritt weiter: dass dieser Typ Frau eigentlich immer Sex wollen muss. Egal wie sexuell aktiv jemand ist, wie er sich kleidet oder in der Öffentlichkeit auftritt, man muss jederzeit „Nein“ sagen dürfen. Diese Debatte war deshalb längst überfällig und ist ein guter Ausgangspunkt, um über sexuelle Selbstbestimmung zu reden.

Kann die Öffentlichkeit für ein „sauberes“ Mädchen“, dass vergewaltigt wurde, eher Empathie empfinden, also für jemanden der züchtig, brav, einordbar ist?
Das weiß ich nicht. Ich fände das sehr zynisch, wenn das so wäre. Ich glaube, dass es zum Wort Opfer automatisch bestimmte Bilder im Kopf gibt. Deshalb ist es ganz wichtig aufzuzeigen, dass es nicht nur Frauen sind, die vergewaltigt werden, sondern auch Männer, Transsexuelle und alle, die sich dazwischen einordnen. Jeder kann theoretisch zum Opfer werden.

Welche klischeehaften Zusammenhänge zwischen sexualisierter Gewalt und den Mythen um die weibliche Sexualität müssen wir unbedingt hinter uns lassen?

Wir sollten sie alle hinter uns lassen. Zum Beispiel, dass eine Frau sich nicht wundern muss, wenn sie nachts allein durch den Wald läuft und vergewaltigt wird. Oder dass Frauen naiv seien zu glauben, sie könnten sich in einem Club betrinken und dann noch davon ausgehen, nicht vergewaltigt zu werden – eine absurde Annahme, die Anne Wizorek in einem Text für Broadly beschrieben hat. Es gibt unzählige von diesen Vergewaltigungsmythen.

Damit werden auch immer Erklärungen oder gar Rechtfertigungen für das Verhalten des Täters gesucht.
Ich halte Victim Blaming in jeder Hinsicht für Schwachsinn, zudem für sehr gefährlich. Wenn man anfängt, Opfern zu erklären, wie sie sich hätten anders kleiden oder verhalten sollen, lädt man ihnen immer Schuld auf. Es gibt nach wie vor keinen statistischen Nachweis dafür, dass ein Zusammenhang zwischen einer bestimmten Kleidung und der Wahrscheinlichkeit, vergewaltigt zu werden, besteht.

Mit dem vergangene Woche verabschiedeten Gesetz kann künftig jede „nicht einverständliche, sexuell bestimmte Handlung“ bestraft werden. Bisher musste jedes Opfer nachweisen, dass es sich ausreichend gewehrt hat. Ist das Gesetz immer noch zu lasch?
Als Journalistin beschäftige ich mich vorrangig damit, wie mit diesem Thema umgegangen wird. Ich kann deshalb nicht aus juristischer Sicht sprechen. Für mich persönlich ist es eine längst überfällige Nachbesserung. Deutschland hat 2011 die Istanbul-Konvention unterzeichnet, in der sich der Europarat über Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verständigt hat. Die Bundesregierung ist dann aber zunächst auf rechtlicher Ebene nicht nachgezogen, weil man es damals offenbar nicht für notwendig hielt. Die Gesetzesverschärfung, auf die man sich jetzt geeinigt hat, ist ein Signal an potentielle Opfer, dass ihr „Nein“, welches vom Täter in dem jeweiligen Moment ignoriert wird, etwas wert ist.

Wie bewertest du Aktionen, wie die der New Yorker Studentin, die aus Protest ihre Matratze auf dem Campus herumtrug oder den emotionalen Brief des Stanford Opfers?
Ich glaube, es ist wichtig, dass sich Opfer zu Wort melden und sich diese Diskussion nicht von Leuten aus der Hand nehmen lassen, die aus sicherer Entfernung alles kommentieren. Man braucht eine Ausgewogenheit, wenn es um so große Themen geht. Vielleicht hätte es der aktuellen Diskussion auch gut getan, wenn sich mehr Opfer öffentlichkeitswirksam zu Wort gemeldet hätten und nicht primär Personen, die als Außenstehende etwas zum „korrekten“ Verhalten von Opfern zu sagen haben. Etwas so Traumatisches wie eine Vergewaltigung macht jedoch selten jemand freiwillig öffentlich. Gerade deshalb finde ich den Brief des Stanford-Opfers so mutig: Das Erlebte lesbar zusammenzufassen, hatte für sie sicher auch etwas Heilendes. Das ist mir sehr nahe gegangen.

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