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Politik Leben in der Türkei: Die Woche danach

Politik: Leben in der Türkei: Die Woche danach
Woche Zwei nach dem gescheiterten Militärputsch: Über 45 000 Staatsbeamte wurden suspendiert, Tausenden Lehrern ihre Lizenzen entzogen, über 13 000 Verdächtige verhaftet. Mit dem Ausnahmezustand haben Präsident Erdoğan und die Regierung weitreichende Befugnisse, zusammen mit der Opposition wird seit gestern über eine neue Verfassung nachgedacht. Amnesty International wirft der Türkei Folter vor. Aber wie sieht der Alltag in Istanbul aus? Über die Situation und das Leben im Ausnahmezustand.

Fotos: Stella Schwendner

Istanbul, Anfang des Sommers: Die NEON-Redakteure Fiona Weber-Steinhaus, Christopher Piltz und Marco Maurer sprachen mit Studenten, jungen Künstlern und Intellektuellen auf einer Dachterasse in Istanbul über ihr Leben, ihre Hoffnungen und Sorgen. Psychotherapeut und Buchautor Zaza, Filmemacherin Dilek, Sänger Can und Dramaturg und Theaterregisseur Emre (im Uhrzeigersinn von oben links) sind vier von ihnen. Schon Anfang des Sommers sagten sie, dass sie weg wollen. Wir fragten sie noch einmal nach dem gescheiterten Militärputsch und der Verhängung des Ausnahmezustandes: Was nun?

Zaza Yurtsever, 48, Psychotherapeut und Buchautor:
„Es ist eine große Chance entstanden, die Polarisierung der Gesellschaft aufzuheben und gemeinsam für die Demokratie einzustehen. Ob die Regierung diese Chance nutzen kann, ist natürlich eine andere Frage.“

Politik: Zaza Yurtsever ist seit dem Putschversuch überwiegend zu Hause und verfolgt die Nachrichten.
Zaza Yurtsever ist seit dem Putschversuch überwiegend zu Hause und verfolgt die Nachrichten.

Wie geht es dir nach dem Putschversuch? Bewegst du dich anders durch die Stadt als davor?

Es geht mir – wie vielen anderen auch – leider nicht so gut, zumal es ja heißt, dass ein weiterer Putsch oder Attentate stattfinden könnten. Deshalb habe ich Angst. Wenn ich Freunde besuche, nehme ich lieber ein Taxi.

Hat der versuchte Putsch die türkische Gesellschaft noch tiefer gespalten oder hilft er, Risse zu kitten und gemeinsam für die Demokratie einzustehen wie zur Demonstration am Samstag in Istanbul?

Vor dem Putschversuch war eine deutliche Trennung zu beobachten, die meines Erachtens überwiegend von der AKP provoziert wurde. In der Tat kamen Erdoğan-Anhänger und Oppositionelle in jener Nacht zusammen und haben eine große Tragödie verhindert. Nach dem Putschversuch haben zwar überwiegend AKP-Anhänger gefeiert, aber der Vorfall hat die Gesellschaft seit langem wieder zusammengebracht. Ich denke, es ist eine große Chance entstanden, die Polarisierung der Gesellschaft aufzuheben und gemeinsam für die Demokratie einzustehen. Ob die Regierung diese Chance nutzen kann, ist natürlich eine andere Frage. Die Geziproteste waren zum Beispiel auch eine Chance, aber die Regierung hat es nicht so gesehen und diese verpasst. Ich hoffe, dass es diesmal anders wird, bin aber in der Hinsicht eher pessimistisch.

Ist die Türkei auf dem Weg in eine „zivile Diktatur“, wie Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar sagt?

Die Türkei entwickelte sich in den letzten Jahren tatsächlich in Richtung einer zivilen Diktatur. Aufgrund des letzten Ereignisses gehen viele Leute davon aus, dass Erdoğan jetzt seine Fehler sehen und von dem Kurs abkommen wird. Ein erster Schritt war die gestrige Zusammenkunft der Opposition mit Erdoğan in seinem Palast. Dies ist sicherlich ein erster Schritt, aber dass die links gerichtete pro-kurdische HDP von dieser Zusammenkunft ausgeschlossen wurde, wirft für mich einen Schatten darauf.

Und was hast du in der Nacht des versuchten Militärputsches gemacht?

Glücklicherweise war ich in dieser Nacht bei einem Freund um gemeinsam eine TV-Diskussion über die Vorfälle in Nizza anzuschauen. Während die Sendung lief, sagte die Sprecherin, es fände gerade ein Militärputsch statt und zeigte, wie die Bosporusbrücke von Soldaten gesperrt wurde. Kurze Zeit später flogen Kriegsflugzeuge über die Stadt und warfen Bomben und schossen herum. Es war sehr beängstigend. Wir haben bis um sieben Uhr morgens vor dem Fernseher gesessen und beobachtet, wie der Versuch vereitelt wurde. Am nächsten Nachmittag, als ich bei mir in der Wohnung war, musste ich feststellen, dass viele Scheiben zersprungen waren. Offensichtlich sind die Flugzeuge sehr tief geflogen. Ich habe als erstes dafür gesorgt, neue Scheiben zu bekommen. Und dann bin ich wieder zu diesem Freund gegangen, um weiter mit ihm die Nachrichten zu verfolgen. Natürlich wollte ich nicht alleine sein, genauso wenig wollte er alleine sein. Insgesamt war ich eine Woche lang bei ihm.

Dilek Aydin, 31, Filmemacherin:
„Ein Putsch war das Letzte, was ich erwartet hätte – Ich möchte einfach kein Opfer schmutziger Politik und Machtspiele zwischen wem auch immer sein.“

Politik: Dilek Aydin überlegt, die Türkei zu verlassen.
Dilek Aydin überlegt, die Türkei zu verlassen.

Du hast im Sommer 2013 an den Gezi-Protesten gegen die Regierung teilgenommen. Im NEON-Interview sagst du, deine Hoffnung habe sich während der Gezi zerschlagen, ihr seid nur Statisten in eurer eigenen Kulisse. Hätte ein geglückter Militärputsch daran etwas geändert?

Ich gehörte nicht zu denen, die gegen das Militär auf die Straße gegangen sind um die Demokratie zu verteidigen – obwohl ich auf keinen Fall wollte, dass die Armee die Kontrolle übernimmt. Aber ich verstehe den Grund dafür, vielleicht ist es der Gezi dieser Leute. Ich weiß es nicht. Für mich persönlich hat sich nichts verändert außer der Tatsache, dass ich dachte, ich hönnte nach nach dem gescheiterten Putsch wieder mehr Hoffnung haben. Aber ich habe mehr Angst vor der Gewalt, der Wut, der Verachtung, die auf uns in Zukunft warten werden. Ich möchte einfach kein Opfer schmutziger Politik und Machtspiele zwischen wem auch immer sein, sei es Erdoğan vs. Fettullah Gülen, Staat vs. Militär, oder säkulare Kräfte gegen Islamisten. Es macht mich krank. Ich bin müde. Ich will nur meinen Seelenfrieden.

Wie hast du die Nacht des Putschversuchs erlebt?

Ich war mit Freunden Abendessen in Galatasaray, als wir hörten, dass die Bosporus-Brücken geschlossen wurden – Wir interpretierten das als eine Vorsichtsmaßnahme gegen eine mögliche Terorwarnung. Wir gingen zu einem Freund in der Nähe, sahen Kurzfilme, die wir vor Kurzem produziert hatten. Plötzlich bekamen wir alle Nachrichten von Freunden und Familie. Wir schalteten das Fernsehen ein, checkten die Nachrichten – die Info über den Putsch ging rum. Ich konnte es nicht glauben, denn egal wie angespannt die Situation in der Türkei war: Ein Putsch war das Letzte, was ich erwartet hätte.

Als auf TRT News der Staatsstreich verlesen wurde, wollte ich nur noch nach Hause. Ich war panisch. Mit dem Gedanken, dass eine Armee versucht die Geschicke der Türkei zu leiten – was für unser Land vorher auch nie gut aus ging -, fühlte ich mich schrecklich. Ich ging nach Hause. Meine Wohnung ist nur zwei Fußminuten vom Zuhause des Freundes entfernt, aber selbst zwei Minuten waren zuviel für mich: Panische Menschen auf den Straßen, fast keine Autos. Zuhause verfolgte ich weiter Nachrichten und Diskussionen. Ich versuchte zu schlafen, konnte aber wegen des Lärms der F16-Flugzeuge nicht – super verstörend und bedrohlich.

Am nächsten Morgen wachte ich durch die Nachricht eines Freundes aus London auf: Er schrieb mir, dass es zu keinem Putsch in der Türkei gekommen war. Ich seufzte.

Wie geht es dir diese Woche?

Obwohl ich sehr froh bin, dass sich die Putschisten nicht durchsetzen konnten, fühle ich mich in der derzeitigen Situation nicht wohl. Ich verstehe sie noch nicht richtig, alles ist neu. Ich bin mir nicht sicher, ob extreme Maßnahmen folgen werden und Erdoğan damit seine Macht ausbauen wird. Oder ob es wirklich ein ziviler Versuch ist, das militärische Eingreifen zu stoppen. Aber wie auch immer: Ich fühle mich zunehmend unsicher in Istanbul, wo ich seit fünfzehn Jahren lebe. Ich dachte auch schon daran, dass Land zu verlassen – der Gedanke ist jetzt so stark wie nie.

Can „Jon“ Ozen, 23, Sänger der Band The Away Days:
„Ich will nichts glauben, nur weg von diesem Ort und meine Träume verwirklichen.“

Politik: Jon (Mitte) mit seinen Bandkollegen.
Jon (Mitte) mit seinen Bandkollegen.

Um 4.33 Uhr am Morgen nach dem Putschversuch hast du auf eurer Facebookfanpage gepostet, dass du hoffst, dass wir nun zwei Prozent der Angst der Menschen aus Syrien verstehen können. Siehst du darin eine positive Seite des Putschversuchs?

An den Putschversuch gibt es eigentlich nichts Positives. Ich habe nur versucht, mit einem anderen Licht darauf zu schauen. Wir befinden uns in der Türkei gerade in einem schlechten Zeitalter. Ich bin mir nicht sicher, wann die guten Zeiten waren – aber sicher ist, dass es aktuell nicht gut um uns steht. Und das schlimmste ist, dass alles noch schlimmer wird. Wie ein endloser Albtraum aus dem man nicht aufwacht.

Wie denkst du über die Woche nach dem Putschversuch?

Es scheint, dass die Autoritäten das machen, was sie wollen. Ihre Unterstützer werden mächtiger und diskriminieren weiter.

Wie hast du die Nacht des Putschversuchs erlebt?

Ich spielte Basketball im Park. Meine Freunde kamen vorbei und warnten mich, dass Panzer die Brücken verbarrikadieren. Ich konnte an nichts schlimmeres denken. Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob die aktuelle Situation eine Säuberungsaktion von jenen schlechten Menschen ist, die die Regierung jahrelang ausspioniert haben – oder ein Spiel der Regierung um mehr Macht zu gewinnen. Ich will nichts glauben, nur weg von diesem Ort und meine Träume verwirklichen.

Emre Akal, 34, Dramaturg und Theaterregisseur:
„Hier findet momentan eine kollektive Depression statt, die durch den Gedanken, das Land nicht verlassen zu können, verstärkt wird. Man sitzt fest.“

Politik: Emre Akal zog vor zwei Jahren von München nach Istanbul. Angst um sich hat er keine.
Emre Akal zog vor zwei Jahren von München nach Istanbul. Angst um sich hat er keine.

Was hast du in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 gemacht?

Ich saß in meiner Bucht an der Ägäisküste und habe gerade den Hühnerstall sauber gemacht., als ein Bekannter mir zurief: „Das Militär übernimmt die Macht und du putzt Hühnerscheiße!“ Dann saß ich wie alle anderen gebannt vor dem Fernseher, in einer Hand mein Laptop, in der anderen mein Handy. Ich war wie eine Telefonzentrale die ganze Nacht damit beschäftigt richtige Informationen zu finden, was nicht leicht war – Allerdings ging es mir genauso, als der Amoklauf in meiner Heimatstadt München war. Ein paar Tage nach dem Putschversuch wollte ich eigentlich zurück nach Istanbul, aber die Bilder und Berichte in den Medien haben mich davon abgehalten.

Zurück in Istanbul: Hat sich dein Bild der Stadt verändert?

Nein, das hat es nicht, das kann es nicht. Die Türkei und besonders Istanbul lassen sich nicht leicht aus der Ruhe bringen, denn die gab es so gesehen noch nie. Eine Besonderheit und Überlebensstrategie der Menschen in der Türkei ist die Formel „Das Vergessen = die Lösung“. Die Bars und Ausgehmeilen sind nur zu besonderen Anlässen leer: Bombenanschlag, Ramadan, Putschversuch. Das allerdings nur die ersten zwei oder drei Tage, dann retten sich die Menschen wieder in ihre Cafés oder Bars, unabhängig ihrer Gesinnung oder Lebensweise. Aber diesmal hat es länger gedauert, bis die Bars sich wieder gefüllt haben, bestimmte Schichten der Gesellschaft waren wie paralysiert, sie haben sich nicht auf die Straße oder auf öffentliche Plätze getraut.

Als negative Auswirkung auf persönlicher Ebene war für mich traurig, mitansehen zu müssen, dass die „Antigone“-Adaption und Neufassung, die ich zusammen mit dem Regisseur Muzaffer Aksoy in Istanbul zur Premiere bringen wollte, abgesagt wurde – Die Schauspieler hatten zu viel Angst, da das Thema zu nah an der türkischen gegenwärtigen Realität sei.

Wovor hast du am meisten Angst?

Dass ich von meinem freiwillig gewählten Exilland Türkei ins Exil nach Deutschland muss. Zu viel Exil ist aber nicht gut.

Erst gestern hat mich mein Verwandter, der durch seinen Akademikerstatus das Land nicht mehr verlassen darf, gefragt, ob ich Angst hätte. „Nein“ habe ich geantwortet, „um mich nicht. Um euch ja!“ Mir macht mein Umfeld Sorgen – hier findet momentan eine kollektive Depression statt, die durch den Gedanken, das Land nicht verlassen zu können, verstärkt wird. Man sitzt fest. Für manche fühlt es sich wie ein großes Freiluftgefängnis an.

Willst und wirst du in der Türkei leben bleiben oder zurück nach Deutschland ziehen?

Ich bin vor zwei Jahren in einem Selbstversuch nach Istanbul gezogen, habe mich als Autor freiwillig ins „Exil“ begeben. Mein Weg zurück nach Deutschland hat sich arbeitstechnisch schon vor dem Putschversuch abgezeichnet: Mit dem Stück „Love It or leave it!“ am Gorki Theater Berlin, das – wie passend – die aktuelle Lage der Türkei behandelt, kehre ich nach Deutschland zurück. Anfang 2017 hat dann noch mein Stück „Global Collapse Istanbul“ Premiere in München. Will heißen: Ich lebe gar nicht in der Türkei oder in Deutschland, eher im Spannungsfeld dazwischen. Die Entscheidung „ob“/„oder“ will ich immer noch nicht treffen.

Wie fühlst du dich?

Die Zeit des Umbruchs vor dem Putschversuch habe ich als aufregend empfunden. Eine Zeit, in der die Dinge noch nicht so klar definiert waren. Die Zeit jetzt empfinde ich eher als lähmend. Durch die ständigen Wiederholungen und die Glorifizierung der Putschnacht vom 15. Juli 2016 schließen meine künstlerischen und seelischen Kanäle. Zu viele Informationen, zu viel Heldentum, zu viel Pathos. Wie soll ich denn da mithalten und ein gutes Stück schreiben? Abgesehen davon kauft einem niemand die Realität der Welt heute auf der Bühne ab. Da muss man andere Übersetzungen suchen…

Flucht vor Erdoğan?

In Ausgabe 08/16 von NEON lest ihr, wie Dilek, Zaza, John, Emre und vier weitere Studenten, junge Künstler und Intellektuelle über ihre Leben und Zukunft in der Türkei denken.

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