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Wissen Wir haben einen Schlag!

Wissen: Wir haben einen Schlag!
Bis vor Kurzem haben wir Steckdosen für Lampen, Radios oder den Fernseher benutzt – und zwar ausschließlich zu Hause. Neuerdings scannen wir unterwegs alles nach Strombuchsen ab, damit unsere Laptops, Smartphones und Autos nicht sterben. Das treibt einige in den Wahnsinn. Andere kommen dadurch erst zur Vernunft.

Grafik: Jan Lichte

Unseren täglichen Strom gib uns heute: Auf Flughäfen und Bahnhöfen, in Restaurants und Cafés versammeln sich die Hightechpilger um Steckdosen wie um einen Heiligen Gral. Das Abgeschnittensein ist die zeitgenössische Geißel der westlichen Welt.

Wie eng Elektrizität und Emotion zusammenliegen, erzählen viele Geschichten. In der Netflix-Serie „Love“ verbringt Mickey einen Abend in einer Bar in Los Angeles mit ihren Freunden, die irgendwann völlig betrunken nach draußen gespült werden. Als einer von ihnen mit dem schönen Namen Andy Dick einen Taco-Foodtruck auf dem Parkplatz entdeckt, bestellt er nichts zu essen, sondern sucht die silberne Fassade des Trucks erst mal manisch nach einer Steckdose ab. Wie ein betrunkener Mann, der eine Frau plump überreden möchte, mit ihm mitzukommen, bettelt er den Besitzer an, er wolle doch nur ganz kurz, nur mal fünf Sekunden, sein Ding reinstecken. Das spanische „No, no, no, no“ des Taco-Manns hält ihn nicht ab, und er stürmt mit seinem Smartphone, aus dem vulgär das Kabel baumelt, schließlich in den Wagen. „I just want a little juice“ , lallt Andy eindeutig mehrdeutig.

Tja. Und was soll man sagen: Wir alle sind Andy. Und das nicht nur metaphorisch. Wie verzweifelte, vom elektrischen Lebenssaft getriebene Junkies stromern wir mit unseren Handys und Ladekabeln herum und wollen es einfach nur mal kurz irgendwo aufladen, bittebitte. Wir sind steckdosenabhängig, immer auf der Suche nach einer Ladung Strom für unsere liebsten Geräte. Das ist relativ neu, früher brauchte man Strom im Grunde nur zu Hause und nicht unterwegs. Mitte der 50er Jahre begann man, elektrische Geräte mit sich herumzuschleppen: zunächst das Transistorradio, 1979 kam der Walkman auf den Markt. Sie alle waren aber batteriebetrieben, der Nutzer nicht auf Steckdosen angewiesen.

Wissen: Ohne Strom nichts los: Mickeys (Gillian Jacobs) Akku ist geladen. Foto: Suzanne Hanover/Netflix
Ohne Strom nichts los: Mickeys (Gillian Jacobs) Akku ist geladen. Foto: Suzanne Hanover/Netflix

Drei Dinge in unserer Gesellschaft werden angebetet. Alle drei sind transzendent und seltsam körperlos: Gott, Wi-Fi und Strom. Und die Steckdose ist die Kathedrale des Stroms. Sie verleiht der unsichtbaren Energie ein ziemlich freundliches Gesicht: ein Smiley, zwei Kulleraugen, manchmal sogar ein verblüffter Mund. In Zeiten von Laptops, Smartphones, E-Readern, Robotern, Elektroautos und E-Bikes ist die Stromversorgung unterwegs so wichtig wie nie. In Manhattan wird es bald erstmals mehr Ladestationen für Elektroautos als Tankstellen geben. Nur logisch, dass man sein Lieblingscafé da nicht nach der Qualität des Cappuccinos, sondern nach der Anzahl der Steckdosen an den Tischen aussucht.

Wie stromabhängig wir schon sind, zeigen zwei Plug-in-Possen, die sich vergangenes Jahr zugetragen haben. In einem Zug in London musste ein Mann in Gewahrsam genommen werden, weil er sein iPhone einfach in eine nicht öffentliche Steckdose in einem Waggon gesteckt hatte und auch auf mehrfaches Drängen des Schaffners hin nicht einsah, das zu unterlassen. Der Mann wurde vorübergehend wegen Elektrizitätsdiebstahls abgeführt und angezeigt. Und in New York stürmte ein Mann sogar eine Broadway-Bühne, nur um sich eiligst den Weg zur Requisite zu bahnen und dort sein Handy einzustöpseln. Auch in Deutschland könnte man für ein derartiges Vergehen festgenommen werden. Paragraf 248c („Entziehung elektrischer Energie“) aus dem Strafgesetzbuch stammt aus der Anfangszeit der Elektrizität um 1900:

„Wer einer elektrischen Anlage oder Einrichtung fremde elektrische Energie mittels eines Leiters entzieht, der zur ordnungsmäßigen Entnahme von Energie aus der Anlage oder Einrichtung nicht bestimmt ist, wird, wenn er die Handlung in der Absicht begeht, die elektrische Energie sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Es ist ziemlich kurios, dass der vermeintlich veraltete Passus heute aktueller ist denn je.

Energieentwendungsdelikte werden aus Los Angeles, London oder New York gemeldet nun könnte man denken, dass es sich um ein Metropolenproblem handle. Oder um ein Männerproblem. Dass dem nicht so ist, weiß jeder, der schon mal neben einer Ingolstädterin im IC saß, die einem die 230 Volt vor der Nase weggeschnappt hat. Das ist der Moment, in dem man seine Ladekabel zu einer neunschwänzigen Katze bündeln möchte. Oder via Telepathie Stromschläge verteilen. Oder den Finger der Nachbarin in die Steckdose drücken. Ähnlich dem „Mouse Rage Syndrome“, einem Wutanfall beim Surfen, werden Mediziner bestimmt bald einen Begriff für jene Stresssymptome finden, die man entwickelt, wenn die Akkuleistung schwindet und keine Steckdose in Sichtweite ist. „Socket Rage Syndrome“, „Battery Pack Anxiety“ oder so etwas. Wut und Verzweiflung sind die vorherrschenden Emotionen, wenn der Akku sich gefährlich den null Prozent nähert. Wer denkt, solche soziomedizinischen Überlegungen seien übertrieben, dem sei eine letzte, wahre, deutsche Geschichte ans Herz gelegt: Im März rauften in Berlin-Gesundbrunnen in einem Wohnheim zwanzig Menschen um eine Steckdose. Bei der Massenschlägerei kam eine Eisenstange zum Einsatz, einem Fünfzehnjährigen brach ein Schneidezahn ab.

Deutschland ist ein reiches Land, uns mangelt es an nichts. Außer an Steckdosen. Aber es werden neuerdings immer mehr Bauten errichtet, um der Elektrizität zu huldigen und die Unterversorgung zu beseitigen. An Flughäfen sieht man jetzt Wände, in die etliche Steckdosen und Handyanschlüsse montiert sind. Wie betende Pilger versammeln sich die stromlosen Jünger um diesen neuen Heiligen Gral. Das Frankfurter Restaurant Mediterraneo hat sogar eine spezielle Stromarchitektur: einen gläsernen Steckdosentresor. Der Kellner legt auf Nachfrage das siechende Smartphone hinein, schließt das Gerät an und den Glaskubus ab, damit niemand die Handys entwenden kann. Und dort schlummern die Elektrogeräte wie einst Dornröschen in seinem Glassarg, bis die Gäste ihre Pizza Regina verspeist haben und der Ladeschlaf vorbei ist. Eine richtige Alternative zur Steckdose gibt es für den Notfall leider nicht; keine einfache MacGyver-Lösung à la „Fummeln Sie eine Büroklammer in eine Kartoffel und halten Sie die gen Norden“ . Angeblich wird bereits daran gearbeitet, Smartphone-Akkus zu entwickeln, die länger als einen halben Tag halten, und man kann hoffen, dass wir nur in einer evolutionären elektronischen Zwischenphase stecken.

Bis dahin bleibt die größte Panik in der westlichen Welt das Abgeschnittensein von der Stromversorgung. Deutschland ist kein Zweistrom-, sondern ein Vielstromland: flächendeckend mit Um- und Abspannwerken, Atom- und Kohlekraftwerken und neuerdings auch mit Wind- und Solarparks versorgt. Hier gibt es Stromvollversorgung. Hier wurde die kindersichere Steckdose erfunden. Hier spielen AC/DC von Tausenden umjubelt „High Voltage“. Im Schnitt bleiben wir nur zwölf Minuten ohne Strom. Und wenn wir doch einmal das Gefühl haben wollen, stromlos zu sein, gehen wir in ein Dunkelrestaurant.

Wissen: Wir haben einen Schlag!

Was sich über Jahre verändert hat, merkt man oft erst, wenn man es vermisst. Elektrizität und Emotion waren immer eng miteinander verknüpft, doch die Gefühle sind heute andere als früher: Damals, in der guten alten Zeit, als man Strom vor allem in Häusern brauchte und nicht unterwegs, wurde ein Stromausfall immer auch als Chance gesehen: sich näherzukommen, mal wieder selbst zu musizieren, den Campingkocher zu testen oder auch an der gewaltsamen Umverteilung teilzunehmen und ein Kaufhaus zu plündern. Heute würden wir das Kaufhaus ohne Smartphone womöglich gar nicht wiederfinden. Manche haben dort ja schon seit Jahren nichts mehr gekauft.

Früher war ein Stromausfall eher ein Luxusproblem. Fiele heute der Strom für ein paar Stunden oder Tage aus, wäre das Gefühl, dass einem selbst etwas weggenommen werden würde, ungleich stärker. Strom ist existenziell geworden. Man könnte nicht mehr lange am Laptop arbeiten, keine Nachrichten mehr verschicken, keine Musik mehr hören, nicht mehr fotografieren. Ein Stromausfall würde heute keine lustvolle Anarchie, sondern allgemeine Aggression auslösen. Wenn man bedenkt, was für emotionale Totalausfälle das Verweigern einer einzelnen Steckdose auslöst, möchte man sich keinen Stromausfall vorstellen wie jenen vom 9. November 1965. Er begann unpraktischerweise am frühen Abend, gegen 18 Uhr, und dauerte eine Nacht. Mitten im Winter blieben dreißig Millionen Menschen in den USA und Kanada ohne Strom. Und das waren im Vergleich zu heute noch präelektrische Zeiten.

Eine Stromunterversorgung kann aber auch ungeahnt positive Effekte haben. So gab Justin Bieber 2012 im New Yorker Apollo Theater nach einem Stromausfall ein unfreiwilliges Unplugged-Konzert. Im Dunkeln spielte er ein Schlagzeugsolo, legte, illuminiert von Handybildschirmen, Tanzeinlagen hin und sang gemeinsam mit dem Publikum im Chor. Niemand hätte ihm das zuvor zugetraut. Gerade so, als würde die fehlende elektrische Energie eine verborgene künstlerische freisetzen. Welche Energien in so einem Moment explodieren, zeigt auch Garth Risk Hallbergs soeben auf Deutsch erschienener Roman „City on Fire“. Darin geht es um Punk-Teenager, eine Frau, die an Silvester fast erschossen wird, einen Finanzskandal und eine Betrugsaffäre. Vor allem aber um die Nacht vom 13. auf den 14. Juli 1977, in dem all diese Handlungsstränge zusammenlaufen. In dieser Nacht kommt es nach mehreren Blitzeinschlägen zu einem 25-stündigen Stromausfall, der fast ganz New York stillstehen lässt. Tagsüber ist noch alles in Ordnung, aber kaum ist es dunkel, kommt es zu Brandschatzungen und Plünderungen. Totales Chaos bricht aus, der Bürgermeister spricht von einer Nacht des Terrors. Ein Radiomoderator bringt am nächsten Morgen die Ereignisse auf den Punkt: „Aber lasst euch von keinem erzählen, dass ihr euch in der letzten Nacht nicht in etwas anderes verwandelt habt, New York, wenn auch nur kurz.“ Das Leben ohne Strom macht aus uns keine besseren Menschen. Aber andere, womöglich lebendigere.

Dieser Text ist in der Ausgabe 07/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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