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Politik Wie regiert man Neukölln?

Eine Frau geht mit einer Plastiktüte an einer Hausfassade entlang. Franziska Giffey spricht über das Regieren in Neukölln.
Ein Stadtteil gefüllt mit den unterschiedlichsten Menschen und Geschichten. Eine Herausforderung für Bürgermeisterin Franziska Giffey. 
© Lukas Gansterer
In keinem anderen Viertel Deutschlands liegen Cold-Brew-Coffeebars und Auf-die-Fresse-Kriegen so nah beieinander. Franziska Giffey ist seit über einem Jahr Bürgermeisterin des berüchtigsten Stadtteils Deutschlands.

Fotos: Lukas Gansterer

Ein schwüler Samstag im Sommer 2015 in Berlin-Neukölln, Franziska Giffey hat gerade in einem Sportverein Ehrenurkunden verteilt und eilt zu ihrem Dienstwagen. Da tippt ihr eine Frau auf die Schulter: „Frau Dr. Giffey, Sie haben da etwas unter dem Schuh.“ Auf der Rückbank des klimatisierten Audi knibbelt Giffey das Preisschild von dem schwarzen Marc-O’Polo-Pump ab. „So“, sagt sie zufrieden und blickt auf. „Schon wieder ein Problem gelöst.“

Natürlich weiß die 38-Jährige, dass sich die meisten Probleme nicht so schnell abkratzen lassen wie ein Preisschild. Seit dem 15. April 2015 ist sie Bürgermeisterin von Neukölln, Problembezirk, Szenebezirk, Großstadtgetto, Hipster Central – Berlins Stadtteil mit den meisten Bezeichnungen. Sicher ist: In keinem anderen Viertel Deutschlands liegen Cold-Brew-Coffeebars und Auf-die-Fresse-Kriegen so nah beieinander wie hier. In Neukölln verdichtet sich auf 45 Quadratkilometern alles, was deutschlandweit verhandelt wird: Integration, Gentrifizierung, Kriminalität, Flüchtlingsunterbringung, Islam, Hilfsbereitschaft und der Aufstieg der AfD.

Neukölln als Testlabor für die Bundesrepublik

Giffey arbeitet als eine Art Bezirksbundeskanzlerin im realen Testlabor. Maßnahmen, die in Neukölln erfolgreich sind, könnten auch für die gesamte Bundesrepublik funktionieren. Das wird deutlich, wenn man die SPD-Politikerin in ihrem ersten Amtsjahr begleitet und beobachtet, was sie anders macht als ihr bekannter Vorgänger.

Politik: Vor der Einbürgerungsfeier im Rathaus legt Franziska Giffey immer ihre Amtskette um.
Vor der Einbürgerungsfeier im Rathaus legt Franziska Giffey immer ihre Amtskette um.

Heinz Buschkowsky, fast fünfzehn Jahre im Amt, ein rundlicher Mann mit Kastenbrille, machte den Stadtteil mit seinem Buch „Neukölln ist überall“ erst bekannt. „Die deutsche Unterschicht versäuft die Kohle ihrer Kinder“ oder „Multikulti ist gescheitert“, das ist Buschkowskys Stammtischslang. Dafür wurde er geliebt und gehasst. Talkmaster luden ihn als Erklärer ein. Unbekannte versuchten, sein Haus anzuzünden. Modedesignerinnen entwarfen „The Big Buschkowsky“-T-Shirts. Egal war er niemandem. Als Politiker eine wichtige Währung.

Genau das ist Franziska Giffeys Problem. Ganz Deutschland kennt Neukölln. Aber nicht alle Neuköllner kennen sie.

Wenn man Franziska Giffey Honigwein anbietet

Nachdem sie ein Mittelalterfest im südlichen Neukölln eröffnet hat und sich mit Bürgern unterhält, fragt ein glatzköpfiger Hüne: „Wer sind Sie eigentlich? Sie sehn aus wie von der CDU!“
„Na, hörnse mal. Ick bin von der SPD, ick bin die Bürgermeisterin!“
„Ja, und wie heißen Sie?“
„Giffey. Wie Norderney.“
Der Mann bietet ihr einen Schluck aus seinem Kuhhorn an. Sie lehnt dankend ab. „Trauen sich wohl nicht, was?“

Giffey zögert. Um sie herum stehen angetrunkene Menschen in Mittelalterhemden. Dann setzt sie, die blonden Haare mit Klämmerchen am Hinterkopf hochgesteckt, das Kuhhorn an. Um bekannt zu werden, reicht es nicht, Chancengleichheit zu propagieren, für Kita-Pflicht und Ganztagsschulen zu kämpfen. Manchmal muss man eben auch Honigwein aus Kuhhörnern trinken, um sich aus dem Schatten seines Vorgängers zu lösen.

Politik: Gemüseläden, Handyshops, Shishabars, Spielcasinos und Spätis prägen das Bild der Hermannstraße.
Gemüseläden, Handyshops, Shishabars, Spielcasinos und Spätis prägen das Bild der Hermannstraße.

Manche Medien beschreiben Giffey als Buschkowskys Ziehtochter. Fast seine ganze Amtszeit arbeiteten sie zusammen. Giffey war 24 Jahre alt, als Buschkowsky sie als jüngste Europabeauftragte Berlins engagierte. Fünf Jahre kümmerte sich Giffey als Bezirksstadträtin um die Schulen. Sie waren ein Team. Selbst im Puppentheater Neukölln gab es die Figuren König Buschi und Prinzessin Franzi. Während Buschkowsky ein SPD-Urgestein ist, haderte Giffey mit dem Parteieintritt. Als Ostdeutsche hatten Parteien für sie einen Beigeschmack. Erst mit 29, nach fünf Jahren im Rathaus, füllte sie den Mitgliedsantrag aus. Sie habe etwas verändern wollen, sagt sie rückblickend. In einer repräsentativen Demokratie gehe das vor allem im Parteiensystem.

Sie habe von Buschkowsky viel gelernt, sagt sie diplomatisch. Vor Ort mit den Leuten sprechen. Die Geradlinigkeit. In ihrem Büro im Rathaus, erster Stock, Zimmer A100, hat sie Buschkowskys Biedermeiermöbel stehen lassen. Nicht, weil sie die so schön findet. „Ich habe Wichtigeres zu erledigen, als hier umzudekorieren“ , sagt Giffey sachlich. Pöbeln als politische Rhetorik liegt ihr nicht.

In Neukölln leben Menschen aus 160 Nationen

Die meisten Probleme in Neukölln sind klar: Fast jeder Dritte bezieht Hartz IV. In Nord-Neukölln verlässt etwa rund ein Drittel der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Gleichzeitig hat sich der Stadtteil zum Sehnsuchtsort für die Bohème mit Bachelor entwickelt. Schräg vor der Rütli-Schule, Synonym für Staatsversagen, fotografieren sich heute Modeblogger mit 150.000 Followern bei Instagram. Noch vor zehn Jahren flogen hier Stühle aus dem Fenster, wurden Lehrer von Schülern bedroht. Heute kommen Politiker aus der Europäischen Union, um sich die Vorzeigeschule anzuschauen. Auch ein Verdienst von Giffey und Buschkowsky.

Politik: Erasmus-Studentin Lena, 21, aus England, hat gerade eine WG in Neukölln gefunden.
Erasmus-Studentin Lena, 21, aus England, hat gerade eine WG in Neukölln gefunden.

In Neukölln leben 328.000 Menschen aus 160 Nationen, so viele Einwohner wie in Bielefeld, mehr Kulturen als irgendwo sonst in Deutschland: In der Weserstraße wohnen Easyjet-Touristen neben Kriminellen neben Studenten. „Die trinken unten Cocktails und wissen nicht, dass über ihnen kriminelle arabische Großfamilien sitzen“ , sagt Franziska Giffey. Südlich der Ringbahn ist Neukölln ein Landidyll mit Reihenhäusern.

Die bekannte Hufeisensiedlung erinnert an eine Bauhaus-Version von Bullerbü. In der Gropiusstadt, deren Charme Christiane F. in ihrem Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ mit „überall nur Pisse und Kacke“ beschrieb, sieht man von den Hochhäusern auf Pferdeweiden. Franziska Giffey selbst ist „Zugezogene“, aufgewachsen in Frankfurt (Oder), Vater Kfz-Mechaniker, Mutter Buchhalterin. Wie viele Studenten zog sie mit neunzehn mit ihrem ersten Freund in Neukölln zusammen, Körnerkiez, Altenbrakerstraße. 49 Quadratmeter, 388 Mark netto kalt. Heute kosten solche Wohnungen über 500 Euro. Die Leute kommen trotzdem.

Franziska Giffey lebt nicht in Neukölln

Jetzt wohnt sie mit ihrem Mann, einem Amtstierarzt, und ihrem Sohn in Friedrichshain. Eine Ausnahme: Die meisten Lokalpolitiker wohnen in ihrem Regierungsbezirk. „Ich hatte noch keine Zeit, eine neue Wohnung zu suchen“ , sagt sie. So richtig passt Franziska Giffey in keine der Welten. Sie ist weder vegane Duttträgerin noch Genossin noch Migrantin. Ihr Ansatz: Bildung für alle. Dann ist keiner ausgeschlossen.

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Wäre Neukölln eine Schulklasse, Franziska Giffey wäre die strebsame Klassensprecherin, dialogbereit, schlagfertig, fleißig. Sie ist nicht Berlinale, roter Teppich, eher Verwaltungsabteilung, Mittelbau. In 365 Tagen als Bürgermeisterin absolviert sie 370 öffentliche Termine, sie besichtigt Modeateliers von Designerinnen, packt Rucksäcke für ankommende Flüchtlinge und sticht Spaten bei Schulneubauten in den Boden. Dazu Bezirksratssitzungen, die Haushaltsplanung von 800 Millionen Euro.

In Neukölln gehen drei Viertel des Geldes für Transferleistungen drauf, für Hartz IV und Wohngeld. Franziska Giffey wird täglich auf der Straße, in den Ausschüssen, in den Akten mit Problemen konfrontiert: Kinder, die sich nicht die Schuhe zubinden können, Hauseigentümer, die ihre Schrottimmobilie zu Wucherpreisen an Roma vermieten. Niedergeschlagen wirkt sie nie. Ist so, muss angegangen werden, könnte ihre Devise sein. Für Metadiskussionen hat sie keine Zeit. Sie steht um sechs Uhr auf, läuft mit ihrem Sohn zur Schule. Abends, wenn sie ihm vorliest, schläft sie manchmal neben ihm ein.

Eine Muslimin zettelt einen Shitstorm an 

Berufliche E-Mails schreibt sie um zwei Uhr nachts. Während Deutschland noch immer über die Frage diskutiert, ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht, stellt sich Giffey diese Frage nicht: „Er ist da, er gehört zum Alltag. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?“ Giffey lehnt religiöse Symbole im Staatsdienst ab. In Neukölln, wo rund siebzig Prozent der Bürger ausländische Wurzeln haben oder Ausländer sind, geht es nicht um Kreuze im Klassenzimmer, sondern ums Kopftuch.

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Ahmed Razi, 30, Mitgründer vom Späti-Verein, meint: Kioske sind Kiezkultur. „Man sagt: Mein Späti. Wer sagt denn: Mein Lidl? Keiner!“

Und es gibt viele junge, gebildete Neuköllnerinnen, die nicht auf ihr Kopftuch verzichten wollen. Was Franziska Giffey im Juni 2015 den ersten Shitstorm einbringt: Die Juristin und Bloggerin Betül Ulusoy, 30, berichtet unter dem Hashtag #schauhin, das Bezirksamt hätte ihr wegen des Kopftuchs den Referendariatsplatz verwehrt. Laut Berliner Neutralitätsgesetz dürfen etwa Kopftuch oder Kippa getragen werden, nicht aber im Bürgerkontakt. Das Bezirksamt hätte Ulusoy die Stelle anbieten müssen. Was Giffey unter Druck auch tut. Heinz Buschkowsky ätzt in seiner „Bild“-Kolumne: „Das Bezirksamt ist blauäugig verträumt in die Falle getappt und wurde bös vorgeführt. “ Der erste Seitenhieb. Am Tag danach sitzt Franziska Giffey hinten im Dienstwagen und antwortet Journalisten per SMS auf die Anfragen. „Ich habe mich einfach ans Gesetz gehalten“ , sagt sie genervt.

Gesetze und Paragrafen sind Franziska Giffeys Amtskoordinaten. Neu eingebürgerte Neuköllner bekommen das Grundgesetz geschenkt. Als ein Kandidat für die Wahlen im September auf seinen VW Passat „Ihr Bezirksbürgermeister 2016“ klebt, lässt Giffey prüfen, ob das gegen Paragraf 132a, Missbrauch von Titeln, verstößt. Noch ist sie die Bürgermeisterin, „House of Cards“ im Rathaus an der Karl-Marx-Straße.

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Mieten in der Weserstraße sind in sechs Jahren um 93 Prozent gestiegen. Jetzt kostet der Quadratmeter meist über zehn Euro.

Im Hochsommer 2015 geht es wieder um das Klein-Klein der Lokalpolitik: Als Neuköllner Kioske – in Berlin „Spätis“ genannt – sich darüber beschweren, vermehrt vom Ordnungsamt kontrolliert zu werden, unterschreiben 37.000 Menschen die Onlinepetition „Rettet die Spätis“. Die Initiatorin trägt Mitte Juli ihr Anliegen in der Bezirksversammlung vor. Dazu sagt Franziska Giffey: „Der Begriff ‚Spätis‘ ist gewerberechtlich nicht definiert.“ Juristisch gesehen richtig.

Neukölln und seine "Späti"-Kultur

Der Hinweis ist allerdings so charmant, als würde der Bürgermeister von Hamburg anmerken, dass „Mexikaner“ südamerikanische Bürger seien und kein Schnaps, der auf der Reeperbahn allabendlich Kehlen verbrennt. „Der Späti ist die neue Eckkneipe“, sagt Ahmed Razi, 30, Besitzer des Kiosks AK44 an der Sonnenallee. Sein politisches Engagement bestand bislang darin, seinen Kunden die linke Tageszeitung „Junge Welt“ statt der „Süddeutschen“ zu empfehlen. Doch jetzt geht es um die Zukunft seines Ladens, Sonntage sind am umsatzstärksten. 11.000 Euro Strafe musste er bislang zahlen, weil er trotzdem geöffnet hatte. Mit sieben anderen Kioskbesitzern hat er fast ein Jahr nach der Onlinepetition den Späti-Verein gegründet. Sie wollen demonstrieren.

„Das Bezirksamt fährt keine Anti-Späti-Strategie – die Sonntagsruhe hat Verfassungsrang. Wenn man etwas ändern will, muss man das Ladenöffnungsgesetz ändern“, sagt Franziska Giffey. Das ist nun Razis Ziel. Junge Linksliberale werden auf Kiezebene, etwa Neukölln versus Prenzlauer Berg, zu Lokalpatrioten. Und zur Kiezkultur gehört auch der Späti. Das scheint Giffey unterschätzt zu haben. „Sie hat ihre eigenen Leute verprellt“, sagen die Chefredakteurinnen des Lokalblogs „neukoellner.net“.

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Die Modeblogger Jacqueline Mikuta, 26, und Clemens Weiß, 29, fotografieren sich oft vor der Rütli-Schule.

Junge Menschen, auch politisch interessierte, engagieren sich noch lange nicht für Lokalpolitik. Trotzdem wollen alle etwas von Neukölln. Sonntags am Späti ihr Bier kaufen. Weniger Hundekacke auf den Straßen. Günstige Wohnungen. Weniger Hipster. Mehr Moscheen. Weniger Moscheen. Giffey wollte zunächst auch nicht Lokalpolitikerin sein. Ihr Kindheitstraum: Lehrerin werden, wie ihre Großmutter. Sie studierte Englisch und Französisch. Nach vier Stunden Schülernachhilfe schmerzte ihr Hals vom Reden. Die Diagnose: Kehlkopfmuskelschwäche, Risiko: Berufsunfähigkeit.

Franziska Giffey wollte Lehrerin werden

„Das war ein heftiger Schlag“, sagt sie. Sie brach ihr Studium ab und fing an, Recht und Verwaltung zu studieren. Jetzt redet sie oft mit Mikrofon. Ihren Erziehungsauftrag erfüllt sie als Politikerin trotzdem: Bei der Einbürgerungsfeier von fünfzig Neuköllnern, auf dem Papier aus Polen, der Türkei, Ghana, dem Libanon, manche in Berlin geboren, bricht sie die Kennedy-Rede („Frag nicht, was dein Land für dich tun kann …“) auf Kiezpolitik herunter: „Nicht jeder kann Lehrer werden, Anwalt oder Polizist. Aber jeder kann etwas für seine Stadt tun.“

Das Klein-Klein wird wieder groß – auch Deutschland diskutiert, wie viel man voraussetzen kann. Wem muss man „das deutsche Wertesystem“ erklären? Und was soll das eigentlich genau sein? Giffey versucht es mit einer empathischen Version der Agenda 2010, Fördern und Fordern. Wählen, Müll rausbringen, guten Tag sagen, das Schmieröl eines Stadtteils. Sie erzählt, dass zukünftig noch mehr Flüchtlinge kommen und alle, die hier sitzen, helfen können. Sie wüssten ja selbst, wie es sei, in einem fremden Land anzukommen. Manche weinen gerührt, andere schießen Fotos.

Politik: In Neukölln liegen nicht nur Fernseher auf der Straße…
In Neukölln liegen nicht nur Fernseher auf der Straße…

Das Geduze, das Hemdsärmelige der SPD, das Buschkowsky ausstrahlt, ist ihr fremd. In der holzgetäfelten Bezirksamtskantine, die nach Bratfett und alter Bundesrepublik riecht, grüßt ein älterer Herr. „Wie sagt man ‚Guten Appetit‘ bei euch Genossen?“, Franziska Giffey schaut irritiert vom Cordon bleu mit Pommes zu ihm auf.

In ihrem Kleiderschrank hängt keine einzige Jeans. Ihr Lieblingsfilm: „Die fabelhafte Welt der Amélie“ . Hobbys: Schwimmen und Radfahren. Sie probiert gar nicht erst, cool zu sein. Sie biedert sich nicht an. Wenn jemand Quatsch redet, verdreht sie die Augen. Bei einem Interview in einer Kneipe kommt die Polizei wegen angeblicher Ruhestörung. Giffey nutzt ihre Stellung als Bezirkschefin aus und beschwichtigt die Beamten. Sie kann auch witzig sein.

Giffey: "Ich bin Anhängerin der Schwarmintelligenz"

Im Herbst 2015 kommen die Probleme der Welt in Berlin zusammen. Plötzlich geht es um Notversorgung, nicht mehr nur um Integration. Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Moabit drängen sich Tausende Flüchtlinge. Die Stimmung heizt sich auf, während die Temperaturen fallen. Zwei Flüchtlinge drohen, sich vom Gebäude zu stürzen, sollte ihr Asylantrag nicht bearbeitet werden. Deutschland, im Sommer noch trunken von der „Wir schaffen das“-Euphorie, nüchtert aus.

Politik: …sondern auch Hunde.
…sondern auch Hunde.

Die Stimmung könne kippen, sagt Franziska Giffey der Boulevardzeitung „B.Z. “ Der Berliner Bürgermeister Michael Müller soll das unmöglich finden. „Wissen Sie“, sagt Franziska Giffey, wie immer, wenn sie etwas erklären will, egal ob ihr Gegenüber CSU-Politiker oder Journalisten bei einer Pressekonferenz sind, „wissen Sie, ich bin Anhängerin der Schwarmintelligenz. Wenn hundert Leute vor Ort sagen, wir haben ein Problem, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass wir wirklich eins haben.“

Flüchtlingspolitik wird zur Zerreißprobe

Anfang November soll eine weitere Turnhalle mit Flüchtlingen belegt werden. Abends fährt sie selbst zur Halle und unterbricht ein Handballtraining: „Das war leider vorerst das letzte Training, wir wissen auch nicht, wann ihr wieder reinkönnt.“ Die Handballer und Freiwillige helfen, die 200 Schaummatratzen auszurollen und die Halle herzurichten. Drei Stunden später rollen Busse mit Flüchtlingen an, so erzählt es Giffey später.

Manche Bürger beschimpfen sie: „Sie reden über Integration und machen gleichzeitig die Sporthallen dicht.“ – „Sie werden das bei den Wahlen zu spüren bekommen.“ Für Franziska Giffey ist das einer der schlimmsten Tage ihres Amtsjahrs. Die Bedürfnisse der einen werden gegen die der anderen ausgespielt. „Es ist Sisyphusarbeit, da kann man schon auch mal kurz zweifeln, wie das alles klappen soll.“

Politik: Bushido rappt: „Komm, wir treffen uns um halb acht, Hermannplatz/ Du willst diskutieren, doch ich zeig dir, wie man Ärger macht.“
Bushido rappt: „Komm, wir treffen uns um halb acht, Hermannplatz/ Du willst diskutieren, doch ich zeig dir, wie man Ärger macht.“

Im Winter ändert sich ihr Ton, sie übernimmt immer mehr die Klartextansagen von Buschkowsky. Bei „Maybrit Illner“ erklärt sie Markus Söder und Sigmar Gabriel, dass Bett und Zahnbürste nicht ausreichen, wenn hunderttausend Menschen kommen. Nach den sexuellen Übergriffen an Silvester in Köln plädiert sie für klare Regeln. Es verletze ihre Ehre, wenn ihr Männer nicht die Hand geben wollen.

Franziska Giffey ist nah bei den Menschen

Zu Beginn von Giffeys Amtszeit dachten die „neukoellner.net“-Chefredakteurinnen, dass die neue Bürgermeisterin Neukölln positiver darstellen wolle. „Das hat sich nach einem Jahr nicht bewahrheitet.“

„Sie sucht das Gespräch“, sagt Ender Cetin, der Gemeindevorsitzende der Sehitlik-Moschee am Columbiadamm. Dreimal war Franziska Giffey in diesem Jahr schon dort, Buschkowsky kam nach 2011 nur einmal. Trotzdem kennen sie immer noch wenig Leute. Alle Buchanfragen, die sie hatte, hat sie abgelehnt. „Die Leute haben mich nicht zum Bücherschreiben gewählt. Erstmal gibt es andere Aufgaben“ , sagt sie. Werbung für sich macht sie, indem sie ihren Job erledigt.

Politik: Ender Cetin, 38, Vorsitzender der Sehitlik-Moschee, ist in Neukölln aufgewachsen.
Ender Cetin, 38, Vorsitzender der Sehitlik-Moschee, ist in Neukölln aufgewachsen.

Franziska Giffey erschafft keine intellektuell angehauchten Utopien eines zukünftigen Zusammenlebens. Manchmal klingen ihre Lösungsansätze so naheliegend und pragmatisch, beinahe banal, dass sie langfristig womöglich Erfolg haben könnten. So lässt sie das leer stehende C&A-Kaufhaus, schräg gegenüber dem Rathaus, zur Flüchtlingsunterkunft umbauen. Im Gefängnisprogramm „Schwitzen statt sitzen“ streichen Straftäter sanierungsbedürftige Schulen. Die Volkshochschule im Einkaufszentrum wird weiter ausgebaut, um sie bürgernäher zu machen. „VHS goes shopping“ heißt das Projekt.

Aus dem Schatten von Buschkowsky treten

Im November 2015 lud Angela Merkel Franziska Giffey ins Kanzleramt ein. Das Pressefoto der beiden wirkt wie ein Sinnbild für einen Politikwechsel. Wo links und rechts als politische Koordinaten der Volksparteien verwischen und kühle Entscheiderinnen laute Testosteronbrocken ablösen, stehen CDU und SPD, die Bundeskanzlerin und die Kiezkanzlerin, einträchtig nebeneinander. Giffey mit gefalteten Händen. Merkel mit Merkelraute. Beide aus der DDR, beide promoviert, zwei Frauen, die sich öffentlich nie als Feministinnen bezeichnen würden, obwohl sie die ersten Frauen in ihren Ämtern sind.

Ist das die Zukunft des Regierens? Vielleicht ist Franziska Giffeys Pragmatismus zumindest einer der positiven Merkel-Effekte: Probleme benennen, Lösungen erarbeiten und ausprobieren. Journalisten fragen sich, ob sie bald in die Bundespolitik aufsteigen werde. Nach einem Jahr im Amt wird Neukölln erstmals als Zukunftsvision diskutiert: Deutschland ist Einwanderungsland – und in Neukölln kann man sehen, was funktioniert und was nicht.

Im September 2016 will Franziska Giffey als Bezirksbürgermeisterin wiedergewählt werden. Gewinnt sie, ist sie Franziska Giffey. Und nicht mehr die Buschkowsky-Nachfolgerin.

Dieser Text ist in der Ausgabe 07/2016 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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