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Wissen »Wenn wir das System nicht ändern , sind wir verloren!«

Slavoj Žižek im Gespräch über Flüchtlinge, politische Strömungen und unser System
Slavoj Žižek im Gespräch über Flüchtlinge, politische Strömungen und unser System
Wieso lassen sich Linke und Rechte nicht mehr unterscheiden? Ist der Westen schuld an dem Unheil auf der Welt? Und wie sollen wir verstehen, was in Köln passiert ist? Ein Treffen mit dem Philosophen Slavoj Žižek, der versucht, das große Chaos namens Gegenwart zu erklären.

Foto: Mariana Costa (CC)

Der Mann am Telefon war ganz aufgeregt gewesen. "These are crazy times, crazy times", rief er immer wieder. Aber genau darüber wollten wir ja mit ihm reden. Wie man in der verrückten, gefährlichen Welt den Durchblick behält und sich nicht aus Angst vor Terror, Pegida und der nächsten Finanzkrise unter der Bettdecke versteckt. Die immer gleiche Frage kreist in unserem Kopf: "Kann das gut gehen?" Wir kennen die Antwort nicht. Deshalb besuchen wir den Mann, der eine Antwort dazu formuliert hat. Es sei der erste Winter ohne Schnee seit Langem, sagt der Taxifahrer auf dem Weg vom Flughafen Ljubljana in die Innenstadt. Die slowenische Hauptstadt liegt friedlich da, am Horizont thronen die Gipfel der Südalpen. Slowenien liegt auf der Balkanroute, über die viele Flüchtlinge nach Europa kommen. Aber man sieht weder Flüchtlinge noch Polizisten (was in diesen Tagen ja außergewöhnlich ist).

Aus einem Neubau im Zentrum tritt ein dicker, bärtiger Mann in Hausschuhen: der Philosoph Slavoj Žižek. Es ist Zufall, dass wir ihn hier in seiner Heimat treffen, eigentlich ist er ständig unterwegs, unterrichtet an der New York University, hält Vorträge, diskutiert auf Podien, schreibt deutsche und englische Zeitungen voll. Žižek ist der Popstar der Philosophie. Berühmt geworden ist er als verrückter, zotteliger Theoretiker der Psychoanalyse, der "Elvis der Kulturtheorie". Aber je schlimmer die Krisen werden, desto präsenter wird Žižek. Mit seinen Essays und Kommentaren ist er in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Intellektuellen Europas geworden. Zuletzt schrieb er das Buch "Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror". Aber er äußert sich auch zur Eurokrise und dem weltweiten Aufstieg der Rechtspopulisten. Die unterschiedlichen Probleme haben laut Žižek eine gemeinsame Ursache: dass die Revolution bislang ausgeblieben ist. Das aktuelle Chaos sei eine Folge davon, dass die klassische linke Utopie nicht mehr funktioniere. Oder, wie er mal sagte, dass wir uns das Ende der Welt eher vorstellen können als das Ende des Kapitalismus.

Philosoph Slavoj Žižek über Flüchtlinge, unsere Orientierung und Angst

Slavoj Žižek wurde 1949 in Ljubljana geboren. Die heutige Hauptstadt Sloweniens gehörte damals zum sozialistischen Jugoslawien. Žižek studierte in seiner Heimatstadt und in Paris Philosophie, Soziologie und Theoretische Psychoanalyse. 1989 erregte er mit seinem Buch "The sublime Object of Ideology" erstmals Aufmerksamkeit. Žižek beschäftigt sich in seinen Arbeiten unter anderem mit dem Marxismus und dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan. 2014 erschien seine 1400 Seiten lange Großstudie "Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus". Žižek unterrichtet an der Universität von Ljubljana sowie als Gastprofessor an der NYU, der Columbia University und in Princeton. Als Essayist schreibt er für viele internationale Medien.

Wir haben die Orientierung in der politischen Landschaft verloren. Das macht mich traurig

Herr Žižek, haben sie manchmal auch Angst?

Ja, ich bin tatsächlich sehr besorgt. Es gibt diesen schönen Begriff der "kognitiven Landkarte". Damit ist gemeint, dass man eine ganz allgemeine Idee davon hat, wo wir politisch und gesellschaftlich stehen, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Und diese Art von Karte fehlt uns mehr und mehr. Wir haben die Orientierung in der politischen Landschaft verloren. Das macht mich traurig. Das ist auch der Grund, warum all diese Verrückten so eine Hochkonjunktur haben. Eine verwirrende Situation ist gut für Verschwörungstheoretiker, religiöse Fundamentalisten und Rechtspopulisten.

In den vergangenen Jahren hieß es immer, dass die alten politischen Begriffe wie "links" und "rechts" ausgedient hätten. Trotzdem sprechen wir jetzt wieder dauernd von Rechtspopulisten wie Donald Trump und Björn Höcke. Was verstehen sie unter dem Begriff?

Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte im Westen tatsächlich diese klassische politische Landschaft: moderate linke Sozialisten auf der einen Seite, moderate rechte, christliche Konservative auf der anderen. Inzwischen stehen sich jedoch eher neutrale, kulturell offene Technokraten und Rechtspopulisten gegenüber, die Zuwanderung rigoros ablehnen. Diese neuen Rechtspopulisten füllen eine Lücke, die entsteht, weil die Linke immer schwächer wird. Viele Wähler des französischen Front National waren früher Kommunisten. Die Front-National-Chefin Marine Le Pen gehört zu den wenigen Politikern in Frankreich, die sich noch direkt an die Arbeiterklasse wenden. Sie ist da rhetorisch und demagogisch äußerst geschickt, sagt beispielsweise: "Meine Feinde sind nicht die Araber, ich heiße hart arbeitende Araber willkommen. Meine Feinde sind reiche Spekulanten und Kapitalisten, die die Arbeiterklasse ausbeuten."

Gleichzeitig klingen manche vorgeblich linken Bewegungen immer mehr wie Rechtspopulisten. Auch die Linken-Chefin Sahra Wagenknecht fordert eine Obergrenze für Flüchtlinge und wird dafür von AFD-Politikern gelobt. Da entstehen seltsame Allianzen.

Auch die linke Partei Podemos aus Spanien sehe ich sehr kritisch. Die haben ebenfalls die Flucht in diesen inhaltsleeren Populismus angetreten. Der Podemos-Vorsitzende sagte kürzlich: "Links, rechts, Ideologie wir brauchen das alles nicht, wir brauchen nur eine ehrliche Regierung, die dem Volk dient!" Provokant gesagt: Ich kann mir einen waschechten Faschisten vorstellen, der mit dem Podemos-Programm total einverstanden ist: Naturschutz, Rückbau der EU und eine Volksregierung, die sich um die Armen kümmert.

Was Rechte und Linke früher unterschied, war, dass letztere bedingungslos die Unterdrückten dieser Erde und ihre Befreiungskämpfe unterstützten. Heute gibt es in Afrika oder im Nahen Osten aber keine sozialistischen Revolutionäre mehr, die man unterstützen könnte. Stattdessen haben mörderische Fundamentalisten wie der IS und Boko Haram erfolg.

Das ist das große Dilemma. Nehmen wir einmal Boko Haram als Beispiel. Die wollen ja schon eine Bewegung sein, die die Gesellschaft von Grund auf verändert. Und was ist der Hauptprogrammpunkt dieser Revolutionäre? Keine westliche Bildung für Frauen! Das ist doch paradox: eine globale politische Bewegung, deren größtes Anliegen es ist, die Unterdrückung der Frauen aufrechtzuerhalten. Ich habe in London mal mit einem Boko-Haram-Sympathisanten gesprochen, der mir sagte: Das ist eben unser Antiimperialismus!

Man wehrt sich gegen die Ausbeutung durch den Westen, indem man im eigenen Land die Frauen unterdrückt?

Denken Sie an die Menschen im Norden Nigerias welche Auswirkungen hat die ökonomische und politische Macht des Westens in dieser Region? Als Allererstes werden alte Familienbande und die komplexe Stammesgesellschaft aufgelöst, in der Frauen unterdrückt werden.Für diese Leute bedeutet Neokolonialismus, dass ihre traditionelle Lebensweise bedroht ist. Und so wird der Kampf gegen Frauenrechte zu einem antiimperialistischen Kampf. Auf eine perverse Art werden die größten emanzipatorischen Errungenschaften des Westens in vielen Teilen der Dritten Welt als Teil der neokolonialen, imperialistischen Ideologie betrachtet. Das ist die größte Tragödie der Gegenwart: dass der Kampf der Dritten Welt gegen den Imperialismus und unser Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen und die Einführung der Schwulenehe dass diese beiden Kämpfe gegeneinanderstehen.

Wie kann man sich in diesem Dilemma positionieren, ohne die eine oder die andere Seite zu verraten?

Lassen Sie mich es so formulieren: Ich bin ein strategisch moderater Eurozentrist. Deswegen werde ich auch von so vielen Linken attackiert, die mir Vorwürfe machen: "Wieso hältst du "unsere", die europäische Art, zu leben, so hoch? Das ist imperialistisch!"

Die selbstkritische europäische Reaktion konnte man auch nach den Anschlägen in Paris beobachten: Der erste Reflex war nicht, um die Opfer zu trauern, sondern die Schuld bei uns selbst zu suchen.

Finden Sie das nicht auch furchtbar ermüdend? Dieses gewaltige Über-Ich vieler europäischer Linksliberaler, die nur Selbstbestrafung kennen? Diese Leute haben zwei Grundsätze. Erstens: Wann auch immer etwas schiefgeht, ob in Europa oder in Entwicklungsländern, ist es immer irgendwie unsere Schuld. Und zweitens: Die ach so tollen Menschenrechte des Westens sind nur eine Maske für unseren Imperialismus. Es ist geradezu Mode geworden, davon zu sprechen, dass Europa im Verfall begriffen sei und in der Krise stecke. Dabei lieben Menschen auf der ganzen Welt das europäische Projekt. Es muss doch etwas Gutes in Europa geben, wenn Millionen hierherkommen wollen!

Wollen sie sagen, dass Europa und der Westen überhaupt keine Schuld haben an den aktuellen Problemen?

Natürlich nicht. Aber wir sollten weniger über den "ideologischen Imperialismus" reden und uns mehr mit den Auswirkungen des globalen Kapitalismus beschäftigen. Und mit der Logik militärischer Interventionen. Ich lehne Intervention nicht grundsätzlich ab, bin aber der Meinung, dass man solche Unternehmungen strategisch besser durchdenken muss. Warum dämonisieren wir den IS, statt uns eine simple Frage zu stellen: Wie kann es sein, dass diese Bewegung überhaupt überlebt? Ohne dass sie insgeheim von Staaten wie Saudi-Arabien oder der Türkei toleriert würde, wäre sie längst kollabiert. Auf diese Länder müssen wir Druck ausüben, um den IS wirklich zu isolieren. Ich glaube nicht an das linke Standardargument, das da lautet: "Man kann Terror nicht mit Terror bekämpfen." Meine Frage ist viel zynischer: Meinen wir das mit dem Krieg gegen den Terror überhaupt ernst?

Während wir uns hier in ihrer Wohnung in Ljubljana unterhalten, fliehen Menschen aus dem Nahen Osten über die Balkanroute nach Europa. Wie erleben Sie die Flüchtlingskrise?

Das größte Chaos ist vorbei. Inzwischen ist das alles ganz gut geregelt. Die Flüchtlinge kommen hier mit dem Zug an und der Zug fährt weiter nach Österreich, Deutschland und Schweden. Was die Slowenen anfangs ein wenig irritiert hat, war die Tatsache, dass viele Flüchtlinge, die bei uns eintrafen, sich unser Land angesehen haben und dann meinten: "Nein, hier wollen wir nicht bleiben, Slowenien ist uns zu arm."

Jetzt klingen sie selbst wie ein Rechtspopulist.

Ja, ich weiß, dann fragen sofort wieder alle nach meinem Pegida-Mitgliedsausweis. Ich bin mir natürlich sicher, dass die allermeisten der Flüchtlinge aus Not zu uns kommen. Die Flüchtlinge berufen sich auf das Recht, ihr Reiseziel und ihre Route frei wählen zu dürfen eine Freiheit, die für Europäer selbstverständlich ist. Aber die Flüchtlinge verstehen unter Bewegungsfreiheit implizit auch, dass sie sich das westliche Land aussuchen können, in das sie wollen, und dass dieser Staat dann die Sozialfürsorge für sie zu übernehmen hat. Das ist verrückt. So kann es nicht funktionieren. Europa muss sich in die Lage versetzen, die Flüchtlingsströme kontrollieren zu können.

Die Versuche, Migranten über ihren Sexismus aufzuklären, sind Beispiele atemberaubender Blödheit.

Aber warum ist es so undenkbar, dass sich Flüchtlinge frei in Europa bewegen? Die Reisefreiheit kann doch nicht nur das Privileg des reichen Westens sein.

Das große Problem ist, dass die Flüchtlinge einen Traum haben, der sich am Ende als unmöglich erweist: Sie wollen die kapitalistische Freiheit und den Sozialstaat. Aber die Kehrseite des Kapitalismus ist nun mal, dass man ganz brutal auf sich alleine gestellt ist. Das aber wollen die Flüchtlinge auch nicht, sie beschweren sich dann: Wo sind die besseren Wohnungen? Wenn man solch einen paradoxen Traum verfolgt, geht das immer böse aus. Viele Flüchtlinge werden deshalb enttäuscht sein, womöglich gewalttätig werden und sich nicht integrieren. Und an diesem Punkt wird mir immer wieder vorgeworfen, ich sei ein Rassist. Wir müssen sicherstellen, dass es eine tolerante Koexistenz zwischen Europäern und Neuankömmlingen gibt. Was mich an vielen Linken aufregt, ist, dass sie dieses Problem nicht sehen wollen. Einerseits predigen sie einen radikalen Feminismus, man guckt eine Frau eine Sekunde zu lang an und wird der visuellen Vergewaltigung bezichtigt. Da sind sie hypersensibel. Andererseits sind sie gegenüber fremden Traditionen, die auf die Rechte der Frauen keine Rücksicht nehmen, viel zu tolerant. Da müssen Grenzen gezogen werden.

Diese Debatte führen wir in Deutschland verschärft, seit in der Neujahrsnacht am Kölner Hauptbahnhof junge, meist nordafrikanische Männer viele Frauen sexuell belästigten und ausraubten. Was nun alle beschäftigt, ist: Inwieweit steht dieses Ereignis im Zusammenhang mit den kulturellen Gegebenheiten der Einwanderer? Und: Kann man das verallgemeinern?

Die Medien erzählen ja gerne die Geschichte vom guten, gebildeten syrischen Flüchtling, der sogar seinen Müll wegräumt. Dem wird der "barbarische" Flüchtling gegenübergesetzt, der aus der Unterschicht kommt, der stiehlt, Frauen sexuell bedrängt und in der Öffentlichkeit defäkiert. Man kann das alles als rassistische Propaganda abtun, aber man sollte den Mut zusammennehmen, darin auch das Fünkchen Wahrheit zu sehen: Grausamkeit gegenüber Schwachen ist traditionell ein Merkmal der Unterschicht, auch in Europa. Eine Strategie, um gegen die Mächtigen aufzubegehren, bestand schon immer darin, das Anstandsgefühl der Mittelklasse durch Brutalität zu stören. Und ich bin versucht, das, was in Köln und anderen deutschen Städten passiert ist, auf diese Art und Weise zu interpretieren: ein obszöner Karneval der Unterschicht. Wie erwartet versuchen die politisch korrekten Linksliberalen, den Vorfall herunterzuspielen. So war es auch nach Rotherham.

Im englischen Rotherham haben mehrheitlich pakistanische Männer jahrelang junge Frauen und Mädchen missbraucht und verschleppt. Die Verbrechen wurden auch deswegen nicht aufgeklärt, weil die Behörden Angst vor Rassismusvorwürfen hatten.

Was in Köln passiert ist, war kein Ausbruch der Bedürfnisse junger, sexuell ausgehungerter Männer, das hätten die ja in einem diskreteren Rahmen erledigen können. Das war vor allem ein öffentliches Spektakel, mit dem die frustrierten und neidischen Ausgeschlossenen Angst und Erniedrigung in der Gesellschaft verbreiten wollten. Sie wollten den privilegierten westlichen Schwächlingen ihre eigene Hilflosigkeit vorführen, die sie als schmerzhaft erleben. Natürlich hat so ein Karneval nichts Emanzipatorisches oder Befreiendes an sich. Darum sind auch all die naiven Versuche, Immigranten aufzuklären, Beispiele von atemberaubender Blödheit. Man will ihnen dann erklären, warum unsere Sexualmoral eine andere ist und dass Frauen, die in der Öffentlichkeit im Minirock herumlaufen und lächeln, damit keine sexuelle Einladung signalisieren. Aber die Täter von Köln wissen all das ja und genau darum tun sie, was sie tun. Sie wollen uns verletzen. Unsere Aufgabe ist nicht, ihnen zu erklären, was sie eh wissen, sondern ihren Neid und ihre Aggressionen zu behandeln.

Hilft dabei das Engagement, das viele Deutsche als Helfer in Flüchtlingsunterkünften an den Tag legen?

Das ist natürlich für sich genommen toll, aber es ist nicht genug. Ja, viele Menschen werden aktiv und helfen. Aber die Mehrheit der Gesellschaft tut nichts. Und man engagiert sich auch nur so lange, wie es nicht wehtut.

Trotzdem ist ein bisschen Hilfe besser als gar keine. Und es ist doch wichtig, die Menschen, die zu uns kommen, kennenzulernen.

Der entscheidende Punkt ist doch, dass wir das Problem gar nicht erst auf dieser Ebene formulieren sollten, auf der Ebene von "Verständnis" und "Charity". Es heißt immer, dass man, wenn man Flüchtlinge erst kennenlernt, schon merken wird, dass das alles gute Menschen sind. Aber was ist, wenn man sie kennenlernt und sie stellen sich als gemein und habgierig und brutal heraus? Nicht weil sie anders sind, sondern weil diese Eigenschaften menschlich sind. Was Integration angeht, bin ich auf der Seite von Peter Sloterdijk, der sagt: Wir sollten lernen, eine Kultur der Distanz zu pflegen. Es ist nicht mein Ideal, in einem großen Haus mit Koreanern, Afrikanern, Arabern und Juden zu leben und meine Geschichte mit denen der Mitbewohner auszutauschen.

Ich recycle auch meinen Müll – aber das dient ja nur dazu, von den echten Problemen abzulenken.

Wie sieht denn dann bitte Ihr Ideal aus? Alle ethnischen Gruppen leben in ihren Vierteln?

Nein. Wir leben in einem großen Haus, in dem wir uns ganz freundlich ignorieren. Und vielleicht passiert ein Wunder und man schließt mal mit jemandem Freundschaft. Aber das geht nur ohne diesen Druck, dass ich die Kultur und die Lieder der anderen kennen muss. Das ist die Herausforderung: Wie etabliert man eine nicht rassistische Form der Distanz? Und langfristig ist die Lösung doch sowieso nicht, dass die armen Menschen der ganzen Welt nach Europa kommen! Ich weiß, das klingt immer bombastisch und fast utopisch, aber ich behaupte, die einzig mögliche Lösung ist, das internationale Wirtschaftssystem so zu ändern, dass keiner mehr nach Europa kommen muss.

Eine unrealistische Utopie.

Okay, wenn das eine Utopie ist, dann sind wir alle verloren.

Žižek hat sich inzwischen in Rage geredet, es wird immer schwerer, ihn zu unterbrechen und Nachfragen zu stellen. Er gestikuliert wild herum, spuckt, springt in der Argumentation von einem Punkt zum nächsten, von den Diktatoren Afrikas über die postapokalyptischen Visionen Hollywoods zur Political Correctness der amerikanischen Linken, die ihn so aufregt. Seine Stimme ist tief und rau, er spricht mit einem starken Akzent. Immer wieder stößt er seltsame Laute aus, Arghs und Grrrs. Wenn man die Augen schließt, könnte man auch glauben, man habe einen Piraten aus einem Disney-Film vor sich. Keinen bösen Piraten, aber einen sehr besorgten. Immer wieder betont Žižek, dass er am Ende Pessimist sei.

Sehen Sie die Welt nicht etwas zu düster?

Viele Leute fragen mich: Warum soll man überhaupt etwas Grundlegendes ändern? Sind die Überbleibsel des Sozialstaats, die wir haben, nicht doch die beste Gesellschaft, die gerade möglich ist? Aber ich sehe wenig Gründe für Optimismus. Die Anzeichen häufen sich, dass es so nicht für immer weitergehen kann. Wenn wir die aktuellen Entwicklungen nicht stoppen, werden wir immer mehr Phänomene wie die Flüchtlingskrise oder die Europroblematik sehen. Nur ein Beispiel: Wenn wir den Klimawandel nicht aufhalten, wird es im Südirak, in Katar und den Arabischen Emiraten irgendwann selbst für die einheimische Bevölkerung zu heiß. Was wird dann passieren? Wo werden diese Menschen hingehen? Hier ist doch eindeutig eine Grenze des Kapitalismus erreicht. Wir brauchen supranationale Lösungen. Es ist dringend notwendig, dass wir einen gemeinsamen Mechanismus finden, der den globalen Markt von oberhalb steuert.

Weil die Menschen den Institutionen nicht mehr vertrauen, versuchen sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Viele bemühen sich, ihren Lebensstil zu ändern und nachhaltiger zu leben. Hilft das?

Nein, unsere Probleme sind so groß, dass lokale Initiativen, die dafür sorgen wollen, dass die Leute sparsam mit Wasser umgehen, nicht weiterhelfen. Ist ja alles nett, ich recycle auch meinen Müll. Dieser individuelle Konsumverzicht ist mir aber auch immer sehr verdächtig, weil er davon ablenkt, wo die großen, echten Probleme liegen. Denn eigentlich müsste man die Arbeitsweise der großen Konzerne verändern. Aber das ist die großartige Strategie des Kapitalismus, die das Über-Ich aktiviert: Jeder Einzelne wird persönlich verantwortlich gemacht. Statt die Gesellschaft als Ganzes zu kritisieren, wird man gefragt: Was tust DU? Hast DU genug getan? Plötzlich wird man selbst zum Schuldigen. Und dann bietet dir das System mit dem Konsumverzicht auch noch einen einfachen Ausweg an: Kauf Biofleisch und du kannst dich so fühlen, als hättest du deine Pflicht gegenüber Mutter Natur erfüllt. Es ist ein sehr interessantes Phänomen, dass ökonomische Prozesse einerseits immer alternativloser und zwingender erscheinen und andererseits so getan wird, als wären wir Individuen frei und könnten selbstverantwortlich Entscheidungen treffen.

Lenken wir uns dadurch also nur von den echten Problemen ab?

Wir sagen uns dauernd: Ja, wir sind schuldig, schuldig, schuldig! Vielleicht sind wir das ja tatsächlich, aber dann sollten wir endlich was tun und damit meine ich große ökonomische Veränderungen! Das würde der Menschheit viel mehr helfen, als dass wir aus schlechtem Gewissen immer mehr Flüchtlinge aufnehmen. Aber die Linke begnügt sich leider mit politischer Korrektheit und Moralisieren. Die Linksliberalen wollen sich narzisstisch selbst bis in alle Ewigkeit analysieren: Habe ICH irgendetwas Falsches gesagt? Über die ökonomischen Fragen denkt dann keiner mehr nach. Das ist die wahre Tragödie.

Dieser Text ist in der Ausgabe 03/2016 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine im iTunes Store, Play Store und bei Amazon. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.

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