Anzeige

Freizeit Die Fluchthelferin

Freizeit: Die Fluchthelferin

Sie war die Sensation Anfang des Jahres: Julia Engelmann verzauberte alle mit ihrem Poetry-Slam »Eines Tages, Baby/Reckoning Text.«Dass sie kein One-Hit-Wonder der Poesie ist, beweist sie nun mit ihrem neuen Buch. »Eines Tages, Baby« heißt es sinnigerweise – und es enthält einige Gedichte, die vor der Zeit ihres Erfolgs geschrieben wurden.(Zur Leseprobe geht es hier.) Auch dieses Buch löste schon jetzt einen Hype aus: Etliche Menschen schickten Julia Engelmann ein Foto, sobald sie es in Händen hielten: Die Collage kann man auf ihrer Facebookseite bewundern. NEON-Redakteurin Nora Reinhardt hatte das Glück, eines der seltenen Interviews zu ergattern – und durfte gleich einen Tag mit dem Shootingstar in Bremen verbringen. Wie das war? Ziemlich super:

Text: Nora Reinhardt | Fotos: Kathrin Spirk

Julia Engelmann wurde durch ein Youtube-Video mit schlichten Carpe-diem-Weisheiten berühmt. Warum ist das Land so begeistert von ihr?

Das Internetphänomen sitzt in der Sonne. ­Julia Engelmann, 21, momentan Deutschlands bekannteste Poetry-Slammerin, wartet im Café Marianne in Bremen und trinkt einen Pfefferminztee.

Ein Videomitschnitt ihres Auftritts auf ei­nem Poetry-Slam im Audimax der Uni Biele­feld hat Julia Engelmann berühmt gemacht. »One Day/Reckoning Text« nannte sie ihren fünf Minuten langen Vortrag. 1200 Zuschauer in der Uni, knapp sechs Millionen Klicks im Internet. Julia Engelmann tauchte in Tausenden Facebook-Timelines auf. Die meisten schrieben so etwas wie »Einfach wow!!« darunter, aber auch die Kulturchefin der »Zeit« schwärmte: Die junge Frau mit der Jeansjacke und dem Pferdeschwanz sei »die jüngste und sympathischste Verkörperung der Melancholia, die sich seit Dürers Zeiten ihrer Wehmut ergibt«. Jörg Pilawa gab zu, dass allein vierzig Klicks von ihm seien, und Til Schweiger war den Tränen nahe. Natürlich mochte nicht jeder das Video. Der Moderator Jan Böhmermann ­etwa nannte es ein »volkstümliches Rührbröckchen«. Aber die Kritik hielt sich in Grenzen.

In ihrem Text beklagt Julia Engelmann, ihr Leben sei ein Wartezimmer und keiner rufe sie auf. Sie fordert, endlich mal loszuleben. Auf Dächer steigen, singen und Gutes tun, eine Nacht durchmachen, Buddenbrooks lesen, ­solche Dinge. Mehr nicht. Wie konnten so nette, korrekte Botschaften derart einschlagen? Oder war noch irgendjemandem unklar, dass das Leben endlich ist? Wieso hat sich eine Nation in dieses Mädchen verliebt?

Klar, der Text ist gut. Er hat Flow. Und der Auftritt war einfach süß: eine blonde junge Frau, allein vor einem Mikrofon, im Hintergrund kauern ein paar Studenten auf dem ­Boden. Engelmann wirkt schüchtern in dem Video, etwas staksig, und trägt ihren Text mit Pathos vor, absolut ironiefrei, wie ein Manifest. Das ist außergewöhnlich – in einer Zeit, in der fast jeder das, was er sagt, im nächsten Moment durch einen Gag ins Lächerliche zieht. Und es ist keine brodelnde Generation, der ­Julia Engelmann da eine Stimme gibt, da ist keine Wut, kein Wir-gegen-die, Widerstandsgeist nur gegen die eigene Bequemlichkeit; mal ein Buch zu lesen, würde schon langen.

In Bremen nun, vor dem Café Marianne, wirkt Julia Engelmann nicht im Geringsten schüchtern und auch nicht so teeniehaft wie im Video. Schwarzer Mantel, goldene ­Knöpfe. »Lass uns nachts lange wach bleiben, aufs höchste Hausdach der Stadt steigen, lachend und vom Takt frei die allertollsten Lieder singen. Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen, wie sie zu Boden reisen, und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind.« Zwei Sätze aus »One Day/Reckoning Text«. Also auf ein Bremer Dach, singen und Konfetti schmeißen.

Das Konfetti möchte sie im Ein-Euro-Shop kaufen. Auf dem Weg dahin erzählt sie, dass der Auftritt in der Uni kein »magischer Moment« gewesen sei, weder für sie noch für die Zuschauer: Sie flog in der ersten Runde raus. Danach verkauften alle Slammer ihre Bücher, und Engelmann stand verloren – sie sagt: »awkward« – mit ihren selbst kopierten Texten rum. Die Uni sagte ihr Bescheid, als sie das Video online stellte, Engelmann schaute es »nicht mal bis zum Schluss«. Erst ein halbes Jahr danach postete es ein Blogger. Und plötzlich verbreitete sich das Video rasant.

Es ist wohltuend, etwas Einfaches zu ­hören. Das Gefühl, das Julia Engelmann anspricht, kennt jeder: Wohin mit mir, und sollte ich nicht endlich? Syrische Innenpolitik kennt nicht ­jeder. Sätze wie »Mein Patronus ist der Schweinehund« und »›Ach, das mach ich später‹ ist die Baseline meines Alltags« kann man sich in einem Audimax nicht so gut merken, aber nach nochmaligem Hören super twittern und posten. Außerdem hat Engelmann wirklich eine Ausstrahlung, die man nicht inszenieren kann. Charisma.

Wer heute unglücklich ist, gibt nicht der Obrigkeit die Schuld, sondern sich

Im Ein-Euro-Shop entdeckt Julia Engelmann eine Smartphonehülle in Tarnfarben, auf der steht: »Sei realistisch, versuch das Unmögliche!« Sie lacht. Ihr Thema. Ist das nicht bedenklich, wenn die eigene Botschaft auf eine Handyhülle passt? »Natürlich ist meine Aussage an sich banal. Aber das bedeutet ja nicht, dass sie nicht wahr ist. Und dass man sie nicht sagen sollte, wenn man in seinem Umkreis merkt, dass es trotzdem keiner umsetzt.« Auch wieder wahr. »Yolo« wurde Jugendwort 2012. Die Punks wollten die Revolution, die Achtziger waren verschwenderisch, Grunge zerstörerisch, und heute – tritt man die Revolution mehr nach innen als nach außen an. Wer unglücklich ist, gibt nicht der Obrigkeit die Schuld, sondern sich. Niemand geht auf die Barrikaden, es ist schon kühn, die Wohnung nachts um vier aufzuschließen. Wer eine Flucht vom Alltag will, hat in Julia Engelmann die Fluchthelferin gefunden.

Eine Bekannte von Engelmann hat ein hohes Hausdach. Engelmann steigt die schmale Eisenleiter hinauf, das Weserstadion ist ganz nah. Das Wetter ist schön, Engelmann turnt auf einer Dachzinne herum, wirft Konfetti in die Luft, singt Songs von Marteria und Aloe Blacc. Sie blickt auf das Stadion, wirft noch eine ­Ladung Konfetti in die Luft und witzelt: »Auf den Abstieg von Werder Bremen!« Seltsam ist: Das Amüsieren auf Ansage funktioniert wirklich, der geplante kleine Exzess, dank eines Triumphs über die selbst gemachte Routine. Vielleicht ist das genug.

Julia Engelmann hat Hunger, in einem Café isst sie eine Blumenkohl-Karottensuppe. Sie ist Veganerin auf Probe, einen Monat lang, bis zum nächsten Wiedersehen mit dem Veganer Tim Bendzko. Sie tritt seit Kurzem vor dessen Konzerten mit einem ihrer Texte als eine Art Vorband auf, oft mit »Stille Wasser sind attraktiv«, einer Liebeserklärung. Ist sie verliebt? »Das möchte ich weder dementieren noch bestätigen«, sagt sie – mit ironischem Ton, aber eine Antwort will sie wirklich nicht geben. Wird sie eigentlich jetzt auf der Straße erkannt? »Ja, aber häufiger wegen der Serie.«

Von 2010 bis 2012 drehte sie in Köln für die Vorabendserie »Alles was zählt«, sie spielte eine Eishockeyspielerin. Wie ging das neben der Schule? »Das war nicht nebenher.« Sondern? »Hauptberuflich. Ich habe mit sechzehn Abitur gemacht.« Julia Engelmann hat die erste Klasse übersprungen. »Ich weiß, das klingt so, als hätte man die Knetmännchen besser hingekriegt als die anderen und wurde dann in die zweite Klasse zum Laternebasteln befördert.« Nach vier Wochen fiel jedenfalls auf, dass ­Julia lesen, schreiben und rechnen konnte. Nach der sechsten kam sie dann in die achte Klasse. IQ bekannt? »Ich möchte darüber nicht sprechen.« War sie, mit sechzehn, die jüngste Abiturientin Bremens? Sie nickt. Es ist ihr ernsthaft unangenehm, nur warum? Weil sich damit nicht eine ganze Generation identifizieren kann? Weil es angeberisch wirken könnte? Sie tut das Thema mit einer Witzelei ab: »Mein IQ ist aber noch im dreistelligen Bereich.«

Trotzdem: Je mehr Zeit man mit Julia Engelmann verbringt, desto mehr begreift man, wie sehr dieses Video zu ihrem Leben passt. Nicht zu wissen, was man möchte, ist ja oft eine Folge zu vieler Möglichkeiten statt zu weniger. Sie schauspielerte, am Bremer Theater, in der Soap, begann ein Philosophiestudium, entdeckte Poetry Slam, jetzt studiert sie Psychologie, ist mit Tim Bendzko auf Tour. Im Mai erscheint ihr erster Gedichtband im Goldmann Verlag: »Eines Tages, Baby«. Wie erklärt sie sich den Erfolg des Videos, in einer Zeit, in der sich Lady Gaga auf der Bühne ankotzen lassen muss, um wahrgenommen zu werden? »Ehrlichkeit«, sagt sie, ohne zu überlegen.

Ein Rentner beschimpft sie. Er droht Engelmann mit der Polizei

»Einmal hätte ich fast die ›Buddenbrooks‹ gelesen«, sagt sie in »One Day/Reckoning Text«. Na dann. Sie setzt sich auf eine Wiese, blau von den Krokussen. Julia Engelmann will die »Buddenbrooks« seit der sechsten Klasse lesen. Das Taschenbuch hat ein paar Esels­ohren. In dem Moment, in dem sie anfangen möchte, beschimpft sie ein Rentner. Er droht mit der Polizei, vermutlich weil sie eine Blume platt sitzt. Julia Engelmann steht sofort auf, keine Widerworte. Nein, eine Rebellin ist sie nicht. Aber wer sechs Millionen Klicks bei Youtube erreicht, muss wohl massenkompa­ti­bel sein. Um das Buch woanders zu lesen, ist dann doch keine Zeit mehr. Engelmann schaut auf die Uhr in ihrem Smartphone. Sie muss zu einem Abschiedsessen – zwei Mitbewohner ziehen aus –, sie muss noch eine Freundin drücken, die einen Studienplatz in Schweden bekommen hat, und morgen fährt sie mit dem Zug nach Luxemburg auf einen Poetry Slam.

Am Abend kommt eine SMS von ihr. Sie hat eine »Buddenbrooks«-Buchseite foto­grafiert und angehängt. Dazu schreibt sie, das Buch nehme sie sich jetzt wirklich vor. Mit dem Anfangen ist es ihr ernst.
Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom Mai 2014 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.