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Freizeit Das NEON Musiktribunal #2

Freizeit: Das NEON Musiktribunal #2
Helmut Mauró – Klassikkritiker der Süddeutschen Zeitung

Es ist natürlich einfach, sich beim Musik hören (und kritisieren) auf die Sachen zu konzentrieren, die man eh schon spannend, eh schon fresh, eh schon supertoll findet. Nur umgibt einen im Alltag ja etwas ganz anderes. Im Autoradio, im Kaufhaus-Fahrstuhl, auf der Geburtstagsparty des kleinen Bruders steht man nicht inmitten plätschernder Klangbächlein voller musikalischer Preziosen, auf deren Kenntnis man sich ach was nicht alles einbildet. »Oho, ein seltenes Bootleg von Hastenichgesehen..« Nein! Man steht bis zum Hals im Mainstream. Und der ist manchmal klebrig oder miefig, aber: Er hat die Kraft des breiten Stroms. Und wenn man mal die Hand reinhält, findet man auch Interessantes.

In der neuen Musikkolumne kommen deshalb ab jetzt immer in der ersten Woche des Monats die Top Drei der deutschen Singlecharts auf den Horchstand. Es lauschen:

Patrick Morgan – Programmdirektor des Radiosenders bigFM
Lars Gaede – Musikredakteur von NEON

David Guetta feat. S. Martin – Dangerous

Patrick Morgan Was hat das mit House zu tun? Wo ist das Tempo? Was ist mit dem Beat los? Ungewöhnliche Klänge: Klavier, Celli und Kontrabass im Intro vereint. Der Titel strahlt keine »Gefahr« aus. Ganz im Gegenteil der Song beginnt ruhig, warm und organisch. Mutig für einen DJ. Die passende Stimme liefert Sam Martin. Typisch Guetta, er findet immer den Richtigen für die Vocals oder habt ihr schon mal was von Sam Martin gehört? Ein Clubbanger wird der Titel nicht, aber das muss er auch nicht. »Dangerous« ist schlicht, einfach und unglaublich eingängig. Mehr muss gute Popmusik nicht bieten. Ich finde den Song gut.

Lars Gaede David Guetta ist ein musikalsicher Schlägertyp. Man hat von ihm schon so oft die Guettaschelle ins Gesicht bekommen – den immergleichen Wechsel zwischen lieblich-harmlosen Gesangsparts und brutalem Rummelbudentechno – das man kein Lied dieses Mannes angstfrei hören kann. Einfach zu brutal. Dieses »Dangerous« aber ist anders. Fängt pianokitschig an, dann knödeln sich die Synthies bis zum üblichen Bombastcrescendo und dann spaziert da aber plötzlich so ein ganz ungefährlicher Funkbeat daher und dieser nette junge Mann singt da ein bissschen drüber und läuft ganz locker es groovt sogar ein bisschen. Und dann? Ist es das? Kann nicht sein. Bei Guetta wird es immer schlimm. Ein Takt folgt dem nächsten, man hält die Spannung kaum aus, man will sich bei jedem Break die Ohren zuhalten, man will weglaufen, man will sich aus dem Fenster werfen, weil man denkt: »Jetzt! Oh Gott, jetzt! Jetzt kommt sie wieder, die Technopeitsche, die Guettaschelle, der Pestsound! Neeiiinn! Bitte!« Und dann kommt aber bis zum Ende einfach: Nichts. Puh! Danke, David.

Helmut Mauró Es gibt eins, nein, es gibt eine ganze Menge an Orgelstücken von Johann Sebastian Bach, da spielt der Organist die genau gleichen Dreiklangspendel wie hier das E-Piano; später kommt ein klassisches Cello hinzu und schon schleicht sich die dunkel sanfte Stimme von Sam Martin ein. »Let me inside your mind.« Das ist eine schöne Liebeserklärung, weil sie so einfühlsam klingt. Lass mich in deine Gedanken. Geduld ist aber nicht die Stärke von Sam Martin, denn gleich darauf springt seine Stimme in verzweifelt hohe Lage. »Don’t know what you’re thinking, sugar.« Der Mann ist verwirrt, gefährlich orientierungslos. »Detain the dangerous« ist folglich auch seine dringendste Bitte – halte diese Gefahr auf. Es könnte auch »rette mich« heißen oder sonst ein quasireligiöser Kram sein, mit dem man der Angebeteten in die Parade fährt. Schon das Anbeten ist eigentlich eine grobe Belästigung und nur entschuldbar, wenn es musikalisch so unausweichlich komponiert ist wie hier. Wenn ein kleiner Ohrwurm großes Schicksal sein darf.

Band Aid 30 – Do They Know It’s Christmas

Patrick Morgan Ob jemand die Nummer gut oder schlecht findet, ist völlig egal. Hier steht die Musik nicht im Vordergrund, sondern die Tatsache, dass erfolgreiche Zeitgenossen sich mit ihrer Popularität für eine gute Sache einsetzen. Westafrika scheint leider bei vielen politischen Entscheidungsträgern weiter entfernt als die Galaxie oder Episode VII. Sir Bob Geldof ruft und das Who is Who der britischen Musikindustrie steht bereit. Das ist großartig, famos und bewundernswert! Es gibt unter anderem auch eine deutsche Version unter der Federführung Campinos – auch die ist Klasse. An alle Nörgler nicht motzen, sondern kaufen!

Lars Gaede Natürlich ist der Song musikalisch grausam, darauf hinzuweisen ist müßig, das machen die Beteiligten ja sogar selbst. Sie sagen: Die größeren Grausamkeiten, die man mit dem damit eingespielten Geld lindern kann, rechtfertigen das. Bloß: Viele afrikanische Kritiker sehen das ganz anders. Bob Geldofs moralischer Mitleidspop betoniere auf billige Art das Gruselklischee von Afrika als hoffnungslosen Elendskontinent, dem nur noch Almosen helfen. Das verhindere Tourismus, das verhindere Investitionen, das verhindere ein (auch) positives, zeitgemäßes Bild des überhaupt nicht nur armen, kaputten Kontinents. Und das sei viel schädlicher als die Krankheit, für die der Song Geld sammelt.

Helmut Mauró Früher, zu Zeiten schwärzester Pädagogik, gab es die für viele Kinde nachhaltig bildende Strafe, hundertmal den gleichen Satz aufzuschreiben. »Ich darf dem Lehrer nicht widersprechen« oder sowas. Sicherlich wäre aber schon damals das Jugendamt eingeschritten, hätten eine Mutter ihr Kind folgenden Text auch nur dreimal aufschreiben lassen: »Endlich wieder Weihnachtszeit, die Nerven liegen so schön blank. Egal, ob’s regnet oder schneit‘, treffen uns am Glühweinstand. Wir vergessen unseren Nächsten nicht und kaufen all die Läden leer … Und du fliegst nur sechs Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen, ohne Grenzen.« Schmerzen, ja, große. Wo sind die Ärzte? Da brat‘ mir doch einer ’nen Storch. Das Niveau des Begleitsounds ist dazu vergleichsweise hoch. Vergleichsweise.

Gratulation Meghan Trainor! Der Track ist noch immer unter den Top 3. Texte dazu: In der letzten Kolumne.